Herausforderungen

Mittwochmorgen.
Meine Augen sehen immer noch ein bisschen rot aus, fühlen sich noch immer etwas geschwollen an und mein Kopf explodiert. Die Nacht war kurz.
Wirklich besser ist es noch nicht.

Gestern Abend.
Ich liege auf dem Sofa.
Der Freund in der Leitung.
Wir reden über meine Schwester, die sich (und in gewissen Grenzen auch mich) in eine etwas blöde Situation manövriert hat und er ist der Meinung, ich sollte da ein bisschen unterstützend tätig werden. Nur habe ich dafür irgendwie gerade so gar keine Kapazitäten.
Und während er auf mich einredet und mir klar wird, dass er keine Ahnung hat wo ich gerade bin und mich das nur noch weiter überfordert, spüre ich die ersten Tränen in den Augen, die wahrscheinlich schon ein paar Tage überfällig sind. Ein bisschen ging das schon vorgestern Abend los, aber da hatte ich es noch im Griff. Jetzt habe ich nicht mehr viel im Griff. Der Freund unterstellt, dass ich keine Lust hätte mit ihm zu reden, ich hingegen versuche es irgendwie zu schaffen, dass er nicht hört, dass ich weine. Und weinen und reden gleichzeitig ist halt schwer. Irgendwann bekommt er es doch mit.

Was ist hier eigentlich los? So genau weiß ich das selbst nicht.
Sicher ist es in Teilen die Arbeit. Morgen wartet der dritte Dienst innerhalb von sechs Tagen auf mich, am langen Wochenende habe ich an zwei von drei Tagen gearbeitet – unter anderen hatte ich einen Dienst auf der Intensivstation, in dem ein Patient, der schon im achten Monat bei uns ist und nächste Woche entlassen werden soll, einen septischen Schock bekommen hat. Das war erst gar nicht klar, was er hat – ich dachte einfach er wird sterben innerhalb der nächsten Minuten. Dieser Dienst hat mal gefühlt jegliche Energie für die komplette folgende Woche gleich mitgefuttert. Nächstes Problem ist, dass der Oberarzt von unserer Intensivstation im Urlaub ist, der zweite Oberarzt hat vor rund einem Monat gekündigt und formal gibt es eine Vertretung, aber das ist alles Chaos ohne Ende, die halbe Station ist aktuell instabil, wir Assistenten sind massiv unterbesetzt und teilweise alleine auf der Station.

Dann steht am Wochenende der Besuch bei der Mutter des verstorbenen Freundes an. Ich weiß nicht, ob ich deshalb aktuell so empfindlich bin, aber im Moment fehlt er mir einfach so sehr. Das hat auch gerade der neue Song von Revolverheld vor ein paar Tagen deutlich gemacht. Ich glaube dieser Song wäre einer gewesen, der bei uns beiden auf Dauerschleife gelaufen wäre und der Erste, der ihn gehört hätte, hätte ihn an den anderen geschickt mit der Aufforderung mal flott rein zu hören. So haben wir das immer gemacht bei den guten (also den Meisten) Songs dieser Band. Und das ist nur eine Kleinigkeit, aber das macht so deutlich: Da ist etwas passiert. Es ist nicht mehr so wie früher, dieses Leben von früher wird nie wieder zurückkommen und auch wenn es so wie es aktuell ist nicht schlecht ist, aber manchmal sehne ich mich so sehr nach dieser Zeit und dann tut es einfach immer noch so sehr weh.
Und dann muss ich seiner Mutter auch irgendwie erklären, dass ich einen neuen Freund habe. Es wäre jedenfalls wenig ehrlich, eine so zentrale Änderung meines Lebens zu verbergen. Und ich glaube nicht mal, dass sie mir das übel nimmt. Und dennoch ist mir nicht wohl dabei. Und dann steht auch endlich der Besuch auf dem Friedhof an. Das wird auch eine große Herausforderung.

Darüber hinaus gibt es noch eins, zwei andere Sorgen, die vielleicht nicht unbedingt auf diesen Blog gehören, aber trotzdem da sind. Belastend sind. 

Foto vom Schiffsausflug in der Geburtsstadt. Da kommen sicher noch ein paar Bilder im Verlauf; das war echt eine gute Zeit...

Und wenn man mich jetzt fragt, wie ich das alles machen will, dann weiß ich es noch nicht. Es ist die zweite Nacht, in der ich kaum geschlafen habe, ich bin so erschöpft, dass ich gefühlt im Stehen einschlafen könnte – und morgen muss ich 24 Stunden am Stück arbeiten. Den restlichen Freitag kann ich mich dann ausruhen und dann geht es weiter zur Mutter des verstorbenen Freundes. Die Woche danach ist zum Glück nochmal Urlaub – allerdings ist die ehemals ziemlich gechillte Planung mittlerweile auch etwas chaotisch.

Ich habe es auch irgendwie zu spät gemerkt diesmal; da war die letzten Tage schon viel Druck dahinter, ohne dass ich das wirklich ernst genommen hätte. Wahrscheinlich ist es auch ein bisschen überzogen, der Freund hat das Problem auch nicht wirklich gesehen, als ich es ihm versucht habe zu erklären. Mir ist es halt gerade alles zu viel und da sind viele Ängste – auch wenn das  für das Außen wenig rational ist und das vielleicht sogar objektiv betrachtet so ist – diesen objektiven Blick kann ich gerade nicht haben. Und ich glaube es geht nicht nur um die Themen an sich, sondern auch um meine Sorge, dass ich das einfach nicht durchhalte.

Als ich viel später an diesem Abend im Bett liege, kommt mir aber etwas in den Sinn.
Noch letztes Jahr wäre das alles Grund genug für eine suizidale Krise gewesen. Es gab so wenig, das mich am und im Leben gehalten hat, dass jede kleine oder größere Belastung sofort zu einer existentiellen Bedrohung geworden ist, weil ich dem nichts entgegen setzen konnte; auf die stille Frage, wofür es sich denn lohnt, keine Antwort hatte. Und obwohl es Menschen gab die behaupten, dass ich mich doch damit ganz gut eingerichtet hätte, war es immer schlimm für mich. Weil ein Teil doch nie sterben wollte. Und ein anderer Teil keine Möglichkeit gesehen hat, der Situation Herr zu werden.
Und obwohl ich langsam meine zu begreifen, dass es heute anders ist und dass es eben gerade eine schwierige Zeit ist, die meisten Sorgen allerdings (hoffentlich) eher temporär und nicht dauerhaft sind und es somit keinen Grund gibt, da mehr drin zu sehen als ein paar blöde Tage oder Wochen, macht das immer noch Angst. Angst, dass ich mich am Ende doch nicht halten kann. Angst, dass auch in Anbetracht von allem, das die letzten Wochen und Monate so los war wieder eine grundlegende Erschöpfung und Müdigkeit entsteht, die wieder wochenlang anhält. Dass es wieder grau um mich herum wird, die Welt ihre Farben verliert. Weil das so oft der Anfang war. Ein Überforderungserleben, das über viele schlaflose Nächte hintereinander zu einer endlosen Erschöpfung geführt hat, von der ich manchmal wochen- bis monatelang gebraucht habe, um mich irgendwie zu erholen. Und das kann ich mir irgendwie nicht mehr leisten. Kein Mensch kann etwas mit einem Menschen anfangen, der eigentlich nur noch das Bedürfnis hat in der Ecke zu liegen und Löcher in die Luft zu starren.

Ich ziehe jetzt erstmal los und versuche irgendwie den Tag zu überstehen. Nicht zu spät von der Arbeit zu kommen, um dann meine Sachen zu packen und zum Freund zu fahren, damit ich die Nacht bei ihm schlafen kann und dann morgen von ihm aus in den Dienst fahren kann.

Mondkind

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Drittes Staatsexamen - ein Erfahrungsbericht

Reise - Tagebuch #2

Von einem Gespräch mit dem Kardiochirurgen