27 Monate
Hey mein lieber Freund,
wie geht es Dir? Was machst Du so?
Manchmal sitze ich immer noch hier und begreife das alles nicht.
Und dann habe ich diese Momente vor Augen, von denen wir nie wussten,
dass es die letzten für immer sein werden. Die letzte Begegnung auf dem Uni –
Gelände. Das letzte Treffen in einem Café in der Innenstadt. Weißt Du noch – es
war kalt und wir saßen draußen und ich wusste damals nicht warum, aber
irgendetwas in mir hat mich ermahnt, diesen Moment zu speichern.
Du warst einer der ersten Menschen, der bis auf den Boden meiner Seele schauen konnte. Damals, als wir uns über den Weg gelaufen sind. Das erste Mal gesprochen haben, als hätten wir uns schon ewig gekannt. Als ich das erste Mal Deine Hand in meiner gespürt habe, ich die Kühle Deiner Ringe als störend zwischen meinen Fingern empfunden habe.
Heute liegen Deine Ringe bei Deiner Mutter auf dem Nachttisch neben
dem Bett.
Nicht mal eine Woche; dann werde ich wieder da sein. Das letzte Mal
als ich da war, habe ich beschlossen, dass ich es nicht mehr schaffe. Bis dahin
hatte ich mich mit Händen und Füßen gegen die Klinik gewehrt, aber an diesem
Abend habe ich die Mail an den dienstplanverantwortlichen Oberarzt geschickt.
Ihm erklärt, dass es nicht mehr geht. Dass er mich ab Ende Dezember erstmal
ausplanen soll. Und er war einer der wenigen Menschen, der ein bisschen
distanziert, aber mit ganz viel Verständnis reagiert hat.
Und dann waren diese Tage bei Deiner Mutter eine Mischung aus
unendlicher Traurigkeit (ich habe die ganze Rückfahrt im Zug nur geweint, obwohl da so viele Menschen saßen, aber ich konnte einfach nicht anders) und Erleichterung. Das Starksein müssen war vorbei, es
würde irgendwann in den nächsten Wochen einen geschützten Raum für mich geben,
wenn ich das bis dahin überlebe. Diese Aussicht war genug, um dieser
Verzweiflung irgendetwas entgegen stellen zu können.
Und dann… - wie das Leben so spielt – an diesem Ort, an dem alles noch
mal über mir zusammen gefallen ist, gab es diesen einen Augenblick, der alles
geändert hat – vielleicht, hoffentlich, für immer ändert - in dem ich meinem
späteren Freund in die Arme gelaufen bin. Ich habe gespürt, dass mein Herz
nicht aufgegeben hat, obwohl der Kopf das längst getan hatte und ich nur mit Mühe
und Not der Klinik vor dem Sterben noch eine Chance geben konnte.
Weißt Du, ich habe letztens nochmal drüber nachgedacht: „Es sind nie
die schweren Momente, in denen das Fehlen groß wird. Sondern die kleinen
Augenblicke, die man nicht mehr teilen kann.“
Das kam mir in den Sinn, als wir uns am letzten Morgen in der
Geburtsstadt noch eine Kirche neben dem Hotel angeschaut haben, die eine der
Schönsten der Gegend sein soll. Ich habe nicht so viel Ahnung von Kirchen, aber
als wir noch über den angrenzenden Friedhof geschlendert sind, habe ich darüber
nachgedacht, wie tragisch das ist, dass wir so viele Momente nicht teilen
konnten, so viele Erfahrungen nie gemacht haben. Wir hatten so viele Ideen,
aber die letzten Jahre in denen wir uns kannten, waren eben sehr verkorkst.
Zwei Jahre mit zwei Staatsexamen, PJ hunderte Kilometer von Dir entfernt, nach
dieser ganzen Sache mal wieder ein Sommer in der Psychiatrie und danach musste
ich sofort arbeiten, weil die Finanzen das nicht anders hergegeben haben. Und bevor
sich die Situation entspannen konnte, warst Du nicht mehr da. Man kann heute
viel darüber reden, wo man denn Zeit hätte generieren können, aber ich denke
ich darf auch darauf vertrauen, dass ich alles versucht habe und es mir damals
nicht anders möglich war.
Und trotzdem hätte ich gern ein paar Erinnerungen mehr, trotzdem gibt
es so viele Erlebnisse, die ich gern mit Dir teilen würde. Und ich wünschte,
ich könnte heute über die Reisen reden, die wir gemacht haben, über die
Konzerte, die wir besucht haben. Wie wir zusammen am Meer gewesen wären, mit
dem Zug durch die Gegend gegondelt wären (damals hatte ich ja noch kein Auto),
auf Campingplätzen in Zelten geschlafen hätten – nicht weil das so attraktiv
ist, sondern weil das Geld für mehr nicht gereicht hat.
Ich weiß es nicht, wie es Dir geht? Ist es besser geworden, über die
Zeit? Sind wir beide über zwei Jahre nach der Katastrophe wieder etwas
glücklicher geworden mit unserem Leben?
Es ist beeindruckend, wie etwas, das so gut ist, das alles geändert hat,
gleichzeitig so brutal ist. Nichts zeigt deutlicher, als der neue Freund an
meiner Seite, dass das Leben weiter geht und dass diejenigen, die geblieben
sind, sich eben einrichten und weiter leben müssen mit dem, was in den
Trümmern geblieben ist.
Es ist halt schwer das zu sagen, aber ich bin aktuell okay damit, wie
es ist. Nicht mit Deinem Tod, das wird nie so sein, aber mit dem, wie es jetzt
ist. Ich würd sagen, ich hab das Beste draus gemacht. Und gleichzeitig heißt „das
Beste“ nicht, dass ich mir gewünscht hätte, dass es genau so kommt. Aber wenn
Du schon sterben musstest, dann hätte ich mir heute keinen besseren Menschen an
meiner Seite wünschen können. Ist das okay so? Verstehst Du, was ich meine?
Ich hoffe, Du hast auch liebe Seelen an Deiner Seite. Sehr sogar, hoffe ich das.
Oh und noch was – es gibt einen neuen Song von Revolverheld: Wenn Du jetzt hier wärst.
Wenn du jetzt hier wärst
Ich würd 'nen Handstand machen für dich
Wenn du jetzt hier wärst
Würdest du lachen, ob du willst oder nicht
Ich würd die guten alten Zeiten heraufbeschwören
Und auf die Leichen im Keller einfach nicht mehr hören
Wenn du jetzt hier wärst
Wären wir zusammen und nicht jeder für sich
(Revolverheld – Wenn Du jetzt hier wärst)
Das ist nicht so melancholisch, wie man allein am Songtitel vermuten
könnte. Ich mag’s gern und ich bin mir zu tausend Prozent sicher, Du hättest es
auch gemocht.
Das ist übrigens mit eines der Dinge, die ich am Meisten bereue: Dass
wir nie zusammen auf einem Revolverheld – Konzert waren. Das wäre sicher eine
Erinnerung für die Ewigkeit geworden. Ich hätte es gern erlebt.
Und überhaupt – manchmal würde ich Dich gern an die Hand nehmen und
Dir das Leben zeigen, das ich jetzt lebe. Das sich doch irgendwie zumindest ein
bisschen stabilisiert hat. Ich würde Dir gern zeigen, dass es das gegeben
hätte, woran Du nicht mehr geglaubt hast: Genug Kapazitäten für eine gute Beziehung.
Nicht nur zeitlich (was nicht heißt, dass der lebende Freund nicht manchmal
etwas unzufrieden wäre), sondern auch emotional. Und mit Examen, ständigen
Umzügen und Probezeit war das damals eher ferne Zukunftsmusik als Realität.
Ich verspreche, wenn ich bei Deiner Mum bin, dann werde ich – auch wenn ich dort eben alleine bin und niemanden habe, der mich mal kurz an die Hand nimmt – einen Abstecher auf den Friedhof machen. Diesmal werde ich das schaffen. Auch, wenn ich nicht genau weiß, wo Du bist und ich das immer noch tragisch finde, dass es ein anonymes Grab ist. Dass es nirgendwo einen Stein gibt, auf dem Dein Name steht, dass Du keinen letzten Ort hast, der nur Dir und der Erinnerung gehört.
Ganz viel Liebe in Richtung Universum
Du fehlst hier immer noch sehr.
Mondkind
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