"Ich gebe Halt"

Der dritte Teil des Reisetagebuchs muss noch warten.
Weil es dazwischen andere Ereignisse gegeben hat, die das Herz bewegt haben.

Es ist Nachmittag, als ich auf dem Weg zur Frau des Oberarztes bin. Auf den Termin heute habe ich irgendwie nicht so viel Lust. Das Plakat, das ich machen sollte habe ich ins Auto geschmissen. „Mein Leben in fünf Jahren“ war die Überschrift und ich sollte kreativ werden, Zeitschriften durchforsten und eine Collage machen.
Thematisch habe ich das Ganze mal etwas aufgeteilt. In „Familie“, „Freizeit“, „Job“ und „Zwischenmenschliches“. Wahrscheinlich fallen mir auch noch weitere Kategorien ein.

Die Frau des Oberarztes beschließt, dass wir schon mal anfangen das Plakat zu besprechen – auch wenn es noch nicht fertig ist.

Zum Job habe ich den Schriftzug „Ich gebe Halt“ aus einer Zeitung ausgeschnitten und daneben geklebt. Was das heißen soll, will sie wissen.
„Es ist mir tatsächlich einfach so ins Auge gestochen“, entgegne ich. Und überlege eine Weile. „Das wäre schon so meine Traumvorstellung von einem Job“, erkläre ich. Ich gehe noch mal in mich ob ich das, was mir da in den Kopf kommt wirklich sagen möchte, beschließe aber dann das zu tun. „Das hat mich irgendwie sehr an meinen alten Kliniktherapeuten erinnert. Und der war nicht nur sehr kompetent, er war für mich auch ein persönliches Vorbild“, führe ich aus, lehne mich zurück und hole zu einer kleinen Erzählung aus. „Tatsächlich habe ich die Tage sehr viel über unsere Begegnungen nachgedacht, aber den Gedanken hatte ich jetzt wirklich schon vor der Reise in die Studienstadt. Er hat manchmal ein paar Dinge aus seinem Privatleben durchblitzen lassen. Und irgendwie wurde deutlich, dass der Weg zum Therapeuten ihm nicht in die Wiege gelegt wurde. Es gab glaube ich größere Schwierigkeiten in der Schule und dann hat er sein Abitur etwas später gemacht, hat dazwischen auch glaube ich noch etwas anderes studiert, aber irgendwie hat ihn das alles nicht recht glücklich gemacht. Noch dazu haben scheinbar die Menschen um ihn herum nicht wirklich an ihn geglaubt, dass das etwas werden könnte, wenn er seinen Weg geht. Ich weiß den Wortlaut nicht mehr, aber irgendwann haben wir mal darüber geredet, was für ein überwältigendes Gefühl das ist, wenn man aus dieser Situation heraus seinen eigenen Weg geht und es am Ende gelingt. Er hat das so verpackt, dass es nicht ganz so autobiographisch klang, aber ich glaube es war genau seine Geschichte. Er war damals etwas älter als ich – so Mitte 30 glaube ich – und an den meisten Tagen hat er wirklich für seinen Job gelebt. Er konnte auch Grenzen setzen, das muss man denke ich auch in diesem Job, wenn er keine Zeit hatte, dann hat er das auch so kommuniziert. Aber wann immer er Zeit hatte, war er eben voll beim Patienten und es gab mal eine Zeit, in der wir beide gut miteinander zurecht kamen, in dem es aus dem Kontakt zwischen uns so viel Benefit für mich gab. Nicht, weil er immer etwas super weises gesagt hat, sondern weil er das was er getan hat geliebt hat, das nicht als selbstverständlich hingenommen hat und diese Motivation und Hingabe für diesen Job irgendwie übergesprungen ist. Er ist in der Zeit ein großes berufliches Vorbild für mich geworden. Ich habe mal irgendwann gedacht: Wie cool wäre das, wenn ich mit Mitte 30 auch endlich auf einem Weg wäre, der besser zu mir passt? Wenn ich den Mut habe, neue Wege zu gehen? Und wenn ich irgendwann wirklich glücklich mit meinem Job werde, wenn ich Menschen – genauso wie er das konnte – Halt geben kann und das keine unendlich große Anstrengung ist, weil sich dieser Job wie ein Teil von mir anfühlt? Und vielleicht kann mich die Psychosomatik jetzt endlich ein bisschen dorthin begleiten.“

Irgendwie wird mir in den Moment nochmal selbst klar, wie glücklich und aufgeregt ich bin in diesen neuen Lebensabschnitt zu starten. Ich hoffe es klappt dann auch wirklich ein bisschen, wie ich mir das vorstelle. Aber selbst wenn nicht, ist das glaube ich wichtig für mich.

Es wäre aber schon sehr schön. Wenn Dinge endlich in richtige Bahnen kommen. Wenn der Job sich endlich besser anfühlen würde, wenn es privat besser laufen würde. Wenn all die Dinge, die auf meinem Plakat stehen, sich nicht mehr komplett unerreichbar anfühlen.

Dinge, die für immer bleiben. Und mich nicht nur in der Akutsituation, sondern weit darüber hinaus geprägt haben.


Am Abend schaut der Kardiochirurg nochmal dezent ungeplant vorbei. Er ist auf einer Kardio – Veranstaltung, die zuerst in der Stadt stattgefunden hat und später in den Kurpark verlegt wurde. Und da der Weg dorthin bei mir vorbei führt und die Pause etwas länger ist, als man allein für den Weg braucht, klingelt er halt. Heute zur Abwechslung mal in Hemd und Sakko. Mein Herz ist ja schon ein bisschen sehr verliebt in dieses Outfit. Wie zur Hölle habe ich denn einen so gut aussehenden Typen an Land gezogen?
Ich sehe indes nicht so gut aus. Zwar habe ich mich noch nicht in meinen Jogginganzug geschmissen, weil ich gerade selbst erst heim gekommen bin, aber mein Bauch hat mich heute ziemlich geärgert mit ständigen Bauchkrämpfen. Was da los ist, weiß ich auch nicht genau – das geht schon eine Weile so, allerdings mit Tendenzverschlechterung und ich schiebe das immer auf den Stress.
„Du bist ganz heiß“, stellt er fest. „Bin ich nicht“, entgegne ich. „Hast Du Fieber?“, fragt er. „Bestimmt nicht, lass die Kirche im Dorf jetzt“, erkläre ich. „Und von oben bis unten nass geschwitzt bist Du auch“, sagt er, als er mir die Hand auf den Rücken legt.
„Meine Nummer hast Du – auch die von der Klinik?“, fragt er. „Die habe ich, ja“, entgegne ich. „Du rufst an, wenn etwas ist.“ „Was ist denn los? Ich habe doch nur ein bisschen Bauchschmerzen und das ist bestimmt der Stress“, befinde ich. „Was soll denn das für ein Stress sein jetzt? Mondkind, ich bin kurz davor Dich in die Notaufnahme zu bringen, so wie Du aussiehst im Moment. Ein Magenulcus kann auch irgendwann mal durchbrechen.“
Ai ai… - wenn ein Chirurg und eine Neurologin und bald Psychosomatikerin sich über Bauchschmerzen unterhalten…

Aber insgesamt… - es ist nicht alles gut. Es ist nicht gesagt, das alles klappt. Aber so zwischendurch fühlt es sich manchmal richtig, richtig gut an.

Mondkind


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