Brief - von einem Besuch bei Deiner Mum
Hey mein lieber Freund,
Na, wie geht es Dir?
Ich habe jetzt zum ersten Mal den Ort gesehen, an dem Deine
sterblichen Überreste sind. Endlich habe ich mich auf den Friedhof getraut. Es
war hart. Und damals, als wir uns das letzte Mal physisch ähnlich nah waren,
hätte wohl niemand geglaubt, dass wir uns das nächste Mal auf einem Friedhof begegnen,
wenn wir uns so nah sind.
Dorthin zu gehen und zu wissen, dass man gerade an diesen Ort geht,
weil man jemanden besucht, ist irgendwie komisch. Wahrscheinlich kann ich von
Glück reden, dass sonst kein nahe stehender Angehöriger in meinem Leben je
gestorben ist. Aber ausgerechnet Du hättest nicht der Erste sein müssen.
Es ist ein hübscher Friedhof. Ein sehr hübscher. Fast wie eine riesige
Parkanlage und tatsächlich sind dort einige Menschen spazieren gegangen. Und so
wie Deine Mum immer gesagt hat, ist es gar nicht. Du hast einen Ort. Ein
kleines Holzkreuz, auf dem Dein Namen steht, Dein Geburtstag und Dein – meiner Meinung
nach falsches – Sterbedatum. Genau einen Monat nach Deinem Geburtstag viele
Jahre später. Und an einigen anderen Holzkreuzen in der Nähe standen sogar
Blumen und Kerzen. Deine Mum hat mir gesagt, dass das verboten sei, aber es hat
mir nicht den Eindruck gemacht. Ich hatte nur leider nichts dabei und es war
Sonntag. Ich verspreche Dir, ich komme wieder und dann bringe ich Dir ein
Blümchen und eine Kerze mit.
Weißt Du, ich habe mich gefragt, wie viele Menschen Dich wohl besucht
haben, seitdem Du dort liegst. In der Nähe von diesem Baum, dessen Äste mit den
schon bunten Blättern über Dein Grab ragen. Es ist wirklich ein toller Platz,
um dort seine letzte Ruhe zu finden – das meine ich ganz ernst. Es schafft -
neben vielen anderen Emotionen – ein kleines bisschen Frieden. Dein Holzkreuz
ist schon ein bisschen verwittert und es
war ziemlich dreckig – ich habe es mal ein bisschen sauber gemacht.
Und dann… - habe ich so dort gestanden mit meinem Schal um den Hals
und meiner grünen Übergangsjacke, die ich damals schon hatte und die ich sicher
auch getragen habe, als wir uns das letzte Mal begegnet sind und habe gespürt,
wie die Welten aufeinander prallen. Wie dieses Kreuz mit Deinem Namen vor mir
deutlich macht, was da für ein Meteorit auf mein Leben gefallen sein muss. Wie
viel Stillstand das bedeutet hat von einer Sekunde auf die andere, wie viel
Veränderung innerhalb eines Atemzuges, wie viel Zeit von der nie klar war, ob
ich das letztendlich überlebe, bis ich heute wieder bei Dir stehe. In der Jackentasche
spüre ich den Autoschlüssel und vielleicht hätte uns das Auto damals gerettet,
wenn ich es schon gehabt hätte. Vielleicht hätte ich Dir irgendwie den Mut machen
können, die Krise in der Du warst durchstehen zu können. Vielleicht überschätze
ich mich da auch.
Ich denke an das Leben von heute, das so schön ist und doch so fragil.
Und an die Mondkind von heute, die sich so sehr verändert hat. Durch dieses
Ereignis. Sich so viel mit dem Sterben, mit dem Leben, mit dem was dazwischen
liegt auseinander gesetzt hat. Die heute die Prioritäten anders setzen möchte
und noch so sehr daran arbeiten muss. Denn wenn wir am Ende an so einem Ort
stehen, dann zählen nur noch die Momente, die wir mit den Menschen erlebt
haben, die wir geliebt haben.
Und in dem Moment wünsche ich mir, wir hätten mehr erlebt. Wir wären
mutiger gewesen. Vielleicht an manchen Stellen ehrlicher. Ich wünschte, ich
hätte mehr von Deinen Ängsten gewusst. Ich wünschte, ich hätte es manchmal
besser geschafft Dir mehr Zeit einzuräumen und dem Studium etwas weniger.
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Blick von Deinem Grab nach oben |
Ist das übrigens nicht verrückt, dass ich im Bett Deiner Mum, neben
der Dein Altar mit Deinem Foto, Deinen Ringen, Armbänder und sogar Deiner
Brille (die hatte ich das letzte Mal nicht bewusst wahrgenommen), das erste Mal
seit Wochen einfach so neun Stunden durchgeschlafen habe?
Vielleicht hat es ein bisschen Frieden generiert, Dich so nah bei mir
zu wissen.
Ansonsten… - das Jahr in dem ich nicht hier war, hat viel verändert. Sowohl bei mir, als auch bei Deiner Mutter. Deine Mum kümmert sich jetzt ganz rührend um einen Deiner Onkel und sagt selbst, sie muss aufpassen, ihre ganze Fürsorge, die sie so lange Dir gewidmet hat, jetzt nicht gänzlich in ihrem Bruder zu versenken – weil der könne ja eigentlich auf sich selbst aufpassen. Und ich – ich habe jetzt eben einen Freund. Ich hatte viel Angst, ihr davon zu berichten, aber sie hat es gut aufgenommen. Sehr gut sogar. Hat gesagt, dass sie sich freut, dass ich wieder jemanden gefunden habe und war ganz empört, dass er so massive berufliche Probleme bekommen hat. Sie hat erklärt, dass sie meine Schuldgefühle Dir gegenüber sehr gut nachvollziehen kann, aber dass mich das nicht daran hindern soll, wieder glücklich zu werden. Und irgendwie hat es mich vielleicht ein mini – bisschen friedlicher gemacht. Du bist in ihrem Haushalt aufgewachsen und wenn sie da so selbstlos ist und das primäre Interesse nicht die Konservierung der Vergangenheit, sondern auch eine Zukunft mit der Lage, die wir jetzt eben haben ist – dann könntest Du das vielleicht auch so sehen?
Deine Mum zündet noch jeden Abend mindestens drei Kerzen für Dich an
und bekommt ein schlechtes Gewissen, wenn sie das vergisst. Aber sie sagt auch,
dass sie langsam wieder aktiver werden möchte. Das Bedürfnis verspürt, raus
unter die Menschen zu gehen. Und das hatte sie lange nicht. Und ich auch nicht.
Kannst Du Dich noch erinnern, als Du noch gelebt hast? Jedes Wochenende, das
irgendwie frei war, bin ich durch die Gegend gegondelt. Und das waren nicht
viele Wocheneden, weil ich ja auch einfach nicht oft frei hatte (jetzt muss ich
auch bis zum nächsten Urlaub Ende November einfach wieder jedes Wochenende
durcharbeiten…), aber das gab es nach Deinem Tod nicht mehr. Dieses Jahr ist
das erste Jahr, in dem ich es geschafft habe innerhalb eines Jahres mal bei
meiner Mama, meinem Papa und meiner Oma vorbei zu schauen – das habe ich auch
bemerkt und darauf bin ich auch ein bisschen stolz.
Und dennoch ist jeder Schritt nach vorne zurück ins Leben neben der
Tatsache, dass das grundsätzlich gut ist, ziemlich brutal. Weil das irgendwie
die Ideen von damals entwertet. So ein „Du und ich gegen die Welt und alleine
wären wir nichts, aber zusammen schaffen wir alles“. Stimmt ja irgendwie
überhaupt nicht. Alleine kann ich es halt auch schaffen. Und ja ich soll ja
auch selbstständig sein. Und trotzdem. Du verstehst, was ich meine, oder?
Und dann prallen irgendwie diese Leben aufeinander. Viele Menschen
reden ja davon, dass es ein Leben vor und ein Leben nach dem Suizid gab und ich
finde, das ist einfach so deutlich. Jetzt muss man bei mir natürlich dazu
sagen, dass Du gerade in einer Zeit voller Umbrüche gestorben bist. Da habe ich
gerade knapp ein halbes Jahr gearbeitet und musste mich immer noch jeden Morgen
daran erinnern, dass ich keine Praktikantin mehr bin.
Und dennoch. Wenn ich an Dich denke, dann denke ich an die
Studienstadt, mein Fahrrad, wenig Geld, das in zu viele Kaffees investiert
wurde. Ich denke an die Bahn, von der ich Dich abgeholt oder Dich hingebracht
habe, ich denke an das U – Bahnnetz, das ich auswendig kannte. Ich denke an
eine grenzenlose Naivität, daran, dass ich gedacht habe, dass eine Beziehung
alles schaffen kann, wenn man es nur ausreichend will. Ich sehe eine
unbeschwerte Mondkind Pirouetten durch Leben drehen und auch damals war das oft
nicht einfach mit Versagensängsten im Studium, finanziellen Engpässen, einer
ungewissen Zukunft. Es waren andere Sorgen, die vielleicht – obwohl man das
schlecht vergleichen kann – nicht weniger schlimm waren. Aber wie brutal
Verliebtsein auch sein kann, das war mir noch nicht bewusst.
Die Mondkind von heute ist seit Neuestem mobil, nimmt diesen Luxus,
dass alles was früher mühselig mit Bus und Bahn zu erledigen war heute viel
einfacher ist, bewusst wahr. Die Mondkind von heute ist im Krankenhaus täglich
mit Leben und Sterben beschäftigt, es geht nicht mehr um die Angst Klausuren zu
verhauen, sondern darum, Menschen umzubringen. Die Mondkind von jetzt ist mit
einer super komplizierten Beziehung beschäftigt, in der es eine
Grundsatzdiskussion nach der anderen gibt, in der Frieden ein merkwürdiges
Fremdwort ist, in der nach allem was war immer eine Angst zu Verlieren geblieben
ist. Denn das größte Glück kann auch die Grundlage für das tiefste Fallen sein.
Es ist eine Beziehung, die ich damals wahrscheinlich nicht hätte aushalten
können.
Irgendwie kommt mir die Mondkind von heute ein Stück erwachsener vor,
aber einfacher ist es nicht geworden. So im Gesamten.
Und dann hat Deine Mum eine wichtige Frage gestellt, die uns beiden viele Tränen abverlangt hat. Ob das ein Abschied werden sollte, hat sie gefragt. Ob ich nochmal gekommen sei, um zu Deinem Grab zu gehen und an das Kapitel einen Haken zu machen. Weil ich ja nun ein anderes Leben habe, um das ich mich kümmern muss. „Nein, das war nicht die Intention. Ich habe es schon das letzte Mal bereut, dass ich nicht beim Grab war und für mich ist es einfach ein Bedürfnis. Ich möchte wissen, wie es dort aussieht, wo seiner sterblichen Überreste sind. Aber nur weil ich jetzt wieder ein Leben habe, heißt das nicht, dass ich „einen Haken machen“ möchte, an das was war. [Der Freund] war jahrelang die wichtigste Person meines Lebens – daran werde ich nie einen Haken machen, das werde ich nie vergessen, er wird immer Teil meines Herzens sein und ein – aktuell immer noch täglich – aber wenn vielleicht auch irgendwann das nicht mehr – häufig aktiv erinnerter Teil meines Lebens. Er war viel zu wichtig, um dieses Thema einfach irgendwann zu den Akten zu legen.“
Ich war ganz innerlich bewegt auf dem Weg zurück nach Hause. Wobei ich
nicht wirklich nach Hause gefahren bin, sondern zu meinem Freund. Aber das ist
schon fast wie zu Hause. Und es hat natürlich keine halbe Stunde gedauert, bis
ich mit Tränen in den Augen in seinen Armen lag.
Es tut immer noch so sehr weh und ich würde so viel dafür geben, noch
ein Mal mit Dir reden zu können. „Er hatte eine sehr treue Freundin“, sagte er
irgendwann. „Es bekommen nicht viele Menschen einen Teil meines Herzens, aber
diejenigen, die es bekommen, die lasse ich wahrscheinlich nie wieder los.“
Ich hoffe, Du bist okay, wo immer Du auch bist.
Ich hoffe, Du hast Deinen Frieden gefunden und ich hoffe, dass wir
alle, die jetzt noch hier sind und Dich vermissen, den irgendwann auch finden
werden.
Ganz viel Liebe in Richtung Universum. Du wirst hier niemals vergessen
werden. Ich verspreche, ich werde mich um das Grab kümmern, soweit es eben
geht. Aber wann immer ich Deine Mum besuchen werde, werde ich bei Dir vorbei
kommen, ein Blümchen und eine Kerze vorbei bringen und vielleicht reicht der
Regen um die Pflanzen am Leben zu halten. Und wenn nicht findet sich vielleicht
irgendjemand, der solidarisch ist und das Blümchen mitgießt.
Ich hab Dich lieb.
Mondkind
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