38 Monate - Vom Suchen und Finden

Mein lieber Freund,
der 38. Brief.
Ich kann mich noch erinnern, damals, an diese ersten Tage in diesem neuen Leben, in das ich unfreiwillig geschmissen worden war und das ich doch so gar nicht leben wollte. Es war damals die Idee des Seelsorgers gewesen, dass ich Dir doch einfach schreiben soll. Und klar – wer mich minimal kennt, der braucht nicht lange um eine solche Empfehlung auszusprechen. Überlegt hatte ich mir das auch schon – aber ich wollte Dir doch nicht schreiben. Ich wollte mit Dir reden. Ich wollte Dir all das sagen, was ungesagt in meinem Herzen geblieben war und ich wollte Dir all die Fragen stellen, die in meinem Kopf waren.
Und dann habe ich es trotzdem einfach gemacht. Und hätte nicht gedacht, dass ich das mal so lange durchhalten werde.

Ich erinnere mich an einen Satz, den Deine Mum gesagt hat, nachdem Du gestorben bist. Vielleicht war es einer DER Schlüsselsätze. „Es war sein ganzes Leben auf der Suche und auf der Flucht. Leider hat er nie gefunden, was er gesucht hat.“ Es hat mich nicht nur dazu gebracht darüber nachzudenken, was ich Dir hätte geben können und müssen, damit Du das Gefühl von einem Ankommen hast und damit die Schuldgefühle Dir gegenüber nochmal ordentlich potenziert, es hat mich auch auf seltsame Art gespiegelt. Bis zum damaligen Zeitpunkt hatte ich das nie so richtig reflektiert. Ich bin so oft umgezogen die Jahre vor Deinem Tod, habe es nie lange an einem Ort ausgehalten und irgendwelche Pseudo – rationalen Gründe gab es immer – es war genauso gewesen wie bei Dir. Nachdem mir irgendwie klar geworden war, dass ich zu Hause nur die narzisstische Verlängerung meiner Eltern war und aus dem Grund dort nicht mehr bleiben konnte. Aber auch das war mir erst Jahre später aufgefallen. Damals wusste ich nicht, warum ich weg musste von dem Ort, an dem meine Mum war. Ich hab’s nur  gefühlt.
Und ich glaube, dass die Lage bei uns beiden anders war. Du warst getrieben von Deiner Angst vor allem möglichen und dabei konntest Du von Dir selbst doch gar nicht fliehen und ich… - ich war von dem Wunsch angetrieben mal irgendwo um meiner selbst Willen bleiben zu können und zu dürfen. Und am Ende hat uns das wahrscheinlich mehr verbunden, als uns bewusst war.

Ich denk viel nach über das Suchen und Finden.
Vielleicht, weil sich auch gerade hier wieder viel ändert.
Das Berufsleben und das Privatleben sind gleichzeitig in einer Art Umbruch.
Noch zwei Wochen, dann lasse ich die Neuro erstmal hinter mir. Ich bin sehr neugierig auf diesen neuen Lebensabschnitt und gleichzeitig ist es ein Abschied und die Erkenntnis, dass die Neuro mich nicht nachhaltig so glücklich gemacht hat, wie ich einst geglaubt habe, dass sie das tun würde. Du erinnerst Dich, wie dringend ich in den Ort in der Ferne und in die Neuro wollte und ich bereue die Entscheidung grundsätzlich nicht (okay, nach Deinem Tod schon ein bisschen, weil ich glaube, dass das in der Studienstadt nicht passiert wäre), aber ich frage mich, ob das wirklich etwas für den Rest des Lebens wäre. Und so richtig… - nicht.
Ich frag mich manchmal, wie es geworden wäre. Wenn Du Deine Ex – In Ausbildung gemacht hättest und ich dann in die Psychosomatik gegangen wären. Ich hätte wahrscheinlich viel von Dir lernen können, weil Du schon einiges an Vorsprung gehabt hättest. Du hast mir immer gesagt, ich würde passen in dieses Berufsfeld und manchmal denke ich, wir hätten doch die Abkürzung nehmen sollen. Aber nicht, weil ich es bereue, die somatische Medizin kennen gelernt zu haben. Ich habe so unglaublich viel gelernt in den letzten vier Jahren. Eine Notaufnahme durch die Nacht zu begleiten – davor habe ich immer noch Respekt, aber meine Gedanken kreisen längst nicht mehr schon Tage vorher angstvoll um den Dienst. Du hast sie noch miterlebt – obwohl Du wahrscheinlich wenig davon wahrgenommen hast, weil Du da schon sehr krank warst – meine ersten Tage und vorsichtigen Gehversuche in der Notaufnahme. Die vielen Tränen abends und morgens vor dem Arbeitstag. Bis ich irgendwann, nach langer Zeit realisiert habe: Ich kann ja auch was. Und wenn ich etwas wirklich nicht kann, dann frage ich den Oberarzt, das ist doch tagsüber kein Problem. Den ersten Nachtdienst hatte ich an Deinem Geburtstag und ich habe mir eingebildet, dass das für immer Glück bringen wird. Und heute macht es manchmal sogar Spaß und mein liebster Ort auf der Arbeit ist die Notaufnahme geworden und da bin ich tatsächlich ziemlich stolz drauf. Und insgesamt war die Neuro glaube ich nicht nur fachliches, sondern auch persönliches Wachstum. Ein bisschen raus aus der Hasenfüßigkeit und den vielen, vielen Selbstzweifeln.
Und auch privat. Es ist schwierig, ich weiß nicht, was ich Dir dazu sagen soll. Du hättest Dir keine Sorgen machen müssen, solange Du noch gelebt hast. Ich bin weiterhin der Meinung, wenn man einen Partner hat, dann soll man seine Fühler einklappen. Und ich glaube, wenn die sich trotzdem ausklappen, dann hat man sowieso schon längst ein Problem in der Beziehung. Lass es mich mal so sagen – zwei Ärzte auf einen Haufen sind komplizierter, als ich das dachte. Da braucht es eine hohe Toleranz, eine große Kompromissbereitschaft, viele Absprachen und viel Planung – und ich halte uns beide für aktuell noch nicht besonders gut darin.

Und manchmal frage ich, ob man je findet und ankommt.
Ob das Leben nicht so ausgelegt ist, auf Suche zu bleiben.
Ob nicht jedes größere Lebensereignis das einst gefunden geglaubte wieder in Frage stellt.
Wahrscheinlich ist Leben eben Veränderung. Und nicht so sehr finden und bleiben. Obwohl ich das sehr gern hätte. Mal bleiben zu dürfen. Und das Gefühl haben, angekommen zu sein.

Aber zwischen all dem Suchen glitzert es.
Gibt es vielleicht immer kleine Momente von Finden.
Das Glück.
So zwischendurch.
Manchmal bin ich traurig, dass ich manche Erkenntnisse noch nicht hatte, als Du noch gelebt hast. Damals habe ich irgendwie noch geglaubt, dass das Leben in unserem Alter endlos ist. Seit Deinem Tod weiß ich: Es gilt jeden guten Moment zu genießen. Ihn wie ein Schwamm aufzusaugen und in seinem Herzen zu speichern. Ich tu’s zwar weiterhin nicht gern, aber ich kann auch eine ganze Weile damit gut leben, wenn das Glitzern mal nur kurz da ist. Weil ich mich immer wieder an den Moment erinnere.
Und ganz besondere Glitzermomente sind Abschiede geworden. Gar nicht die für immer. Die sind meistens schwer. Sondern die kleinen Abschiede. Dieses Stechen jedes Mal in meinem Herz, wenn ein Mensch, den ich mag, über meine Türschwelle tritt. In einem Moment kann viel passieren und es gibt nie eine Garantie für ein Wiedersehen. Und bei jeder letzten Umarmung sind alle Antennen in mir auf Hochleistungsempfang. Nur für den Fall der Fälle.
Und weißt Du – irgendwie denke ich manchmal, Leben hat vielleicht mehr mit Listen zu tun, als man denkt. Solche Bucket Listen - Du weißt schon. Vielleicht geht es manchmal nicht darum, wie oft man Dinge erlebt. Sondern, dass man sie erlebt hat. Wie zum Beispiel das mit Dir.

Ich war so erschöpft die letzten Tage. Der Kopf konnte in den Nächten nicht zur Ruhe kommen und mein Magen hat ordentlich rebelliert.
Ich würde nicht sagen, dass es mir schlecht geht. Trotz allem. Psychisch komme ich echt einigermaßen zurecht. Ich bin sehr oft gereizt im Moment, aber ich glaube das liegt das der kompletten Übermüdung und ich spüre auch, dass ich gut aufpassen muss, dass das nicht kippt. Ich glaube aber auch, ich verdränge viel. Die meiste Zeit in meinem Leben hättest Du den Wecker danach stellen können, dass solche Unsicherheiten eine mindestens mittelschwere Dekompensation auslösen. Aber irgendwie musste ich über die letzten Jahre lernen: Ich kann auch alleine gehen. Das Unterstützungssystem wurde immer weniger bis es aktuell de facto eigentlich nicht mehr vorhanden ist. Der Seelsorger ist mittlerweile in Rente, die potentielle Bezugsperson und ich haben sehr viel Distanz und das ist gut so und auch der Intensiv – Oberarzt stellt mich wieder alleine auf den Weg und das ist okay nach 9 Monaten. (Und aus irgendwelchen – mutmaßlich Sympathiegründen – konnte ich die Frau des Intensiv – Oberarztes nie so ganz im Unterstützungssystem annehmen).
Und trotzdem glaube ich: irgendwo im Hintergrund spielt es eine Rolle und ermüdet mich nicht unwesentlich.

Im nächsten Monat habe ich Urlaub. Und weißt Du was: Ich komme zurück in die Studienstadt. Wenigstens ein paar Tage. Treffe mich mit ein paar Freunden, besuche die alte Therapeutin, gehe an der Uni vorbei, trinke vielleicht einen Kaffee im Uno für uns beide. Ich freu mich drauf.
Und ich wollte mal Deiner Mum schreiben. Von ihr habe ich schon länger nichts mehr gehört. Ich würde Dich gern besuchen. Und Dir endlich das beim letzten Mal versprochene Blümchen bringen. 

Parksapziergang von gestern

Und noch ein paar random facts aus diesem Monat:
Dein Lieblingspsychiater ist Oberarzt geworden, habe ich gesehen. Alle Achtung, er hat wirklich eine Karriere hingelegt. 2017, als ich in der Psychiatrie war, war er gerade ein paar Monate Assistenzarzt. Er könnte frühestens 2022 den Facharzt gemacht haben… Naja, ich mochte ihn schon auch immer und ich frag mich bis heute, ob er Dich noch kennen würde, ob er sich jemals gefragt hat, was mir Dir passiert ist; ihr kanntet Euch ja recht gut, auch von den Selbsthilfegruppen und Infoveranstaltungen der Psychiatrie. Und die Gärtnerei der Psychiatrie ist abgebrannt. Das hat mich tatsächlich ein bisschen betroffen gemacht; Du warst gern dort.
Und fun fact am Rand: Der ehemalige Freund und ich haben zuletzt nochmal gesprochen. Er ist auch wieder auf Partnersuche. Die coolste Aussage war dann: „Ich suche eine Frau für’s Leben.“ Ich wusste gar nicht, was ich dazu sagen sollte. Es ist doch noch gar nicht so lange her, dass er mir gesagt hat, dass er nie wieder eine klassische monogame Beziehung führen wird. Naja, das eine schließt das andere jetzt nicht unbedingt aus aber… - lassen wir das. Ich glaube, er hätte die Frau für’s Leben haben können. Ich wäre glaube ich so ne richtig treue Tomate geworden. Aber er wollte eben nicht und mittlerweile will ich auch gar nicht mehr – ungeachtet dessen, was mit dem Kardiochirurgen passiert.

So – ich bin gespannt, was ich Dir in einem Monat berichten werde. Da ist übrigens Feiertag und ich habe ausnahmsweise mal frei am Feiertag ;) glaube ich zumindest jetzt noch. Aber die werden mich ja nicht am dritten Tag in irgendeinen Dienst stecken, das wäre schon ein ziemlich unschöner Start.

Halt die Ohren steif und pass gut auf Dich auf.
Ganz viel Liebe
Mondkind


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