Rückzug

Wir gehen nebeneinander her.
Ziemlich schweigend heute.
Aber zumindest Hand in Hand.
Wandern scheint die ideale Tätigkeit für uns zu sein.
Wir verbringen Zeit miteinander, aber zu viel Nähe muss nicht entstehen.
Und das Wetter ist heute sehr gnädig mit uns. Zwischendurch fühlt es sich an, wie ein sehr früher Frühlingstag. Die Sonne kitzelt auf der Nase und manchmal – ich weiß nicht, ob es wer kennt – habe ich den Anflug eines Sommergefühls mitten im Winter.


***
Samstagabend.
Natürlich hat es wieder Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Kardiochirurgen und mir gegeben. Er ist ärgerlich und ich bin es auch.
Es ist das erste Mal, dass ich abends nicht zu ihm fahre. Ich würde zwar gerne, aber das hat absolut keinen Sinn. Nicht mit dieser inneren Anspannung, mit dieser Wut und diesem Ärger mit mir – die Gefahr, dass ich ihm unkontrolliert irgendetwas an den Kopf schmeiße, ist ziemlich groß. Und da er wahrscheinlich auch keine großen Ambitionen hat mich zu sehen, lassen wir das eben einfach.

Und trotzdem spüre ich, dass das die nächste schlaflose Nacht wird. Eben hatte ich noch eine Freundin in der Leitung, die mir erklärt hat, dass man mit Männern eben keine Diskussionen über Beziehungen führen kann. Das könne man mit fast Keinem und damit müsse man als Frau eben leben. Und dann ist mir wirklich die Hutschnur gerissen. Er hat ein Hirn. Und einen Mund. Und mit dieser Kombination könnte man sprechen, wenn man es denn wollte. Man muss Männer nicht in Schutz nehmen und eine Inkompetenz in Bezug auf Beziehungsfragen in Kauf nehmen.
Es ist das erste Mal seit sehr langer Zeit, dass ich mal wieder das Promethazin aus der Schublade krame. Ich habe nur noch Restbestände und gehe damit äußert sparsam um. Aber an diesem Abend ist es so schwierig und ich bin so ausgelaugt von den letzten Tagen und Wochen, dass ich finde, dass das jetzt einfach mal sein darf.

Sonntagmorgen.
Der Wecker reißt mich aus dem Schlaf. Ich habe tatsächlich neun Stunden am Stück geschlafen. Mit dem Überhang hält es sich in Grenzen. Und ich spüre, dass ich tatsächlich etwas ruhiger aufstehe, als ich ins Bett gegangen war.
Der Kardiochirurg kommt im Lauf des Vormittags zum Frühstück. Und natürlich habe ich mir doch ein Sonntagsprogramm ausgedacht, obwohl ich gesagt hatte, dass ich das nicht mache. Wir könnten durch eine Schlucht wandern.

Laufen schafft auch immer viel Raum zum Denken. Ich habe das schon früher gemocht. Einfach Laufen und ein bisschen den Gedanken nachhängen.
Ich denk über meinen aktuellen Lebensstil nach. Beziehungskrise, Neuro lernen und der Versuch eine gute Psychosomatikerin zu werden, ist schon ein bisschen viel. Wobei mich der Part „Psychosomatik“ wirklich interessiert, ich aber ein bisschen bedauere, an der Stelle so wenig Unterstützung zu bekommen. Seitdem der Oberarzt weg ist, sind die ebenfalls unerfahrene Kollegin und ich ziemlich auf sich gestellt und ich lese schon fleißig, es würde aber glaube ich mehr helfen, ich könnte mir weiterhin Dinge „abgucken“. In den ersten beiden Monaten war die Lernkurve schon steil und ich hatte eine große Begeisterung für dieses Thema und mein Tun.
Neuro und Pychosomatik zu „balancieren“ ist die nächste Schwierigkeit. Mache ich das Eine, habe ich das Gefühl das Andere zu vernachlässigen. Ich sollte theoretisch schon einen Neuro – Schwerpunkt setzen, aber das ärgert mich, weil ich das vom Gefühl her nicht möchte. Jetzt bin ich endlich in der Psychosomatik und könnte mal hundert Prozent nur das machen und jetzt geht es wieder nicht. Gleichzeitig motiviert mich das natürlich auch indirekt für die Neuro, denn ich weiß: „Je schneller ich damit voran komme, desto eher kann ich die Nase ins Psychosomatik – Buch stecken.“ Irgendwie horte ich aktuell eher Bücher, als dass ich dazu komme die zu lesen. Bei meiner Kollegin auf dem Schreibtisch habe ich ein gutes Buch über Angst gesehen – ich bin ja versucht mir das auch noch zu organisieren…
Ich denke nach über diesen Menschen, der da gerade neben mir läuft. Gefühlt haben uns die letzten beiden Wochen sehr weit zurück geschmissen. Und gleichzeitig erlebe ich sein vehementes Schweigen in Bezug auf die Beziehungsfrage als super passiv – aggressiv. „Eben, er schweigt. Da hast Du doch Deine Antwort“, hallt mir nochmal die Meinung einer Freundin zu unserer Situation durch den Kopf. Bin ich eigentlich die Einzige, die noch an ein gutes Ende glauben möchte? Und natürlich hat die Freundin irgendwo Recht. Ich überlege, dass mich das aber auch in eine super beschissene Position bringt, von der ich gar nicht weiß, ob dem Kardiochirurgen das klar ist. Es ist ganz viel Hilflosigkeit. Ich kann ja nichts machen. Und Hilflosigkeit und Ohnmacht machen - wenn es lange genug anhält - irgendwann depressiv. So weit davon entfernt sind wir jetzt langsam nicht mehr. Ich könnte natürlich eine Sache machen: Ich könnte entscheiden, dass das jetzt langsam keinen Sinn mehr macht und tatsächlich Diejenige sein, die diese Verbindung zwischen uns auflöst. Aber wenn man postuliert, dass das ja genau das ist, was ich nicht möchte, wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben, als das noch eine Weile auszuhalten. Ich weiß nicht, ob er irgendwann mal von selbst damit ankommen wird. Wir haben es ja letzten Dienstag nochmal durchexerziert. Es geht einfach nicht. Da kommt kein vernünftiger Ton.
Und gleichzeitig glaube ich, dass wir auch nicht vorankommen, solange wie das so ist. Das führt ja – wenn es sich als Dauerzustand etabliert – schon zu einer Art von emotionalen Rückzug. Und manchmal habe ich auch Angst, dass wir das irgendwann einfach nicht mehr kitten können. Dass sich Zeitfenster irgendwann schließen. Ich merke schon, dass da kaum noch Platz für gute Gefühle neben dem ganzen Ärger ist. Die Anziehung geht dahinter schon verloren. Und so kommt es dann halt, dass ein freies Wochenende zu etwas mutiert, das wir vor langer Zeit mal hatten. Wir treffen uns ein paar Stunden am Sonntag. Mit Beziehung hat das… - relativ wenig zu tun.
Und manchmal, manchmal denke ich auch ein bisschen über mich nach. Bindung. Das ist so eine Sache. Eine Bindung einzugehen erfordert Mut. Und Mut ist nicht nur die Überwindung von Angst, Mut bringt Dich auch an einen neuen Punkt von dem aus Du vielleicht nie wieder dorthin zurückgehen kannst, wo du her kamst. Bindungen können ganz schön etwas machen mit einem. Und Bindungen sind auch nie sicher. Selbst die am sichersten geglaubte Bindung in meinem Leben war von einem auf den anderen Moment einfach so nicht mehr da. Wie kannst Du Dich auf einen Menschen ganz einlassen und gleichzeitig immer ein Gefühl haben, dass Du auch gut alleine sein könntest? Dass es okay wäre, wenn der Mensch nicht mehr da wäre? Vielleicht ist das eine Sicherheit die ich heute brauche und aber etwas, das ab einer gewissen Tiefe einer Bindung unmöglich ist. Und dieser Bindungsabbruch damals, der hat mich zu einem anderen Menschen gemacht. Ich kann auch nie wieder der Mensch sein, der ich vorher war.
Ich glaube einfach mal einen Platz im Leben eines anderen zu haben, ein Wir zu finden, das irgendwo in einer Mitte zwischen zwei Menschen liegt ist keine Erfahrung, die ich oft machen durfte. Oder überhaupt. Ich habe diese Beziehung zum verstorbenen Freund im Untergrund gehütet, geschützt soweit es ging. Die Wenigsten wussten davon. Ob das so bewusst war, weiß ich nicht. Und trotzdem hat es nicht gereicht. Trotzdem war es, als hätte man einen Meteoriten zwischen uns geschmissen. Ich glaube, eine tiefe Verbindung hat mein Gehirn in irgendeiner Form mit einem Verbot assoziiert. Und mit einer Gefahr. Ich habe natürlich auch Bindungsabbrüche erlebt, die weniger dramatisch waren. Und gleichzeitig war das immer ein stückweit Kontrollverlust bis zum vollständigen Versagen aller Selbstregulationsmechanismen. Und dann ist es mal die Frage, ob diese Bindung zwischen dem Kardiochirurgen und mir nicht genau dann instabil geworden ist, als wir uns hätten zurück lehnen können. Die Beziehungsfrage hätten wir klären müssen, aber ist die nicht genau nochmal akut im Dezember unmittelbar nach unserem Urlaub aufgetaucht? Hat da nicht vielleicht eine sich anbahnende wirklich Bindung die Alarmglocken schrillen lassen nochmal alles abzutesten? Oder war das vielleicht unterbewusst so wenig aushaltbar, dass wir wieder ein Stück voneinander weg mussten, was im Rahmen von Konflikten immerhin gut möglich ist.

Vielleicht haben wir uns da beide in etwas verstickt. Er in irgendetwas, das ich immer noch nicht weiß und ich irgendwie auch.
Diese Beziehungsfrage hat uns raus gehauen. Mich, weil er mir die Sicherheit nicht geben konnte, mit der ich ehrlich gesagt irgendwie gerechnet hatte. Das war eigentlich nur eine mehr oder weniger formale Sache. Und dann sind konsequent alle Systeme in mir hoch gefahren, die ich vorher rational ganz gut im Griffe hatte. Und ihn…? Ja, warum ihn das so raus gehauen hat, weiß ich nicht.
Die Frage ist – wo können wir wieder anfangen.

Gestern Abend war immerhin der erste Abend, an dem ich nicht bei ihm war, obwohl es möglich gewesen wäre. Das sagt schon auch etwas. Aber ich glaube, das wäre einfach nicht gut gewesen mit uns beiden gestern Abend. Es hat sich einfach nicht richtig angefühlt sich neben ihn zu legen, wenn weiterhin nichts geklärt ist und da eben auch wenig Interesse besteht. 


Montag
Ich habe nicht viel geschlafen in der Nacht. Bin drei oder vier Mal aufgewacht, nachdem ich auch erst spät eingeschlafen bin.
Der Tag in der Psychosomatik war in Ordnung. In der Mittagspause habe ich eine Stunde Neuro gelernt und damit starte ich schon mal gut in die Woche. Und am Nachmittag wollte eine Patientin mit einer Anorexie noch ein Einzelgespräch. Bislang hat sie ihre Essstörung noch nicht eingesehen und da ich ihr liebend gern noch ein paar Takte dazu sagen würde, quetsche ich sie noch irgendwie zwischen meine Aufnahmen.
Das Gespräch ist dann auch wirklich… - spannend. Sie berichtet, dass sie heute zum Wiegen war und ein wenig zugenommen hatte. Aus ihr unerklärlichen Umständen sei es dann zu einer massiven inneren Unruhe gekommen und deshalb habe sie dann in der Früh nochmal schnell auf die nahe gelegene Burg auf dem Hügel laufen müssen. Und natürlich habe sie den steilsten Weg nehmen müssen. Manchmal denke ich auch, sie will mich provozieren. Wie kann man denn das nicht realisieren? Ich spiegele ihr nochmal, dass diese Gedanken hochgradig essgestört sind. „Ich brauche Hilfe“, sagt sie „Ich habe Angst, dass es zu Hause genauso weiter geht und es mir schlecht geht.“ „Ja, aber Sie boykottieren alles was wir mit Ihnen machen komplett. Merken Sie das?“, frage ich. „wir bieten Ihnen an, Sie in die Anorexiegruppe einzuteilen, wir bieten Ihnen Hilfe beim Zunehmen an. Wir wissen, dass das nicht einfach ist das auszuhalten, aber wir sind jeden Tag hier. Sie haben rund um die Uhr Ansprechpartner. Wenn Sie es hier nicht versuchen können – wo dann?“ Sie denkt eine Weile nach. Vielleicht ist es auch nur meine Hoffnung, dass sich da irgendetwas bewegt bei ihr. Wir haben vereinbart, dass wir das morgen in der Visite nochmal besprechen.

Zu Hause schaue ich erstmal anderthalb Stunden in die Bücher um sicherzustellen, dass ich mein Programm heute schaffe. Danach schreibe ich den Kardiochirurgen, frage ihn wie die Stimmung so ist und ob er noch vorbei kommen mag. Natürlich weiß er, wann ich Schluss habe, aber er meldet sich nicht. Ich telefoniere ihm auch nicht hinterher.
Zwischendurch gehe ich schon mal Haare waschen. Und während ich unter der Dusche stehe, kommt mir der Gedanke, dass ich bemerke, dass sich etwas ändert. Vielleicht hat jetzt ein Monat Ärger am Stück irgendwie gereicht. Ich merke, dass es sich okay anfühlt, wenn er heute nicht kommt. Dann mache ich noch ein bisschen Neuro, beantworte ein paar liegen gebliebene whatsApps, schreibe ein wenig Blog und dann ist es auch okay. Und fast hat diese Erkenntnis etwas Befreiendes. Vielleicht liegt es auch ein bisschen daran, dass ich wieder etwas neben der Beziehung gefunden habe, an dem ich echt dran bleiben muss und mit dem ich gut Zeit überbrücken kann – ich muss eben Neuro lernen – aber dieses Gefühl nicht mehr ständig an ihm ziehen zu müssen, ist wirklich entspannend. Irgendwo sind es auch die Alarmglocken. Wenn wir uns jetzt nicht zusammen raufen, passiert vielleicht genau das Gleiche, wie beim ehemaligen Freund. Ich bereue diese Beziehung nicht, aber ich würde sie auch nicht mehr führen wollen. Und vielleicht wird es mit dem Kardiochirurgen demnächst ähnlich. Ich bin so dermaßen müde davon, dass ich es einfach laufen lasse. Und das ist okay.


Mondkind


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