Von einem wilden, vorerst letzten Nachtdienst

Die Telefone klingeln sturm. Es muss irgendwann in den frühesten Morgenstunden sein, schätzungsweise halb 4.
Ich schrecke zusammen – wie immer bei diesen Notfallalarmen mitten in der Nacht und brauche eine Zehntel Sekunde, um mich zu sammeln.
Ich liege an einen anderen Menschen geschmiegt, habe meinen Arm um seinen Oberkörper geschlungen und spüre auch einen Arm auf mir.
Dieser Arm auf mir löst sich jetzt und greift über mich – wie mein zweiter Arm – in Richtung des Telefons.
Im Telefon kommt die Durchsage, von welcher Station der Alarm kommt. Es ist eine Kardiologische.

Der Mensch neben mir springt auf, schlüpft in seine Schuhe, steckt das Telefon in die Kitteltasche und hängt sich das Stethoskop um den Hals.
„Bleib hier, ich komme dann wieder“, sagt er. „Wenn wir doch einen Neurologen brauchen, rufe ich Dich an.“ Wir Neurologen rennen in solchen Fällen eigentlich nur los, wenn der Notfallalarm von einer unserer Stationen kommt. Ansonsten ist es in 90 % der Fälle ein kardiologisches Problem – insbesondere auf einer kardiologischen Station.

Einige Zeit später, im Halbschlaf spüre ich, wie jemand rein schleicht und sich behutsam neben mich legt. „War’s schlimm?“, frage ich. „Nichts Wildes. Schlaf weiter.“

Irgendwann in den Morgenstunden wachen die Stationen auf.
Wir müssen los, uns um die ersten Sorgen des Morgens kümmern. Um unfreiwillig gezogene ZVKs und Vigilanzminderungen, wenn die Patienten wach werden sollten.

Dieser Dienst wird mir in Erinnerung bleiben.
So eine ruhige Nacht ab 2 Uhr hatte ich ewig nicht mehr.
Was Voraussetzung war, für alles was kam.


***
Der Tag zuvor.
16:15 Uhr.
Ich rase von der Kurzliegerstation in die Notaufnahme. Heute ist hier ein Kollege beschäftigt, der seine ersten Gehversuche in der ZNA tätigt und dementsprechend groß ist das Chaos. Vier Patienten wurden noch nicht gesehen.
Ich mache mich erstmal an eine Aufgabenverteilung, arbeite strukturiert das Wichtigste ab und mache mir einen Überblick über die noch ausstehenden Konsile.
Vielleicht liegt es daran, dass der Kardiochirurg und ich heute gemeinsam Dienst haben, aber meine Laune ist heute außergewöhnlich gut. Nicht mal ein Dienstbeginn mit vier Patienten und einer Menge Chaos kann mich heute wirklich aus dem Konzept bringen.
Das Problem bei solchen Dienstanfängen ist, dass der Patientenansturm um 16 Uhr in der Regel noch nicht abreißt, und sich die neuen, fußläufig erschienenen Patienten im Wartezimmer stapeln, während man neben den Altlasten nur die Patienten sehen kann, die der Rettungsdienst bringt und die schon in der Triage gesehen werden.
Bis 21:30 Uhr arbeite ich die Patienten ab, gegen 22 Uhr habe ich den zumindest schonmal den Letzten gesehen und noch flott punktiert.

Der Kardiochirurg und ich haben abgemacht, dass wir uns im Lauf des Abends, wenn die Stationen und die Notaufnahme etwas zur Ruhe gekommen sind, mal anrufen.
Er ruft schon gegen 22 Uhr an. Es ist gerade noch ein Patient per Hubschrauber für die Kardiochirurgen angemeldet, weshalb er noch nicht weiß, ob er nicht doch wieder bis tief in die Nacht im OP steht. Wir beschließen, dass wir uns kurz im Pausenraum der Neuro treffen. Ich habe die versprochenen restlichen Kiwi – Beeren dabei, die wir zusammen essen.
„Das war übrigens nicht so geplant, dass ich mich gestern gar nicht melde“, wirft er dazwischen ein. „Ich hatte Rufdienst und war bis vier Uhr frühs im OP. Und dann bin ich nur nach Hause gelaufen und ins Bett gefallen.“
Hach ja… - die Arbeit…
„Meld Dich mal, was Ihr jetzt mit dem Patienten, der mit dem Hubi kommt, macht. Ich hoffe, wir können heute beide noch ein paar Stunden Schlaf in der Nacht ergattern, dass wir morgen endlich mal zusammen etwas machen können, ohne halb zu schlafen.“
„Mache ich“, entgegnet er.
 
Halb 1 Uhr in der Nacht.
Ich sitze noch an der Dokumentation auf der Stroke Unit, aber die ZNA ist mittlerweile zum Glück leer; alle Patienten sind entweder zu Hause oder auf den Stationen.
„Wir operieren heute nicht mehr, sondern morgen früh“, vermeldet er telefonisch.
„Okay. Ich hoffe auch, dass ich hier bis 2 Uhr fertig werde mit der Doku und dann hoffen wir mal, dass bis sechs Uhr kein Patient mehr vom Himmel gefallen kommt“, entgegne ich. „Schlaf nachher gut“, ergänze ich.
Ich habe von der Pflege noch den letzten Schluck Kaffee abgestaubt und ein Stück Kuchen. Ein Patient hatte Geburtstag und die Angehörigen haben die ganze Station mit Kuchen versorgt. 


 

Wenig später klingelt das Telefon schon wieder. Der Kardiochirurg. „Ich habe noch etwas zu essen hier oben. Hast Du Hunger?“, fragt er. „Minimal“, entgegne ich. Aber ich würde ihn gern nochmal besuchen. Wir einigen uns, wir dokumentieren erst fertig, wahrscheinlich werden wir beide bis gegen 2 Uhr damit fertig sein und dann treffen wir uns.
 
Nachts um 2.
„Ich stehe vor dem Fahrstuhl – wo bist Du, wo muss ich hin?“
„Fahr mal in die sechste Etage – ich hole Dich dann ab“, sagt er. „Ich bin nämlich nicht mehr im Arztzimmer."
Er nimmt mich mit in sein Dienstzimmer. Und ich schwöre, dass ich mir bis dahin nichts dabei gedacht habe.
Er schreibt noch seinen OP – Bericht fertig, an dem er gerade sitzt während ich – in Ermangelung an Stühlen – auf dem Bett sitze und auf ihn warte. Danach kommt er zu mir, zieht die Schuhe aus und macht sich neben mir auf dem Bett lang. Ich streife auch die Schuhe von den Füßen und lege mich neben ihn. Und es dauert keine Minute, bis ich seine Arme um meinen Oberkörper fühle, die mich zu ihm ran ziehen, seine Lippen auf meinen und mein Herz bis zum Hals schlagen fühle.
 
Scheinbar haben wir uns still geeinigt, dass wir die Nacht bei ihm im Dienstzimmer verbringen. Und es ist tatsächlich die erste Nacht, in der wir nebeneinander einschlafen. Ich brauche zwar eine Weile bis ich zur Ruhe komme, denn es ist immer noch Dienst, die Telefone liegen neben uns auf dem Nachtschrank und ein kleiner Teil von uns ist jeder Zeit bereit aufzuspringen und los zu rennen, wenn das Telefon klingelt. Aber irgendwann spüre ich, wie ich mich neben ihm entspanne, wie mein Körper schwer wird und wie ich ganz langsam übergleite in den Schlaf.

Und manchmal denke ich mir: Es ist schon auch verrückt. Sollte das mit uns etwas werden, werden wir für immer wissen, dass wir die erste Nacht in einem Bett im Dienstzimmer der Chirurgen verbracht haben.
Verrückte Welt. Ich dachte immer, so etwas gibt es nur in Serien.

***
Der nächste Morgen.
Wenn zwei Telefone klingeln können, ist die Nacht doch etwas unruhig und ich bin ein kleines bisschen müde, insgesamt aber mal wieder in einer „hypomanen Phase nach Dienst“ angekommen, wie es von den Kollegen gern betitelt wird.
„Irgendetwas war heute Nacht Mondkind“, stellt eine Kollegin fest. „Normalweise bist Du immer so müde und knurrig nach dem Dienst und heute wirkst Du richtig frisch und gut gelaunt.“
„Ich konnte halt mal ausnahmsweise ein paar Stunden schlafen“, entgegne ich und verschweige, dass das Bett im Neuro – Dienstzimmer unbenutzt geblieben ist.

Heute ist tatsächlich nicht viel mit uns beiden anzufangen. Wir werden nachher noch eine Runde spazieren gehen und irgendwie scheint er Vorteile gefunden zu haben, sich ständig bei mir einzunisten, deshalb muss ich nochmal schnell in den Supermarkt und irgendetwas zum Kochen für heute Abend organisieren…

Mondkind


Kommentare

  1. Das klingt irgendwie richtig schön und wirklich wie im film :) alles liebe

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Danke Dir...
      Ich habe mich zwischendurch so im Halbschlaf auch echt gefragt, ob ich das alles träume, oder ob das jetzt gerade echt ist...

      Ich war gestern so müde beim Blogpost schreiben und irgendwie habe ich das Gefühl, da sind so wenige Emotionen drin. In Wahrheit war das eine Gefühlsexplosion in mir. Das mit der Definition vom Glück ist ja immer so eine Sache, aber ich glaube, das war eine Glücksdurchflutung.
      Ich bin dem Universum so unglaublich dankbar, dass ich gerade einen Menschen wie ihn in meinem Leben haben darf und ich bin mir selbst so unglaublich dankbar, dass irgendein Teil in mir es scheinbar noch nicht ganz aufgegeben hat, sich emotional so völlig in einen anderen Menschen rein fallen zu lassen.

      Ich hoffe, wir werden solche Nächte noch öfter haben. Das muss ja nicht im Krankenhaus sein. Ist wahrscheinlich auch entspannter, wenn man nicht noch eine Antenne im Dienst hat. Wobei ich schon zugeben muss - es ist ein dezenter Adrenalinkick, so etwas ein Mal zu erleben.

      (Und gleichzeitig meine ich langsam zu verstehen, wie solche Krankenhaus - Geschichten entstehen. Es hat jetzt ganze Wochen gegeben, in denen wir einfach keinen einzigen Abend zusammen verbringen konnten, weil einer von uns beiden am nächsten Morgen früh raus und fit sein musste. Die Zeit ist so begrenzt, dass man sie nutzt, wann es eben möglich ist - und wenn es ein gemeinsamer Dienst ist und die Stationen und die ZNA ruhig ist - why not?
      Obwohl ich schon auch irgendwo froh bin, dass wir keine Nächte mehr im Krankenhaus verbringen; in der Psychosomatik bin ich dann in einem ganz anderen Gebäude, da geht es nicht mehr. Aber ich glaube, die Erinnerung soll so bleiben, wie sie jetzt ist. So ruhige Nächte - selbst ab 2 Uhr - gibt es in der Neuro eigentlich nicht).

      Löschen
    2. upsi, jetzt weiß ich nicht, warum das nicht unter meinem Namen gepostet wurde... - naja, ist von mir :)

      Löschen
  2. Liebe Mondkind,
    es ist schön inzwischen wieder so positive Sachen von dir zu lesen.
    Ich habe vor einiger Zeit so mit dir gelitten und gehofft, dass du die dunklen Zeiten überstehst. Es scheint, als komme immer das Licht am Ende des Tunnels. :)
    Alles liebe, S

    AntwortenLöschen

Kommentar veröffentlichen

Beliebte Posts aus diesem Blog

Drittes Staatsexamen - ein Erfahrungsbericht

Reise - Tagebuch #2

Von einem Gespräch mit dem Kardiochirurgen