Zerissenheit

Manchmal sehe ich ihm still eine Weile zu. So, dass er es gar nicht richtig merkt.
Und dann denke ich an die Zeit, in der wir uns die ersten Male gegenübergesessen haben. Und ich gehofft habe, dass er mir ein bisschen helfen kann, besser mit dieser scheinbar nie endenden Traurigkeit und dem tiefen Schmerz umzugehen. Dass er mich unterstützen kann bei den ersten wackeligen Schritten zurück ins Leben, die ich so gern gehen wollte, aber von denen ich nicht wusste, wie ich sie setzen soll. Wo mir doch allein das Wort „Suizid“ so viel Angst gemacht hat, so viel Erschütterung ausgelöst hat, dass ich es bis heute kaum aussprechen kann.
Er hat mir zurück ins Leben geholfen. Nur irgendwie anders.

Ich sehe die Farben wieder. Und wenn ich ihn so durch meine Wohnung strolchen sehe, dann fühle das Wunder, das dieses Leben sein kann. Genau dann, wenn ich überlege, wie viel unsichtbare Distanz zwischen uns war. Als zwischen uns immer ein kleiner Holztisch gehörte. Ich Termine in einer vertikalen Beziehung brauchte, um Reden zu dürfen. Immer ein kleines Stechen in meinem Herz gespürt habe, als ich ihn über den Flur habe gehen sehen. Das Herz hatte da irgendetwas entschieden, bevor der Kopf überhaupt zu der Idee kam. Ich kann mich noch ans erste Mal erinnern. Als ich ihm morgens begegnet bin. Mein Herz gespürt habe und mir dachte: „Echt jetzt – was ist hier los?“ und nicht leugnen konnte dass das den Start in den Tag doch irgendwie besser gemacht hat.

 Ich spüre streckenweise einen ganz tiefen Frieden in mir. Das Herz findet ein zu Hause. Einen Ort, an dem es ganz ruhig schlagen kann. Der den alten Schmerz nicht weg nehmen kann, aber an dem es ganz sicher ist.
Und irgendwie vermisse ich ihn jede Woche, nachdem wir uns verabschiedet haben ein bisschen mehr. Und die Liebe für diesen Menschen wird auch jede Woche etwas mehr. Eigentlich wohnen wir gar nicht so weit auseinander. Aber unter der Woche hat es mit den Arbeitszeiten einfach keinen Sinn, sich zu besuchen. Das würde mutmaßlich nur die auf der Arbeit dringend benötigte Energie fressen.

 

Samstagmorgen
Ich stehe in der Küche. Ihn habe ich gerade los geschickt zum Bäcker, um Brötchen zu holen. In der Zeit koche ich Kaffee, decke den Tisch und mache uns noch einen kleinen Erdbeer – Bananen – Quark. Für viele Menschen mag das ein normaler Samstagmorgen sein, ich spüre das Gold hinter dieser Normalität. Etwas, das plötzlich, von heute auf morgen vorbei war und seitdem nie wieder zurück kam. Es waren nie die großen Dinge, die ich mir gewünscht habe, sondern einfach diese Kleinigkeiten. Nicht alleine aufstehen müssen, am Wochenende nicht alleine frühstücken müssen und während ich mit Musik auf den Ohren vor mich hin werkle und mich etwas beeile, damit ich fertig bin bis er wieder kommt, spüre ich ganz tief drin in mir ein kleines bisschen Leichtigkeit.

Das Projekt Wohnung nimmt er übrigens sehr ernst und so kommt es, dass wir am Nachmittag im Baumarkt stehen und uns zumindest mal ein paar Lampenschirme anschauen und überlegen, was wohin in diese Wohnung passt.
Ich finde das schon ein bisschen erstaunlich. Dass er das einfach alles so nimmt, wie es eben ist. Der Gedanke ihn in meine Wohnung zu lassen, war mir zu Beginn nicht so sympathisch, weil ich irgendwie ein bisschen Angst hatte, dass spätestens das der Zeitpunkt ist, an dem er sich Gedanken macht. Aber es ist eben so: Ich wohne seit über zwei Jahren da und es hängen keine Lampenschirme an der Decke. Das soll man jetzt vielleicht mal angehen, aber er hinterfragt das nicht mit einer hochgezogenen Augenbraue und viel Skepsis. Wir machen das jetzt einfach zusammen und dafür bin ich ihm sehr, sehr dankbar.
Es hat schon Gründe, dass es alles ist, wie es ist, aber das muss man nicht zertreten.
Und so generell: Zu allem was so getan werden muss, sagt er: „ich schreibe es mal auf meine Liste Mondkind.“ So viel Toleranz hatte ich da nicht erwartet. Ich spüre nicht, dass diese ganzen Mondkind – Defizite irgendetwas zwischen uns ändern.

Samstagabend. Wir laufen noch eine Runde durch die Stadt. Ich nehme ihn mit um die Stadtmauer, um die ich so oft mit dem Telefon am Ohr laufe. Und irgendwie ertappe ich mich immer noch bei dem Gedanken: Was ist, wenn wir hier gesehen werden? Auf dem Marktplatz ist das schon wahrscheinlich, dass irgendwo ein Kollege herum sitzt…
Naja… - und wenn schon. Irgendwie muss ich auch mal den Gedanken ablegen, dass eine Beziehung nur erlaubt ist, wenn man sein sonstiges Leben im Griff hat. Hat niemand behauptet, dass es da einen kausalen Zusammenhang gibt. Außer mein Kopf vielleicht.
Und es ist so schön Hand in Hand durch den Ort in der Ferne zu laufen. Einen Menschen hier zu haben, der die Welt bedeutet, vermittelt auch irgendwie nochmal mehr eine Zugehörigkeit in der Ferne. Ich komme hier an. Hier entsteht ein zu Hause.

 


Und dennoch.
Am Sonntag werden es zwei Jahre.

Seit diesem Tag, der die endgültige Wahrheit war. Natürlich konnte ich mir schon vorher denken, was passiert war. Aber solange wie das niemand offiziell gesagt hatte, hätte es auch immer noch anders kommen können. Habe ich gehofft. Mehr das, als alles andere.
Ich spüre, dass ich immer noch sehr unsicher mit der ganzen Situation bin. Und ich glaube, dass ich da auch sehr viel Toleranz mir selbst gegenüber entwickeln muss. Nur, weil es jetzt besser wird, ist der alte Schmerz nicht vergessen. Die Trauer bleibt und das ist okay und gut.

Die Erschütterung, die es war und die mich geprägt hat. Die das Leben über Nacht völlig auf den Kopf gestellt hat.
Und gerade jetzt, wo ich so viel erlebe, das ich so lange vermisst habe wird mir klar, wie viel da wirklich verloren gegangen ist. Und mit mittlerweile zwei Jahren Abstand auch, wie viel da auch von meiner Seite aus schief gelaufen ist.

Ich vermisse diesen Menschen immer noch so sehr. Die Zeit, die wir hatten. Das Lebensgefühl von damals, das wohl nie wieder dasselbe werden wird. Es ist unfair, dass er nicht mehr hier sein kann. Und ich muss mich immer noch sehr bemühen mich selbst nicht zu sehr zu verurteilen, dass ich mein Leben weiter lebe, wo er das nicht mehr kann. Solidarität sollte nicht mit dem Tod aufhören. Und gleichzeitig habe ich nie mehr gespürt als jetzt, dass mich dieses Nicht – Leben auch ins Grab bringt.

Es ist eine eigenartige Zerrissenheit zwischen dem Damals und dem Heute. Wenn ich ehrlich bin – ich bin so froh, dass ich den lebenden Freund kennen gelernt habe und weiß gleichzeitig, dass das nicht möglich gewesen wäre, wenn diese Katastrophe nicht passiert wäre. Und dennoch hätte ich mir eben auch für den verstorbenen Freund und mich gewünscht, dass uns dieses Ende erspart geblieben wäre.

Und manchmal spüre ich die Tränen in meinen Augen und weiß gar nicht, was das alles ist. Ich möchte dankbar sein für alles, was heute ist. Und gleichzeitig tut es so oft einfach noch so sehr weh.
Ich weiß nicht, ob man heute noch darüber reden darf. Laut. Weil es auf der Oberfläche doch auch irgendwie endlich mal okay ist.

Mondkind

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