Jedes Jahr, kurz vor dem Frühling


So laufen die Jahre weiter ins Land
So fängt das Neue nach dem Alten an
Wir sind auf der Reise, und irgendwann
Kommen wir an, kommen wir an
Wir starten von vorne, geben fast auf
Wir stolpern und fallen und ziehen uns wieder rauf
So laufen die Jahre, und irgendwann
Kommen wir an, kommen wir an

(Max Giesinger – die Reise)


Donnerstag.
Der Tag beginnt heute mal wieder mit einer ganzen Menge Adrenalin. Es gibt einen wake – up Stroke. Also einen Schlaganfall mit unklarem Zeitfenster. Da der Patient schwer betroffen ist, erlebe ich zum ersten Mal mit dem Oberarzt der Notaufnahme den Ablauf solcher Situationen, in denen wir alles versuchen, um noch handeln zu können. Erst fahren wir ein natives CT. Darauf können wir eine Blutung schonmal ausschließen (sonst wäre die Diagnostik an der Stelle beendet) und schieben eine Angiographie hinterher. Aber auch darauf sehen wir keine höhergradigen Gefäßverschlüsse – also gibt es nichts zu thrombektomieren. Deswegen machen wir dann noch ein MRT mit zwei Sequenzen um heraus zu finden, wie alt der Schlaganfall ungefähr ist. Leider finden wir im Endeffekt heraus, dass der Schlaganfall schon mehrere Stunden alt sein muss und bei einer Lyse die Gefahr eine Blutung höher wäre als der Nutzen, den die Rettung des noch nicht untergegangenen Gewebes bringen würde.
Ich bewundere den Notaufnahme – Oberarzt schon. Während ich hinterher feststelle, dass mich das völlig ausgelaugt hat, strolcht er mit einer Seelenruhe durch die Diagnostikflure. Er weiß genau, was er tut. Und was er wann tun muss.

An diesem Donnerstag bin ich gar nicht so spät fertig. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages begleiten mich auf meinem Weg den Berg hinab. Wenig später drehe ich den Schlüssel im Schloss und öffne die Wohnungstür. Streife die Schuhe von den Füßen, hänge den Schal über die Gaderobe und gehe erstmal ins Schlafzimmer, um meinen Rucksack abzustellen.
Und dann… - schlägt mir der ganz dezente Geruch von abgestandener Luft entgegen. Die Sonne muss den ganzen Nachmittag zum Fenster hinein geschienen haben. Frühling und die Zeit kurz vor dem Frühling ist seit Jahren nicht so ganz meine Jahreszeit. Und es gibt so winzige Situationen, die mich so völlig aus der Bahn schmeißen.
Und dann sitzt da eine Mondkind vor dem Bett. Mit Tränen in den Augen. Und dem Gefühl, dass ihr gerade das Herz auseinander gerissen wird. Und irgendwie kommt diese Mondkind da stundenlang nicht raus. So viel geballte Traurigkeit, Einsamkeit, Angst über Überforderung.

Die Nacht von Donnerstag auf Freitag ist eine absolute Katastrophe.
Es muss irgendetwas passieren. Irgendein Gespräch brauche ich an diesem Freitag. Lösen wird man nicht viel können, aber ich muss reden können. Ich brauche Jemanden, der mitträgt. Der da ist. Früher wären das die Situationen gewesen, in denen ich die Therapeutin um einen außerplanmäßigen Termin gebeten hätte, aber das geht ja nun nicht mehr. Also schicke ich an diesem Morgen schon mal zwei Mails los, frage vorsichtig um ein Ohr und hoffe, dass es mit einem der Beiden klappt.

In der Notaufnahme ist es an diesem Morgen zum Glück etwas ruhiger. Die Frühbesprechung findet heute im Nebengebäude statt. Ich entschließe mich, mir meine Anwesenheit dort zu sparen – das ist ohnehin immer eine heiße Kiste, für die ich heute einfach keine Kapazitäten habe. Wenn da drüben das Stroke Telefon klingelt, muss man im Allgemeinen die Beine in die Hand nehmen, um rechtzeitig wieder in der Notaufnahme zu sein, sich über den ankommenden Patienten informiert und die erste Diagnostik angemeldet zu haben. Es gibt auch keine einheitliche Regelung. Die Einen sagen, der Notaufnahme – Arzt darf teilnehmen, die Anderen sehen das wiederrum kritisch und richtig machen kann man es demzufolge ohnehin nicht.

Der Famulant – mein Informant seit fast zwei Wochen – bringt mir wenig später die neuesten Informationen aus der Frühbesprechung mit und textet mich dann in alter Manier zu. Es ist erstaunlich, wie ein Mensch in seiner Position so klare, unverrückbare Meinungen zur Medizin haben kann. Manchmal muss ich mich erinnern, wer hier die Ärztin und wer der Famulant ist ( - obwohl ich mich auch nach einem knappen halben Jahr im Job dem Studentenstatus irgendwie mehr zugehörig fühle).
„Mondkind, ich habe Dich noch nie so müde gesehen“, stellt er irgendwann fest. „Ich bin auch müde…“, sage ich dazu nur knapp. Und kalt ist mir – aber das ist wohl eine Folge der Müdigkeit. Irgendwann kommt der Stroke - Unit - Oberarzt rein und schaut mich auch nur mit großen Augen an. „Mondkind…?“, fragt er. „Ja…“, sage ich. Er setzt sich. „Pass auf – da kommt gleich Jemand aus der neurologischen Praxis, der hat eine Abducensparese. Bilder bringt er mit – aber Du müsstest ihn lumbalpunktieren…“ „Oh, ich freue mich riesig“, gebe ich zurück. „Ja ich weiß Mondkind, aber versuch es – Du machst das schon…“

Der Patient ist geduldig, nett und entspannt, was schon mal drei sehr gute Eigenschaften für mein Vorhaben sind. Dass mir der Famulant neugierig über die Schulter schaut, ist allerdings weniger beruhigend. Und dennoch – das war ungelogen die Bilderbuchpunktion meiner bisherigen Karriere. So jung war er gar nicht mehr, aber recht schmal und trainiert und wohl mit einer Wirbelsäule ausgestattet, die so viele degenerative Veränderungen noch nicht hat. In jedem Lehrbuch steht, dass man im Lauf der Punktion zwei Widerstandsverluste (bedingt durch die Bänder) spüren muss, ehe man im Kanal ist und das war das erste Mal, dass ich wirklich genau sagen konnte, wo ich bin mit meiner Nadel. Nach drei Minuten war die Sache vorbei.

Viel los in der Notaufnahme war den restlichen Tag nicht mehr. Zumindest bei uns in der Neuro nicht und die Corona – Verdachtsfälle sollen eigentlich sofort auf die extra dafür eingerichtete Station – das klappt aber eher so leidlich. Man spürt die Unsicherheit in der Bevölkerung und ehrlicherweise sieht man in den letzten Tagen, dass unsere Notaufnahmekapazitäten völlig ausreichen würden, wenn nicht Jeder wegen jeder Kleinigkeit kommen würde. (Wie oft habe allein ich in meinen drei Wochen Notaufnahme – Karriere gehört: „Na jetzt habe ich eben gerade Zeit für meine Kopfschemerzen seit drei Monaten – da komme ich eben…“)
Es ist kurz nach 16 Uhr. Gleich muss meine Ablösung kommen. Ich bin fertig mit dokumentieren, meine Patienten sind versorgt – wir werden doch wohl heute keinen Pünktlichkeitsrekord aufstellen? Die Schiebetür öffnet sich und statt meiner erwarteten Ablösung… - kommt der Rettungsdienst und bringt eine Dame mit akut exazerbierten Rückenschmerzen. Noch als wir die Frau vorsichtig umlagern, kommt der Dienstarzt, setzt sich auf einen der Drehstühle, scheint kurz nachzudenken, um dann zu sagen: „Mondkind, ich bin im Dienstzimmer. Du meldest Dich, wenn Du etwas brauchst…“
Eigentlich ist das um diese Uhrzeit eine Grenzfallentscheidung, wer die Patientin macht. Um es so kollegial wie möglich zu machen, macht der Frühdienst Anamnese, Untersuchung, Doku und meldet die nötigen Untersuchungen an, aber dann übernimmt eigentlich der Dienstarzt. Und heute habe ich echt Druck dahinter – ich muss hier irgendwann raus, um mein Hirn bei irgendwem aufzuräumen.  Denn wenn man – wie ich – dann noch in der Dienstzeit über die Rezeption die Radiologen für Anmeldung und Auswertung der Untersuchung anrufen muss (und sich dann noch eine Schelte anhören muss, dass CTs im Dienst zu inflationär gefahren werden, wofür ich wenig kann, wenn mein neurologischer Hintergrund das so möchte), mit dem neurologischen Hintergrund über die Rezeption Kontakt aufnehmen muss, den Patienten auf der Station aufnehmen und die Medikamenten angeben muss, zieht sich das. (Um den Dienstarzt zu verteidigen – er hat eben auch seit 10 Uhr seine Station gemacht und findet das nicht gut, so in den Dienst starten zu müssen…). 



Es ist bereits nach 18 Uhr, als ich von der Notaufnahme eingesammelt werde. Ich auf dem Stuhl, der nicht mehr grün ist. Im neuen Gebäude. Er übereck. „So Mondkind, was ist mit dem Frühling…? Warum tut das so weh?“, fragt er. Ich erzähle. Von diesem Schüben von Frühling. Von diesen auslösenden Situationen.
Dass mich das immer an diesen Frühling erinnert, kurz bevor alles anders wurde. Mehr als 10 Jahre ist das mittlerweile her. 13 war ich damals.
Und dann sehe ich manchmal mich selbst. Die ersten Tage, in denen man mit T – shirt über den Pausenhof rennen konnte. Die ersten Tage, in denen sich die Glasgänge zwischen den Gebäuden aufgeheizt haben und seltsam nach abgestandener Luft gerochen haben. Der Frühling, nachdem sich unsere Eltern getrennt haben. Nachdem diese Welt, die es schon vorher nicht mehr gab, offensichtlich zusammen gebrochen war. Für uns jedenfalls – für das Außen hatten wir natürlich weiterhin zu erzählen, Papa sei auf Geschäftsreise.
Es war der Frühling, in dem mir noch nicht klar war, dass das so viel mehr erschüttert hat, als ich bis dahin wahr genommen hatte. Nicht nur die Familie, auch irgendwie das Grundvertrauen in alles um mich herum.
Wenige Tage danach kam die Dunkelheit. Diesen Moment, in dem ich das realisiert habe und nicht wusste, was da gerade passiert, habe ich bis heute vor Augen. Das erste Mal, dass der Frühling weh getan hat. Und es über Wochen nicht besser wurde.

Und allein diese Erzählung kostet mich die ersten Tränen. Das kommt super selten vor in Gegenwart von anderen Menschen, aber irgendwie… - war es lange nicht so schlimm. „Ich glaube Mondkind, Du bist gerade emotional 13…“, sagt er. „Ich glaube es auch irgendwie…“, entgegne ich. „Und was Du da bis heute ganz stark empfindest, ist diese Hilflosigkeit, die Du damals hattest…“, erklärt er. Und, dass es Aufgabe sein muss, die erwachsene Seite, die es bei mir noch gar nicht so richtig gibt, zu stärken. „Emotional bist Du irgendwie immer noch Kind Mondkind“, sagt er. Und irgendwie… - hat er Recht. Manchmal ist da dieses Mondkind – Kind viel zu präsent und möchte unbedingt gesehen werden und fühlt gleichzeitig, dass es keine Berechtigung mehr hat, weil das Leben jenseits der emotionalen Ebene erfolgreich weiter gelaufen ist, ich mittlerweile doppelt so alt bin, Ärztin bin und auf meine Patienten aufpassen soll. Und dann gerät in mir alles völlig aus dem Takt, weil mir so klar wird, dass es Dinge gibt, die ich auch niemals werde nachholen können. Auch wenn ich irgendwann mal „Familienersatz“ finden sollte (was langsam unwahrscheinlich ist), aber es bleibt immer nur Ersatz. Niemand gibt mir diese Familie zurück; die Jahre, die ich im Prinzip mit der – auf meinen Vater bezogen physischen – aber sonst zumindest emotionalen Abwesenheit meiner Eltern leben musste. 

„Weißt Du Mondkind, ich verstehe das immer nicht so ganz. Klar hast Du Deine Traumata; Du wurdest verlassen – da gibt es keine Fragen. Aber dass die Eltern sich trennen – das passiert jedem zweiten Kind. Und nicht jeder reagiert da so wie Du.“ „Ich weiß, deshalb habe ich mir auch lange Vorwürfe gemacht, dass es mir nicht gehen darf, wie es mir eben geht. Und heute glaube ich, dass es nicht die Tatsache an sich war, dass sich meine Eltern getrennt haben. Das war einfach der Umgang damit. Es gab keine Zeit, ein Ende zu leben. Zwischen der Ansage, dass es so ist und der Tatsache, dass unser Vater weg war, langen keine 12 Stunden. Die wiederholte Aussage unserer Eltern in der Situation war, dass wir doch bitte weiterhin gut in der Schule sein und nicht notentechnisch einbrechen sollen. Und überhaupt ist der Papa bitte für alle Außenstehenden auf Geschäftsreise. Wir wurden auch nicht gefragt, mit wem wir gehen wollen. Ich habe ja schon Wochen vorher gespürt, dass etwas nicht stimmt und habe mir seitdem überlegt gehabt, dass ich definitiv mit meinem Vater mitgehe. Aber bei dem hatten wir dann erstmal ein halbes Jahr Besuchsverbot. Das und viele weitere Dinge (unter anderen, dass unsere Mutter ziemlich ausgetickt ist, als die Lehrer bei uns angerufen haben, um zu fragen, was nicht stimmt)… - haben so deutlich gemacht, dass es nicht um uns Kinder ging. Das war völlig egal. Wir waren in dem Moment ein Überbleibsel aus einer gescheiterten Beziehung. Diese Ignoranz und fehlende Transparenz hat die Hilflosigkeit erzeugt und ich glaube das ist das wesentliche Trauma, wenn man davon reden will. Zumal die Trennung auch nur etwas offensichtlich gemacht hat, das es davor schon nicht mehr gab. Diese Familie war immer nur auf Funktionalität und Außenwirkung ausgerichtet. Und ich glaube, dass mir erst viele Jahre später bewusst geworden ist, dass Vieles, das für mich normal war, so normal nicht war. Ich kannte es ja nicht anders. Aber wenn man den Menschen erzählt, dass es für Weinen Taschengeldabzug gab, dann schauen die Leute einen schon komisch an… Ich frage mich manchmal, ob ich je Kind war. Früher kam oft die Rückmeldung, dass ich für mein Alter sehr klar, reflektiert und in gewisser Hinsicht erwachsen wirke.
Unsere Eltern haben uns nicht im klassischen Sinn vernachlässigt oder so etwas – absolut nicht. Und manchmal frage ich mich, ob diese Form von Erziehung vielleicht nötig war, damit aus uns etwas wird. Aber Vieles war eben nicht kindgerecht, weit über das Ziel hinaus und hat aber im Prinzip eine „Fassaden – Mondkind“ großgezogen, die zwar Emotionen und Bedürfnisse hat, die aber nie kommunizieren und leben durfte und deshalb rennt – meiner Meinung nach – heute in mir alles gegeneinander…“

Und wenn wir schonmal dabei sind, dann fragt er. Wie das damals alles genau abgelaufen ist. Wie die Wochen vor der Trennung waren, ob ich es vorher gespürt und geahnt habe, wie sich das angefühlt hat und was danach war, bis jener verhängnisvolle Frühling kam. Und manchmal kann ich das ganz locker erzählen. Habe ich ja im Rahmen von Therapie immer wieder erzählt. Aber heute ist die emotional 13 – jährige Mondkind am Werk, in die es mich gestern Abend hinein katapultiert hat. Und heute weine ich viel beim Reden. Aber irgendwie fängt er mich nach und nach ein. Hört der so präsenten Kind – Mondkind zu. Die heute – im Gegensatz zu damals – gehört wird. Zwischenzeitlich rückt er etwas näher zu mir heran, legt die Arme auf dem Tisch ab und schaut mich intensiv an. Und ich spüre, dass ich gerade im Fokus seiner Aufmerksamkeit stehe. Und die Kind - Mondkind sich nach und nach ganz langsam ein bisschen beruhigt.

Und dann geht es um ein Umfeld, das tragen kann. Freunde zum Beispiel. „Also Mondkind, ich frage mich bei Dir immer so ein bisschen, was da eigentlich das Ziel ist. Du hast offensichtlich ein Problem damit alleine zu sein, aber Du tust auch nicht wirklich etwas dafür, um mal irgendwo dazu zu gehören. Man könnte ein bisschen meinen, Du willst auch alleine bleiben…“
„Naja…“, entgegne ich. „Ich hätte schon gern mehr Anschluss, aber da gibt es eben ein paar Probleme. Zum Einen mache ich mich mit Menschen in meinem Leben auch dahingehend angreifbar, wieder etwas verlieren zu können. Dass es da eine Verlustangst gibt, glaube ich schon. Und außerdem – und ich glaube, das ist fast essentieller – komme ich mir manchmal echt sozial inkompetent vor. Das hört sich jetzt vielleicht blöd an, aber ich hatte lange keine Freunde im Leben. So… - zwischen meinem 12. Und 22. Lebensjahr ungefähr. Das fing erst nach dem ersten Klinikaufenthalt an. Natürlich kann ich schon irgendwie auf professioneller Ebene mit Menschen umgehen – das habe ich in den Praktika im Krankenhaus aber auch erst lernen müssen - in meinem ersten Pflegepraktikum war das Hauptproblem, dass ich keine Ahnung hatte, wie man mit Menschem umgeht. Aber ich habe es gut gelernt und deshalb fällt es heute nicht mehr auf. Aber privat stresst mich das halt extrem. Am Wochenende wollten mich eigentlich die Nachbarn auf ihre Geburtstagsparty einladen – was ja sehr nett ist. Nun findet die wegen der aktuellen Lage nicht statt, aber es hat mich auch extrem gestresst. Wie verhält man sich denn da? Ernsthaft – wann war ich auf meinem letzten Geburtstag…? Und das fällt dann schon irgendwann auf, dass ich eben anders bin…“ „Das stimmt, manchmal bist Du echt putzig Mondkind. Ich meine das ist ja alles irgendwie süß, aber für Dich wahrscheinlich sehr anstrengend“, sagt er. „Ja schon…“, entgegne ich.

Auf die Frage, wie man den Frühling wieder schön machen kann, finden wir noch keine Antwort. Dieses Jahr eignet sich sicher nicht dazu, um die Erfahrungen der letzten Jahre zu überschreiben.
„Mondkind, das ist aber alles kein Drama. Setz Dich am Wochenende mal hin und halte das alles einfach aus. Und spüre, dass Dich das auch nicht umbringt, wenn Dich diese Hilflosigkeit so überrollt…“ Ich schaue ihn lange an. „Das ist halt immer so der Punkt…“, sage ich irgendwann.  „Das ist wirklich manchmal unaushaltbar, weil es so weh tut. Und dann kommt wieder die Suizidalität ins Spiel. Und ich habe dieses Thema mittlerweile lange genug in meinem Leben um zu wissen, dass ich wahrscheinlich nie wirklich sterben wollte und das immer „nur“ die letzte Möglichkeit ist, um diesen ganzen Wahnsinn zu beenden. Denn eigentlich möchte ich ja in der Situation nur, dass es aufhört. Und ich glaube, was wirklich wichtig wäre ist, dass ich mich mal irgendwann für das Leben entscheide. Mit allen Konsequenzen. Damit ich nicht in jeder Krise noch deswegen Angst haben muss…“ „Genau Mondkind“, pflichtet er mir wie aus der Pistole geschossen bei. Nur glaube ich nicht, dass ich diese Entscheidung so bald treffen kann.

Wir sitzen da schon echt lange, als er sagt, dass er nach Hause muss. Und dann fühle ich ein fremdes Herz schlagen. Und Arme, die mich einmal kurz ganz fest halten.
Ich weiß ehrlich gesagt nicht mehr, wann wir das letzte Mal so ein intensives Gespräch hatten. Aber damit hat er mich jetzt zumindest über das Wochenende gerettet. Und im Nebenschauplatz auch ein paar andere Dinge gelöst. Vor knapp drei Wochen hätte ich nicht gedacht, dass wir da jemals wieder so sitzen werden. Vermutlich werden wir das „Verbindungsstück Krankenhaus“ so bald nicht loslassen können. Vielleicht können wir das nach den letzten Entwicklungen nie, obwohl wir auf einem guten Weg dahin waren - da zieht er schon in Nebensätzen eine deutliche Grenze. Aber es ist auch nicht so, dass er nicht mehr für mich da ist. Vermutlich wird es nicht so, wie eine emotional 13 – jährige Mondkind sich das wünschen würde. Aber man kann auch dankbar sein für diese „zwischen - professionelle“ Lösung.


Jetzt hat er nächste Woche erstmal Urlaub. Genauso wie der Herr Therapeut, der mir gestern noch geschrieben hat, gesagt hat, dass er nächste Woche auch nicht da ist und wir Anfang April vielleicht mal sprechen könnten. Und die Frage, ob er etwas tun kann, hat er auch gestellt. Aber was kann er schon machen, wenn er ohnehin keine Zeit hat? Ich bin ja schon sehr froh, dass ich mir überhaupt noch von Zeit zu Zeit sein Ohr leihen darf. Ich habe ihn mal gefragt, wie er Plan in der „worst – case – Situation“ jetzt aussehen kann. Bisher hieß es ja immer, dass ich im Notfall zurück in die Studienstadt in die Klinik kann, wenn ich es gar nicht mehr aushalte. Und genau solche Regelungen sind der Grund, warum auch mich das ganze Geschehen in der Welt aktuell etwas nervös macht. Soziale Isolation ist kein großes Problem – nur die Frage ob ich – wenn es ganz schlimm kommt – im Moment aufgrund der Umstände trotzdem allein zurecht kommen muss. Das treibt mich um. Mal schauen, ob er noch etwas dazu sagt. Ich habe ihm gestern Abend erst sehr spät geschrieben. 
Und jetzt starten wir erstmal ins Wochenende... - das jetzt mal wieder EEG - lastig werden soll.

Mondkind

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