Frühling und Schätze aus der Klinik - Zeit


Gestern.
Gestern war ein guter Tag. Einer der wenigen. Verdächtig, im Jahresrückblick erwähnt zu werden.

Ich frage mich, ob ich gestern mal wieder ein  „normales“ Energielevel hatte. Ich musste mich nach dem Einkaufen mal nicht zwei Stunden ausruhen, die Wohnung war auch schnell geputzt – ich war um 15 Uhr fertig mit dem Haushalt. Ich glaube, das war das letzte Mal irgendwann im letzten Jahr der Fall.

Ich wollte hier, an diesem Ort, unbedingt mal den Frühling erleben. Sehen, wie die Bäume, Sträucher und Blumen anfangen zu blühen, die Welt allmählich grün wird. Und nachdem ich letztes Wochenende ganz verunsichert war und gar nicht mehr wusste, was man jetzt eigentlich noch darf, oder nicht darf, ist es ja im Moment so geregelt, dass man für Spaziergänge raus darf.
Also habe ich das gestern gemacht. Durch den Kurpark, die Psychosomatik umrundet und dann noch ein Mal um die Stadtmauer. Zwischendurch bin ich tatsächlich der Polizei in die Arme gelaufen – sie haben aber gar nichts von mir wissen wollen. Also ist wohl alles erlaubt, was ich mache.

Und mit der warmen Sonne auf der Haut, kommt ein ganz kleines bisschen Frieden. Ein bisschen „Waffenstillstand“ in mir, wie Frau Therapeutin das früher immer genannt hat.

Die Hoffnung war, dass das zumindest mal bis zum Ende des Wochenendes hält. Hat es aber nicht. Heute Morgen habe ich nicht mal geschafft, Frühstück zu machen. Deshalb gab es das dann gegen 16 Uhr. Nachdem ich zumindest ein bisschen EEG zusammengefasst habe. Aber nichts davon verstanden habe. Mein Hirn ist einfach durch. Fragt mich nicht, wie ich morgen arbeiten will – ich weiß es nicht. Ein Tag Ruhe zwischendurch reicht da nicht mehr.


So, so schön... 😍🌿


Die Weide am Teich wird grün...


***
How did it all get so heavy
I used to stand up so tall
There's only so much I can carry
Before I fall
And they tell me "girl you're so lucky"
"You've got the world in your hands"
But you know the world gets so heavy
You don't understand
And that's heavy

(Delta  Goodrem – Heavy)

Wow… - wie kann ein Lied so unfassbar gut passen? So deutlich machen, was da hinter den Fassaden abläuft?

Die inneren Kinder kommen nicht mehr zur Ruhe. Wollen ganz viel, das ich ihnen nicht geben kann. Und ticken fast aus, wenn ich ihnen sage, dass wir EEG lernen müssen, dass wir die Notaufnahme unter der Woche rocken müssen – koste es auch noch so viel Energie. Dass wir die Doktorarbeit in einem Jahr fertig haben müssen (letztens kam eine Mail von der Uni und ich weiß nicht, an welcher Stelle des Tages ich das noch machen soll und wann ich in die Studienstadt fahren soll, um die Experimente fertig zu machen) und – wie der Oberarzt letztens angemerkt hat – dass es bald keine Ausreden mehr für den ersten Dienst gibt. Letzteres wird ganz sicher vorher wieder mit verschärfter Suizidalität enden und ich kann nur hoffen, dass ich da raus komme, wie ich es immer mache: Aushalten, durchhalten und überstehen.

„Aber Mondkind, es funktioniert doch alles…“. Regelmäßig dieselbe Diskussion. Der Oberarzt, der mich darauf hin weist, dass es alles so schlimm doch gar nicht sein kann. Als sei „funktionieren“ alles.

Und dann sitzen die Kiddies mit geflochtenen Zöpfen vor mir, die Beine baumeln in der Luft, die Arme vor dem Körper verschränkt. „Mondkind, wir hatten einen Deal. Wir machen das alles mit, wenn Du das willst – aber Du gibst uns endlich ein zu Hause und Menschen, die bleiben.“
Man versucht die Kinder zu beruhigen. Dann gibt es eben Bananenpfannkuchen zum Frühstück , dann gehen wir raus und schauen uns den Frühling an und dann malen wir eben mal ein Mandala aus. Aber das reicht ihnen so gar nicht.

Von Zeit zu Zeit hole ich die Erinnerungen von der Klinik – Zeit wieder hervor. Die Trost – Box des Therapeuten, die er mit so viel Bedacht zusammengestellt hat. (Auf jeden Fall habe ich darin letztens schon mal einen treuen Begleiter für meine Dienste gefunden – da gibt es eine Sache in der Box, die werde ich nur mitnehmen, wenn ich Dienste mache. Als kleine Erinnerung, dass ich vielleicht auch in den verzweifelsten Fällen nicht so allein bin, wie ich mich fühle…)
Manchmal nehme ich dann auch die Zettel hervor, die die Menschen dort geschrieben haben. Und von denen sie wohl nicht dachten, dass ich die einfach aufhebe. 

Das Bananenbrot - Rezept kommt von der Pflegeschülerin und ich habe es seitdem ein paar Mal nachgebacken. Den Zettel in der Mitte habe ich mal abends von ihr auf meinem Kopfkissen gefunden. Der Zettel rechts unten war die Anleitung, um beim "Wochenausklang - Dienst" den Kuchen fertig zu bekommen - weil ich einfach gar keine Ahnung vom Backen hatte... Zwei Zettel sind vom Therapeuten - der hat die inneren Kinder immer persönlich angesprochen, deshalb waren diese Zettel immer hochemotional behaftet. Der Zettel mit der "Ersatz - Katze" klebte an meiner Plüsch  Katze, die mir meine Zimmernachbarin zum Abschied geschenkt hatte, weil ich durchblicken hatte lassen, dass ich die Stationskatze vermissen werde. Und der Zettel mit Haus 21 war der erlösende Termin bei meinem sehr geschätzen Oberarzt nach dem "Medikamenten - Unfall" während meiner ersten Übernachtung im Studentenwohnheim. 


Das war ein komischer Ort. Immer schon. Manchmal so still. So im Einklang mit mir selbst. Die Kinder wurden gehört von den Therapeuten, die sie an die Hand genommen haben. Da konnte ich mich mal ums Leben kümmern. Die Tage verleben, ohne dass es ständig weh tut. Ohne, dass da ständig Druck ist, weil sich alles staut. Weil da Jemand gesehen werden will. Es war mehr Freiheit, als ich mir sonst selbst eingestehe. Und es war beide Male Hoffnung. Ich muss ja nur mal kurz verschnaufen – ich habe ja einen Plan, wie das Leben zurück in die Bahn kommen soll. Dafür braucht man nur so viel Geduld und Spucke, dass die Energie nicht ganz reicht. Vier Jahre sind lang.
Die verrücktesten Erinnerungen kommen echt fast alle aus der Psychiatrie. Das kann man wirklich keinem erzählen. Eigentlich. In der Anonymität geht das. Ich kann mich erinnern, dass ich mit einer Mitpatientin mal abends um 23 Uhr Applecrumble gebacken habe. Die Katzen – Momente. Die Ruhe morgens auf der Dachterrasse. Ideen – Sammlung, was ich auf der Abschlussfeier anziehe und eine Mitpatientin hat darauf bestanden, dass ich alle ihre Kleider anprobiere. Schnake über den Flur jagen mit einem Besen und viel Geschrei…  In der Sport – Therapie Federball spielen, wie meine Schwester und ich das früher im Garten gemacht haben. Am Wochenende in den Tierpark gehen und Reha beobachten. Auf dem Spielplatz gehen und schaukeln…  Und irgendwann haben wir Patienten besser aufeinander aufgepasst, als ich das von der Familie je gewohnt war.
Das war mehr Kindsein, mehr Dazugehören, mehr Leben, als ich das Jemals hatte…

Und dann tut es manchmal doch ganz dolle weh. Weil wir eigentlich nur eine Gemeinschaft von bunt zusammen gewürfelten Leuten waren, die gerade ihr Leben nicht mehr auf die Reihe bekommen haben und das mit dem Zusammenhalt, dem Erinnerungen schaffen und der Solidarität besser geschafft haben, als ich das im privaten Umfeld jemals erlebt habe.

Eine Freundin hat mit eine Konversation zwischen ihr und ihrer Mutter geschickt.
„Du gehst nicht auf Intensiv in irgendwelche Zimmer. Dann komme ich und hole Dich da raus…“
„Mama Du kannst doch nicht einfach auf Intensiv kommen…“
„Doch, ich bin Deine Mutter…“

Und dann ist es vorbei. Mit mir. Und dem „Mondkind heute nicht heulen bitte.“ Ich kann mich nicht erinnern, dass es irgendwen aus meiner Familie interessiert hätte, wie es mir hier so geht. In der Notaufnahme. An vorderster Front.
Ich werde das schon hinkriegen. Angst vor dem Virus habe ich nicht wirklich. Es ist eher so das Prinzip.

"How did it all get so heavy...?" - Ja, ich weiß es nicht. Vielleicht, weil es alles ganz anders gelaufen ist, als geplant. Vielleicht, weil seit sechs Monaten allein funktionieren zu müssen, mich an den Rand meiner Kapazitätsgrenzen bringt. Und das einfach unmöglich ist, zu kommunizieren. Übersehen wird. Zur Ruhe kommen nicht drin ist. Vielleicht, weil langsam klar wird, dass wir hier auch nicht weiter kommen. Nicht finden, was wir suchen. Nur durchhalten können. Wie schon seit eh und je.
Vielleicht, weil die inneren Kinder auch hier nicht zur Ruhe kommen werden. Bezugspersonen sich nicht finden. Ein zu Hause irgendwie auch nicht.

Sorry für den chaotischen Post.
Ich kann mich nicht ausdrücken heute… 

Mondkind

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