Im Kindmodus als Überflieger


„Nee Mondkind, so nicht… - und vor allem nicht mit… - uns…“

Ich habe das Gefühl, dass ich aus dem „Kind – Modus“ so gar nicht mehr raus komme. Es rebelliert nur noch in mir. Läuft gegen die Wände in meinem Kopf.

Frühmorgens. Der Oberarzt läuft mit großen Schritten durch die Notaufnahme. Blättert in unserem Buch, in dem wir die Statistik führen hin und her und läuft danach wieder durch den Raum. In großen Schritten.
„Mondkind… - ich vergleiche immer die aktuellen Daten mit denen aus 2019. Das Ziel ist immer eine 20 % - ige Steigerung zu erreichen. 20 % mehr Patienten, von denen jeder einzelne 20 % weniger Zeit in der Notaufnahme verbringt – obwohl die Bevölkerungszahl im Landkreis seit Jahren gleich ist…
Ich sehe: Im Januar und Februar hat das knapp, aber gut funktioniert. Und dann kam der März. Da kamst Du in die Notaufnahme. Wir haben nicht 20 % mehr Patienten in der Neurologie gesehen. Okay… - dafür kannst Du nichts… - aber ich sehe… - die Zeiten Mondkind... Die Patienten waren viel zu lange hier. Zugegebenermaßen ist die Statistik mit der Zeit eher eine fürs Ego. Aber ich habe da Ansprüche. Ich bin schon dabei zu versuchen, das auszugleichen.“
(Ich frage mich still und leise, wo diese Rechnung eines Tages enden soll… und ich war auch die ersten beiden Wochen ohne Einarbeitung ziemlich alleine in der Notaufnahme und war am Ende des Tages meist froh, dass alle überlebt haben...)

Ein Patient ist angekündigt. „Mondkind, für den hast Du 15 Minuten, dann ist der auf Station…“
„Wie soll denn das gehen?“, protestiere ich. „Wie soll ich in 15 Minuten eine vernünftige Anamnese machen, den Patienten von oben bis unten untersuchen, ins CT und in die Sonographie geschickt haben…?“
Das lässt er nicht gelten. „Mondkind, die in den Praxen haben auch nur 15 Minuten für jeden Patienten…“, sagt er. „Die kennen aber ihre Patienten oft. Ich sehe den zum ersten Mal…“

Das nützt alles nichts. Und ich schaffe die Zeitvorgabe natürlich nicht. Und irgendwie macht es mich unzufrieden.
Irgendwie verstehe ich das echt nicht. Wenn die Notaufnahme aus allen Nähten platzt – okay, dann geht es nicht anders. Aber gerade haben wir die Zeit. Für den Patienten und für Menschlichkeit und für möglichst genaue Anamnesen und gute Diagnosen.

„Mondkind… - vielleicht muss ich Dich auch doch noch länger in der Notaufnahme behalten. Wegen mangelnder Entwicklung…“

Ein paar Stunden später sieht aber zumindest die Einstellung zu dem letzten Kommentar wieder ganz anders aus. „Mondkind, wann gehst Du auf die periphere Station?“, fragt er. „Im Mai“, entgegne ich. „Okay, dann machst Du ab Juli Dienste“, beschließt er. Überlegt kurz. Grummelt. „ Mondkind, bislang war ich derjenige, der am schnellsten den ersten Dienst gemacht hat. Nach 11 Monaten. Du machst es dann halt schon nach neun Monaten. Damit hast Du dann den Rekord gebrochen...  aber Du musst noch viel lernen…“, sagt er. Hat schon eine Menge ausgedruckte Zettel in der Hand. „Mondkind… - bis Morgen… - nee, bis übermorgen hast Du das gelesen und gelernt“, sagt er und überreicht mir den Stapel, auf denen obendrauf mit großen Buchstaben „Mondkind“ steht.

Auf der einen Seite ehrt es mich natürlich, dass die so viel von mir halten. Glauben, dass ich nach neun Monaten die Neurologie soweit auf dem Schirm habe, dass ich alles behandeln kann, was da zur Tür herein kommt. Auf der peripheren Station muss ich definitiv noch periphere Neurologie lernen – das kann ich bis jetzt nur sehr schlecht.

Auf der anderen Seite… - rebelliert in mir alles noch mehr. Wir werden nicht zu Ruhe kommen. So bald nicht. Das war alles nicht der Plan. Die sollten aus mir nicht die neue Überfliegerin machen. Und das war mit „meinem“ Oberarzt auch alles nicht so abgesprochen.

Die „inneren Kinder“ fordern alle Kräfte, um sie irgendwie in Schach zu halten. Jegliche Energie, die da irgendwo ist. Die Nächte waren lang nicht so kurz, ich lang nicht so müde. Und obwohl ich mich immer noch weigere das einzusehen, fällt hier objektiv betrachtet doch Vieles zusammen und so langsam habe ich doch Angst, nach knapp sechs Monaten im Job darunter zusammen zu brechen.
Ich bin wieder auf einem Weg, auf dem ich mich gezwungen sehe nicht wiedersprechen zu dürfen – immerhin ist der Perfektionismus und Erfolgsdruck doch immer das gewesen, das am Wichtigsten war. Und das findet die Neuro scheinbar auch. Und auf der anderen Seite haben wir den inneren Kindern versprochen, dass es anders wird. Dass wir irgendwann mal ein bisschen Leben werden. Und das jetzt einfach wieder nicht tun. Und uns damit ein Stück weit selbst verraten.

Damit mich zumindest mal irgendwer wieder in Richtung „erwachsene Mondkind“ schubst, die da wenigstens noch rational etwas Gutes in all dem sehen kann und sich nicht so abhängig fühlt von den potentiellen Bezugspersonen, die das nie geworden sind, versucht man das Helfersystem schnellstmöglich zu aktivieren. Weil im „Kindmodus“ zu arbeiten, eben fast unmöglich ist.
Ich schreibe selten Frau Therapeutin und Herrn Therapeuten gleichzeitig. Nur, wenn es ganz doll brennt und ich eigentlich dringend ein Gespräch brauche. Heute hat es mit Beiden nicht geklappt, mit dem Seelsorger auch nicht und joa… - versuchen wir weiterhin tapfer zu sein. In Corona – Zeiten zusammen zu klappen und in der Psychiatrie zu landen ist noch unlustiger, als es das ohnehin schon wäre…

Mondkind

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