Von Momenten und Dankbarkeit

Die letzten Tage in der Neurologie sind nochmal sehr herausfordernd.
Und streckenweise muss ich mich unglaublich aufregen. Über den Vertrag für die Psychosomatik, der wohl in der Vergessenheit geraten ist und in der Personalabteilung tut sich nach mehrfachen Anrufen und Mails erst etwas, als ich beschließe den Chef auf Copy zu setzen. Ich könnte viel erzählen über die Stroke Unit, von der in meinem letzten Dienst ein Patient weg gelaufen ist, den dann die Polizei gesucht hat und der in einer Baugrube unweit der Klinik gefunden wurde. Und dann ging es zurück. Immobilisiert auf einem Spineboard mit Polizei-, Rettungsdienst- und Notarztbegleitung. Oder über die Rückenschmerzen, die eine Aortendissektion waren; darüber könnte ich auch reden. Ich könnte erzählen, dass die von mir noch einen Vortrag für die Pflege wollen, aber vergessen haben, dass morgen mein letzter Tag in diesem Laden ist und ich jetzt nächste Woche doch nochmal kommen muss, wo ich doch erstmal keine Neuro mehr anschauen wollte, sondern eben Psychosomatik. Oder davon, dass ich ja von assistenzärztlicher Seite federführend an der SU – Reszertifizierung teilnehmen soll und es da Anfang Oktober Konferenzen gibt, bei denen man meine Teilnahme erwartet – allerdings wird die PSK das weniger cool finden und ich möchte auch nicht den Eindruck erwecken, dass ich meine Arbeit dort nicht ernst nehme. Die nächsten Probleme gibt es weiterhin mit dem Dienstplan, weil ich aus diesem Dienst am dritten Oktober irgendwie nicht raus komme.

Und dazwischen.
Dazwischen passiert so viel Gutes.
Ein paar Ausschnitte.

Letzter Sonntag.
Das zweite Mal dieses Jahr, dass wir an einen See fahren.
Ich habe die Picknickdecke im Keller gefunden, die dort schon seit Jahren liegt, habe noch ein bisschen Obst und getrocknete Mangostücke in meinen Rucksack geschmissen, während er zu Hause noch eine Melone geschnitten hat.
Wir treffen uns bei mir. „Pack Gabeln ein, ich glaube die habe ich vergessen“, schreibt er, als ich schon gerade meine Schuhe anziehe. Hach ja… - so ein Chaot. Nicht wegen der Gabeln. Wegen des Gesamtzusammenhangs.
Wir laufen eine Runde um den See und es fühlt sich an, wie ein wundervoller Sommertag. Überhaupt fühlt sich das hier an, als hätten wir in zwei halbe Wochenenden einen ganzen Sommer gepresst. Nachdem dieses Jahr bis hierher zum allergrößten Teil so schwer war, saugt jede Faser in mir den Sommer, die Sonne, die Wärme, den Menschen neben mir auf.
Zwischendurch nehmen wir eine kleine Abkürzung und balancieren waghalsig über ein paar im Wasser liegende Steine. Was wir nicht wissen ist, dass wir vom Chef der ZNA dabei beobachtet werden, der mich direkt am nächsten Morgen fragen wird, ob ich mit einem Kardiologen unterwegs war (naja, fast richtig) und dass er Angst hatte, dass er gleich einen ungeplanten Notarzteinsatz hat. Ach menno… - man ist nicht mal an einem 40 Minuten entfernt liegenden See unbeobachtet ;)
Zwischendurch liegen wir – noch erschöpft von der Woche und ich auch vom Dienst am Vortag – zwei Stunden auf der Picknickdecke, hören die Grillen im Hintergrund und irgendwann werden uns die vorbei spazierenden Menschen zu viel und wir laufen weiter. Beobachten die Menschen auf ihren Stand up paddles (und vielleicht muss ich das auch mal ausprobieren irgendwann) und die Tiere am Wegesrand. Irgendwo halb im Wald auf einer schiefen Bank essen wir die Melone, ehe wir am späten Abend noch im nahe gelegenen Restaurant essen, was ein perfekter Abschluss für diesen Tag ist. Und irgendwann, noch viel später, fahren wir im Dunklen über die Dörfer zurück nach Hause. Ich beobachte seine Hand, die locker auf dem Schalthebel liegt. Hände, sind so ein Kriterium, kommt es mir wieder in den Sinn. Männer müssen schöne Hände haben. Hat er. Und wenn ich ihn so still beobachte, während er sich auf die Straße konzentriert, dann ist es doch irgendwie ein Wunder, dass das jetzt hier alles gerade so sein darf. 


Mittwoch.
Ich sitze bei meinem Oberarzt. Dem Intensiv – Oberarzt.
Und reflektiere eine Runde.
„Sie können sich daran erinnern, dass ich mal gesagt habe „was gut ist, kann nicht lange bleiben, oder?“, frage ich. Er nickt. „Wissen Sie, ich genieße gerade so viel, es gibt so viele gute Momente, die Stimmung ist allgemein so viel besser und trotzdem fühlt sich das ein bisschen an, als sei das alles auf morschem Holz gebaut.“
Ich überlege eine Weile.
„Im Prinzip, wenn ich mal nur im Hier und Jetzt bleibe, ist es alles so okay. Klar, es ist meine letzte Woche in der Neuro, es gibt schon ein bisschen Abschiedsschmerz – wobei ich ja in diesem Laden für Dienste schneller zurück bin, als ich das dachte. Aber die haben mir das Leben auch schwer gemacht in den letzten Wochen, ganz ehrlich. Und wissen Sie was – ich habe im Moment das Gefühl, ich grabe die alte Mondkind wieder aus und das macht mich so, so glücklich. Als ich damals 18 war, wollte ich eigentlich Psychologie studieren. Ich wollte wissen, warum Menschen werden, wie sie eben sind. Ich wollte wissen, wie Menschen in Krisen geraten und andere nicht und ich wollte wissen, wie man Menschen wieder dort heraus helfen kann. Und natürlich war mir schon damals klar, dass man sich nicht selbst therapieren kann, auch wenn die Familie schon damals am Ende war. Und natürlich hat wahrscheinlich ein solcher Gedanke auch oft etwas mit der eigenen Biographie zu tun. Wer sich nie Gedanken über Psychologie gemacht hat, über die Frage, was Menschen psychisch prägt, der wird das auch nicht studieren wollen. Aber ich wollte das. Und durfte das damals nicht. Nicht solange ich in dieser Familie gefangen war. Und jetzt, nachdem ich erstmal das gemacht habe, was alle anderen wollten, nachdem ich jetzt eine Notaufnahme jonglieren kann und viel über Neuro gelernt habe – was sicher auch wichtig ist in einem solchen „Redefach“; ich glaube, das gibt einfach viel Sicherheit, wenn man weiß, dass man auch somatisch etwas drauf hat – darf ich endlich das machen, was mein 18 – jähriges Ich tun wollte. Und das heißt ja nicht, dass ich das ewig machen werde, das heißt auch nicht, dass mir das gefallen muss, aber es ist ein: „Hey, jetzt komme ich mal an die Reihe und darf ausprobieren, was ich immer tun wollte.“ Ich hatte so viel Angst zwischendurch, dass ich das nicht mehr erlebe und ich bin so froh, dass ich bald starten darf und kann es manchmal gar nicht mehr richtig abwarten – auch wenn ich natürlich vor den ersten Tagen ein bisschen Bammel habe.
Und daneben gibt es eben gerade den Kardiochirurgen und auch, wenn ich nicht so ganz überzeugt bin, dass das am Ende etwas wird, aber es gibt zumindest mal Hoffnung. Nach dem Tod des Freundes war ich erst zwei Jahre in einer Welt gefangen, in der es nichts Gutes mehr geben konnte. Die Vergangenheit war unwiederbringlich verloren und so oft ich auch versucht habe an ihr festzuhalten oder sie wiederherzustellen – das ging einfach nicht. Und ich glaube, ich habe das viel länger versucht, als ich geglaubt habe. Und selbst mit dem ehemaligen Freund – wir haben schon an unserem ersten gemeinsamen Wochenende gewaltige Meinungsverschiedenheiten gehabt. Wir wussten eigentlich vom ersten Wochenende an, dass das nicht funktionieren wird, da war die permanente Angst, dass er mich verlässt, was er ja auch Monate später getan hat. Aber das war eben absehbar, es war eine Beziehung auf der hohen Kante, ich habe knapp sechs Monate jedes Wochenende mit der Katastrophe gerechnet, ich habe mich selten neben ihm entspannt und ja – es gab gute Momente. Aber die waren retrospektiv selten und ich weiß nicht mal, ob das schlau war, das so lange durchzuziehen. Ich glaube, da färbt jetzt auch viel ab auf den Kardiochirurgen, an dem es meinerseits noch viel zu arbeiten gibt.
Aber was ich sagen will: Es fühlt sich gerade an, wie loslassen. Von so viel Altem, das ich immer versucht habe festzuhalten und das so viel Kraft gekostet hat. Das Leben darf einfach fließen, sich verändern, aber es muss nicht mehr zurück in das alte Flussbett finden. Mein Umfeld verändert sich, Menschen kommen und gehen, der Job ändert sich und das ist okay. Irgendwo gibt es immer wieder etwas Schönes an diesem neuen Flussbett, auch wenn es nicht mehr das ist, was es mal war. Und klar, das wird sicher auch noch einiges an Angst machen, aber das kostet wahrscheinlich so viel weniger Kraft als eben ständig an etwas zu arbeiten, das nicht mehr sein kann.
Und manchmal ertappe ich mich bei dem Versuch zu denken, dass vielleicht irgendwie doch noch alles okay wird. Vielleicht finde ich einen Job, in dem ich mich endlich wohl fühle, vielleicht finde ich einen Partner, der mich wertschätzt, bei dem es nicht ständig um Trennung geht. Vielleicht wird es irgendwie ganz anders und vielleicht kann das viel leichter werden. Weil es mehr „typisch Mondkind“ ist. Endlich abseits von Katastrophen, von Dingen, die ich nicht tun will und von Zeiten, die nicht gut waren. Obwohl man mir das so oft unterstellt hat – aber ich habe mich nie wohl gefühlt in all diesem Leid.“

Der Oberarzt reflektiert ein bisschen meine Reflexion.
Er meint, ich sei gewachsen an den letzten Monaten und Jahren und deshalb machen mir Veränderungen vielleicht weniger Angst. Deswegen lege ich jetzt den Fokus weniger auf die potentiellen Katastrophen und Unsicherheiten im neuen Job, sondern freue mich mehr auf das Neue. Und, dass es eben ein lang gehegter Wunsch ist, der jetzt endlich in Erfüllung geht und für den ich lang arbeiten musste, das spielt sicher auch eine Rolle.
Was den Kardiochirurgen angeht, empfiehlt er weiterhin viel zu reden. Es könnte schon sein, dass wir beide sehr unsicher sind, dass er meine Unsicherheit bemerkt und ich seine. Zwei Hasenfüße sind wir auf jeden Fall beide. „Er merkt, wenn Sie kein Vertrauen in diese Beziehung haben und nach allem was Ihnen passiert ist, ist das völlig verständlich. Und Sie sollen ihm das jetzt nicht alles auf die Nase binden, aber darüber reden müssen Sie schon. Und Sie können sich gut ausdrücken. Männer können oft nicht so gut über ihre Gefühle sprechen. Am Besten, wenn Sie mal Zeit haben, wenn Sie sich treffen, dann fangen Sie einfach mal an darüber zu reden, wie es Ihnen in der Beziehung geht und bleiben Sie dabei im Jetzt. Sie könnten so anfangen, dass Sie sagen: „Ich habe mir Gedanken über uns gemacht und ich blubber jetzt einfach mal vor mich hin und Du musst dazu gar nichts sagen; ich möchte nur, dass Du ein paar Ding weißt.“ Das nimmt ihm den Stress, sofort etwas dazu sagen zu müssen. Und Gedanken wird er sich trotzdem machen. Vielleicht kommt er dann drei Tage später auf Sie zu.“

Es ist immer ein Gewinn, bei ihm zu sein. Weil er sich einfach anfühlt wie ein Mensch, der sich aufrichtig für mich interessiert, der rund 25 Jahre mehr Lebenserfahrung hat. Zu dem man einfach mal gehen kann, wenn man einen Alltags – Rat braucht oder spürt, dass sich irgendetwas in einem bewegt und noch nicht genau weiß, was das gerade ist. Gestern habe ich realisiert: Es ist der Zauber des Anfangs. Auf so vielen Ebenen.

Am Ende haben wir noch darüber gesprochen, wie es jetzt weiter geht, weil ich ja eben gehe. „Ich bin weiterhin gerne für Sie da. Schreiben Sie mir einfach oder rufen Sie mich an, wenn etwas ist – wir können uns sicher auch am Wochenende mal sehen, wenn ich Dienst habe.“
Danke dafür. Danke fürs Brücken bauen. Danke für die Sicherheit im Hintergrund. Es ist so, so gut wenn man alte Sicherheiten hinein in etwas Neues nehmen kann. Dann bin ich so viel entspannter.

***
Mittwochabend.
Gestern war ich zwar auch recht pünktlich fertig mit dem Spätdienst, aber da meinte der Kardiochirurg ich könnte ihn nicht besuchen, weil er noch seine Wohnung aufräumen muss.
Das sollte er bis heute Abend geschafft haben und deshalb stehe ich bei ihm am Abend auf der Matte, nachdem ich wie ein Wiesel über die Stationen gerannt bin, weil die Hütte echt gebrannt hat. Er wischt noch schnell die Küche, als ich komme. „Nicht auf Socken hier rein“, sagt er. „Du bist fünf Minuten zu früh.“ Als ich gerade ins Bad gehen möchte, schaut er mich ein bisschen entsetzt an und ich frage mich kurz, wo das Problem ist, kurz auf die Toilette zu gehen. „Ignorier die Wäsche“, sagt er. Puh… - schwer zu ignorieren Kumpel. Ganz schwer. Ich frage mich still, wie das jemals funktionieren soll, wenn wir mal gemeinsam wohnen sollten. So schnell kann man gar nicht Ordnung machen, wie Unordnung an der nächsten Ecke entsteht...
Wir essen noch etwas gemeinsam und dann schauen wir uns mit müden Augen an. „Gleich fallen wir ins Futterkoma“, sage ich. „Es ist eindeutig Zeit für das Sofa“, entgegnet er und nimmt mich mit rüber. Und dann liegen wir dort im Halbdunklen, ich spüre seine Hände auf mir, es dauert keine fünf Minuten bis ich seine Lippen auf meinem spüre und als wir das nächste Mal auf die Uhr schauen ist Mitternacht. „Du musst schlafen, Du musst morgen früh aufstehen“, sage ich. Er grummelt vor sich hin. „Soll ich Dich nach Hause bringen?“, fragt er. „Nein, ich laufe. Dann kannst Du schnell ins Bett gehen.“ „Nein Mondkind, ich fahre Dich schnell, Du läufst nicht durch die Dunkelheit jetzt.“
Halb 1 in der Nacht bin ich zu Hause.

Ich hoffe, es kann eine Weile bleiben, wie es jetzt ist.
Denn es ist gut so, wie es ist.

Mondkind


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