Reisetagebuch #2 Kumpel treffen und Herr Kliniktherapeut

Mittwoch.
Der Morgen beginnt früher, als ich das gern hätte.
Zuerst muss ich mich um das Auto kümmern. An der Rezeption händigt man mir gegen Einwurf von Münzen die Parkkarte für die Tiefgarage ums Eck aus, in die ich Möhrchen bringe. Dort wird es dann bis zur Abreise sicher stehen können. Anschließend gehe ich im Hotel frühstücken. Die haben einen guten Kaffeeautomaten, was schon mal die halbe Miete ist, aber darüber hinaus fällt das Frühstück aufgrund von anhaltenden Magenschmerzen recht schmal aus.
Im Anschluss mache ich mich auf den Weg ein Mal quer durch die Stadt, um einen Kumpel in der Altstadt zu treffen. Ich merke, dass das ein Urlaub ist, in dem sich die „innere Landkarte“ nochmal etwas besser zusammen fügt. Manchmal kenne ich Ecken oder Straßen aus der Stadt und kann aber nicht genau verorten, wo die sind. Und manchmal kommt man dann in Situationen, in denen sich die einzelnen bekannten Ecken – zum Beispiel durch einen Spaziergang – von der einen in die andere Ecke, zu einem Gesamtbild verbinden. 

Morgendlicher Spaziergang durch die Stadt


Wie immer wenn ich da bin, gehen wir erstmal an den Fluss. Setzen uns auf eine Bank, schauen den Schiffen zu, die hier Fluss auf- und abwärts fahren und reden. Ich liebe diesen Ort und die eigenartige Ruhe, die er ausstrahlt immer noch sehr. Und gleichzeitig spüre ich – dieses dringende Bedürfnis, hier unbedingt alleine sein zu müssen, wie ich es bei den ersten Besuchen hier nach dem Tod des Freundes hatte - habe ich gar nicht mehr. Es ist okay, mit anderen Menschen hier zu sein, für die der Fluss auch eine Bedeutung hat.
Der Kumpel hat heute einen Schlüsselanhänger dabei. Er war mal wichtig für ihn, sagte er. Aber jetzt hat er mit der Zeit, aus der er entstanden ist, abgeschlossen und möchte ihn in den Fluss werfen.
Ich nehme zur Kenntnis mit welcher Selbstverständlichkeit manche Menschen solche Rituale, die einem jeder Therapeut erklärt, umsetzen.

Später setzen wir uns in ein Café auch vorne am Fluss. Hinter uns spielt ein bisschen Musik, es ist so warm draußen, dass man dort im T – shirt sitzen kann und irgendwie hat die Situation etwas von einem Sommerurlaub.

Der Kumpel und ich sehen sich nur recht selten – kennen gelernt haben wir uns aber tatsächlich in der Psychiatrie. Deshalb ist jede Begegnung live und in Farbe immer auch ein bisschen Bestandsaufnahme.  
„Ich merke bei Dir langsam eine „gelebte Vergangenheit““, stellt der Kumpel fest. „Du kannst mittlerweile mit einem Lächeln zurück schauen. Das ist nicht immer einfach und Du bist sicher auch noch oft traurig. Aber Du brauchst diese Trauer nicht mehr als einzige Verbindung zwischen Euch. Und ich habe Dich noch nie so viel über Zukunft reden hören, wie heute. Ich habe die alte Mondkind nie gekannt, aber ich meine da langsam etwas zu sehen, das wahrscheinlich lange nicht da war.“
Ich muss darüber noch eine Weile nachdenken. Ich bin froh darüber. Froh, dass es langsam doch etwas mehr okay wird. Wie lange konnte ich mir nicht vorstellen, je wieder vorwärts zu gehen? Und gleichzeitig ist das nochmal eine neue Form von Abschied. Im Verlauf des Tages werde ich nochmal realisieren, dass es erst knapp vier Jahre her ist, dass das Leben in den alten Bahnen lief. Und mir das jetzt und heute schon irre weit weg vorkommt. Wahrscheinlich relativiert der Abstand, den allein die Zeit generiert, das Geschehene nicht. Aber es erlaubt doch eine andere Sicht. Stellt Jetzt und Damals nebeneinander. Beweist schon fast retrospektiv: Es gibt eine Zukunft, auch wenn Du Dich gegen jeden einzelnen Tag gewehrt hast und am Anfang umso mehr suizidal geworden bist, je weiter die Zeit voran ging. Weil Du dieses Gap zwischen dem letzten gemeinsamen Punkt und dem Jetzt nicht akzeptieren konntest. Aber die letzten drei Jahre hast Du gelebt und Dinge erlebt, die Welt ist nicht unter gegangen, Du auch nicht und es gab schöne Momente dazwischen. Und Du kommst nicht daran vorbei, das anzuerkennen. Die Realität hat bewiesen, dass ein „Zusammen schaffen wir alles und alleine sind wir Nichts“ schön gesagt war, aber eben doch nicht gänzlich stimmt.
Und ich weiß nicht, ob ich das beruhigend oder erschreckend finden soll. Vielleicht ein bisschen Beides. Und vielleicht tut es generell gut, die Absolution aus den Dingen zu nehmen. Man kann sich viel wünschen. Aber am Ende geht es auch immer irgendwie anders.

„Ich hatte nach der Klinik mit einigen Menschen noch Kontakt“, sagt der Kumpel. „Aber bei den Meisten hat man gemerkt, dass denen der Klinikaufenthalt noch nicht gereicht hat. Und die haben in mir dann oft den Retter gesehen. So ein „Du musst für mich da sein“, führt er aus. „Und Du hattest auch sehr schwere Zeiten, aber bei Dir hatte ich immer irgendwie das Gefühl, dass da noch etwas kommt und Du doch auf einem guten Weg bist. Und ich glaube, dass der Weg zu „psychisch gesund“ sehr lang ist. Und dass wir da vielleicht beide auch noch nicht sind. Aber wir sind ein gutes Stück voran gegangen. Und bewegen uns in die richtige Richtung.“

Meistens haben diese Treffen zwischen uns beiden eine gewisse emotionale Tiefe. Und dafür mag ich ihn sehr gern. 

Blick über den Fluss

Am Abend, als wir mit unserem Austausch fertig sind und er darüber hinaus noch verabredet ist, begleite ich ihn noch zur Bahn und möchte von dort aus zurück in Richtung Hotel gehen.
Als seine Bahn abgefahren ist, schmeiße ich mal einen Blick auf das Handy. Ich schaue nach, wo der ehemalige Herr Kliniktherapeut arbeitet; das muss irgendwo hier in der Nähe sein, gar nicht so weit weg. Und dann beschließe ich einfach mal vorbei zu gehen. Ohne irgendeine Intention, er sollte ohnehin längst zu Hause sein, aber ich möchte gern wissen, wo er heute ein uns aus geht. Die Praxis liegt direkt im – oder vielleicht auch schon am Rand – vom japanischen Viertel, was für ihn recht praktisch sein dürfte, da er da eine große Sympathie hatte und in der Zeit, in der ich ihn kannte auch gerade japanisch gelernt hat und in den Urlaub nach Japan wollte. Ich weiß nicht, ob Corona dann einen Strich durch seine Rechnung gemacht hat.

Ich finde das Gebäude, schaue mich ein Mal um und schlage dann den Weg in Richtung Hotel ein.
Auf dem Heimweg denke ich viel über ihn und uns nach. Dieser Mensch hat mir - und ich glaube das ist nicht übertrieben - das Leben gerettet; damals in diesen ersten Julitagen 2020. Bestimmt hat er die Hälfte von dem was ich erzählt habe, nicht verstanden. Woher kam der Freund denn jetzt plötzlich? Ich hatte doch nie etwas von ihm erzählt. Aus Angst, dass man mich dann noch weniger ernst nimmt, wenn mein Leben noch perfekter wirkt. Studiert Medizin, hat einen Freund, hat Aussicht auf einen guten Job im Ort in der Ferne – ich wurde sowieso regelmäßig gefragt, was genau ich bei einem Therapeuten / Psychiater suche.
Aber er hat mir im spannenden Moment einfach unter die Arme gegriffen. Ich kann mich an wenig aus dieser Zeit erinnern, aber diese unendliche Erleichterung, als wir uns dann endlich gesehen haben, kann ich nicht vergessen. Ich wusste nicht mal genau, was wir jetzt vor hatten, aber ich wusste er kümmert sich drum. Ich wusste: Ab jetzt bin ich nicht mehr alleine. Ab jetzt muss ich nicht mehr mitsterben.
Ich finde es immer so traurig wenn Menschen, die eine solche immense Bedeutung in einer spezifischen Zeit hatten, einfach gehen müssen. Und man dann nie wieder etwas voneinander hört. Und ich kann mich auch noch erinnern, dass sich in den Wochen danach eine große Verzweiflung zwischen uns beiden eingestellt hat. Und irgendwann saßen wir uns beide mal gegenüber, als er mir erklärt hat, dass er mit seinem Latein langsam am Ende ist und nicht mehr wisse, wie er mir helfen könne.
Heute glaube ich, es gibt tatsächlich Zeiten, in denen es kaum möglich ist, zu helfen. Ich war damals so überzeugt, dass das Leben nicht mehr gut werden kann, dass ich nicht mal eine Lebensberechtigung habe, weil ich auf den Freund nicht aufpassen konnte, dass ich im Prinzip noch mehr Schuld auf meine Schultern lade mit jedem Tag der vergeht und an dem ich noch gelebt und vielleicht sogar mal irgendwo gelacht habe. Wahrscheinlich kam da einfach niemand dazwischen, egal was versucht worden wäre. Das Einzige das man wahrscheinlich machen konnte, war mich irgendwie begleiten. Diesen letzten Lichtfunken in mir irgendwie glimmen zu lassen, dadurch dass andere an mich geglaubt haben, als ich das selbst nicht mehr konnte.
An diesem Abend überlege ich, ob ich ihm vielleicht nicht doch nochmal schreiben sollte. Nicht dahingehend, dass er irgendetwas tun soll, das hätte mutmaßlich nicht mal Sinn, da ich nicht weiß, was ich mit ihm besprechen sollte. Aber um ihm einfach mit ein paar Jahren Abstand nochmal zu sagen, wie dankbar ich für diese Tage vor ein paar Jahren bin und dass es langsam etwas mehr okay wird. Ich bin noch nicht angekommen, aber ich bin auch nicht mehr an dem Punkt, an dem ich 2020 war und eigentlich nichts anderes als sterben wollte und das schon mal generell doof fand, wenn Leute das nicht wenigstens verstehen konnten.
Vielleicht hat er aber auch keine Ahnung mehr wer ich bin und findet das sehr unangebracht. Immerhin hat er mir damals schon deutlich zu verstehen gegeben, dass er für mich nicht mehr ansprechbar ist.

An diesem Abend passiert im Hotel nicht mehr viel.
Mit dem Hintergrundlärm der Stadt komme ich zur Ruhe.
Und irgendwie ist es doch ein schönes Gefühl, in dieser Stadt mal wieder schlafen gehen zu dürfen.

Mondkind

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