Von einem Wochenende

Sonntag.
Morgens halb 7.
Ich schleiche ins Bad und versuche den Kardiochirurgen dabei nicht zu wecken.
Auf dem Dach gegenüber sitzt eine Amsel. Entweder sie ist sehr dick oder sie hat den Kopf eingezogen, weil sie friert. Schneeflocken segeln vom Himmel. Crazy, dass es echt nochmal geschneit hat.
Ich fühle mich an diesem Morgen, als hätte man mich in diese Welt einfach so rein gestellt. Als würde ich da gar nicht rein gehören. Irgendwie seltsam entrückt und entfremdet. Derealisationserleben nennt man das, hat der erste Psychiater mir erklärt. Wenn wir schon so weit sind, sollten glaube ich alle Alarmglocken klingeln. Aber so richtig weiß ich nicht, was ich damit machen soll. Es ist eben wie es ist.

Freitag.
Selbsterfahrung. Ich stehe mit der Psychologin, die im Büro neben mir sitzt, Rücken an Rücken. Zwischen uns ein Ball.
Und plötzlich erinnert mich das so sehr an den verstorbenen Freund. Wir saßen oft da, Rücken an Rücken und haben miteinander gesprochen. Und dabei die Lunge des anderen vibrieren gefühlt. Ich habe das nicht mehr gemacht, seitdem er gestorben ist. Und auch nicht oder zumindest selten mit Jemanden Rücken an Rücken gestanden. Ich spüre ein Stück diese alte Verbundenheit, den Frieden, der es war. Und ich spüre die Tränen in meinen Augenwinkeln und muss mich bemühen mich zusammen zu reißen. Ja das Ganze nennt sich Selbsterfahrung, aber Selbsterfahrung unter Kollegen halt, da soll man manche Dinge für sich behalten.

Später rede ich noch mit unserer Funktionsoberärztin.
Es geht um den Facharzt. Und um diese neue Regelung, dass der Chef uns einer Prüfung unterziehen will, was ich mal hochgradig kritisch sehe. „Also Mandy, das schockt mich gerade“, sagt sie dazu. Sie möchte sich für mich mal erkundigen, wie die Rechtslage da eigentlich ist. Was der Chefarzt darf und was er nicht darf. Das könnte zumindest die Auseinandersetzungen einfacher machen.
Ich befürchte langsam, ich werde da am Ende nur verbrannte Erde zurück lassen. Kennen wir ja irgendwie. „Die Neuro ist mein Wohnzimmer“, habe ich vor langer Zeit mal geschrieben. War sie auch. Solange ich alles gemacht habe, das die wollten. Ich hatte eigentlich nicht vor, mich so mit denen anzulegen auf den letzten Metern. Und gleichzeitig kann ich da nicht mehr länger als maximal ein Jahr bleiben. Es geht nicht mehr. Ich glaube nicht, dass ich diese Motivation aufbringen kann. Allein der Gedanke wieder einen Fuß als Mitarbeiterin dorthin setzen zu müssen, löst unglaublich viel Widerstand aus.

Samstag.
Ich habe extra den Dienst von heute weg getauscht. Ich hasse Diensttausche und ich glaube, das ist das zweite oder dritte Mal in meinem Leben, das ich so etwas mache. Aber es hatte gleich zwei gute Gründe gegeben.
Am Morgen gehe ich erstmal zum Neuro – Symposium. Ob das jetzt viel für den Facharzt bringt möchte ich mal arg anzweifeln, aber es geht wahrscheinlich auch eher um Anwesenheit. „Jetzt wollen alle Facharzt machen oder auf irgendwelche Fortbildungen am Ende von Deutschland gehen und kommen nicht mal zu den Fortbildungen im Haus“, beschwert sich der Chef. Abgesehen von zwei ehemaligen Kollegen, einer Fachärztin und mir ist nämlich niemand der Assistenten da.
Mehr als das passiert arbeitstechnisch an diesem Wochenende leider nicht – ich hatte gehofft, ich schaffe ein bisschen mehr. Irgendwie muss ich mich echt wieder mehr anstrengen ab nächster Woche.

Am Nachmittag räume ich noch die Bude ein wenig auf und dann warte ich auf den Kardiochirurgen. Der wollte heute seiner Familie einen Besuch abstatten. Ich hatte das ja schon irgendwie geahnt, dass er vielleicht auf Geburtstagsbesuch gehen möchte  - deshalb hatte ich ihn extra gefragt, bevor ich den Diensttausch gemacht habe. Da kam als Antwort jetzt nicht unbedingt „Ich möchte morgens im OP sein und nachmittags meine Familie sehen und komme dann heim, wenn es dunkel wird.“ Absprachen sind einfach echt so ein Ding mit uns. Ich bemühe mich einigermaßen ruhig zu bleiben; immerhin ist es sein Geburtstagsbesuch, das muss ich respektieren. Obwohl es auch darum eigentlich nicht geht, aber ich hätte es eben gern gewusst vor dem Diensttausch. Immerhin habe ich meine Dienste durch die Gegend geschoben und nicht er. Und dann versuche ich mir zu sagen, dass es sich allein für die Fortbildung und die Facharztpläne gelohnt hat und damit geht es dann.

Am Abend frage ich ihn, ob er auf den Mai – Dienstplan geschaut hat. Er war ja in der Klinik. Hat er nicht. „Ich habe viele Termine im Mai, geh mal nicht unbedingt davon aus, dass das etwas wird“, sagt er zum Thema frei zum Geburtstag. „Eigentlich wäre ein Großteil meines Geburtstagswunsches einfach, dass wir den Tag zusammen verbringen können“, erkläre ich. „Ich weiß nicht, ob ich das süß oder kitschig finden soll“, sagt er. „Hast Du gesagt, dass Du an diesem Tag frei haben möchtest?“, frage ich. „Nein“, entgegnet er.
Ich liege eine Weile still auf dem Sofa. Es ist schon schlimm genug für mich, dass er nicht mit auf das Konzert kommt. Dass ich ihm nicht meine Geburtsstadt zeigen darf. Das würde ich so gern machen. Und ich das jetzt alternativ mit einer Kollegin tun werde. Wir haben allerdings immer noch kein Hotel und das wird uns langsam ein halbes Vermögen kosten. „ich habe keine Kraft mehr für Beziehungskrisen“, geht mir durch den Kopf. Und das würde eine werden. Zumindest in meinem Innen. Und wenn sie dort wäre, müsste sie eigentlich auch raus. Weil das auch eine Aussage ist. Weil das wieder allen anderen Dingen Priorität einräumt und ich komme ganz zum Schluss. Ich frage mich still, ob das nicht wieder meine Überinterpretation ist, aber ich finde doch, Geburtstag hat man ein Mal im Jahr und wenn es zufällig an einem Wochenende ist, kann man es wohl doch so einrichten, dass man den Geburtstag mit dem wichtigsten Menschen verbringen kann.

Es ist zu spät zum Kochen und ich bin auch super schöpft, also bestellen wir einfach etwas zu essen, setzen uns damit ins Bett, schauen einen Film und kuscheln uns danach aneinander. Es ist etwas besser geworden seitdem Urlaub mit Nähe. Glaube ich zumindest. Tatsächlich sind das so mit die wärmsten Momente. Einfach nur den anderen fühlen. Und deshalb liebe ich auch diese Abende so. Einfach seine Hand irgendwo auf meinem Körper zu spüren wenn ich einschlafe, ist so ziemlich die höchste Form von Frieden.
Dafür hat sich das Dienst verschieben dann doch gelohnt. Wir hätten sonst keine Nacht zusammen verbringen können. 

Noch ein Bildchen aus dem Urlaub...

Sonntag.
Nachdem ich seit halb sieben wach war, bin ich zu absolut nichts zu gebrauchen.
Deshalb steckt der Kardiochirurg mich nach dem Frühstück auch wieder ins Bett. Ich glaube, das ist noch nie vorgekommen. Mir tut weiterhin ungefähr alles weh. Das fühlt sich an, wie ein Ganzkörpermuskelkater zusätzlich zu Schmerzen in beiden Handgelenken. Im Bett liegen und Dunkelheit in der Wohnung geht dann aber schon einigermaßen.
Am Nachmittag gehen wir noch eine kurze Runde spazieren, aber es ist schon sehr kalt, deshalb hält es uns nicht ganz so lange draußen.

Ich denk viel nach.
Der Urlaub hat auch nochmal viel ausgelöst. Der verstorbene Freund hat nicht nur sich selbst mitgenommen. Sondern so viel mehr. Mir fehlen einfach Jahre. Mir fehlen die Sommer, als endlich alles gut werden sollte. Das kommt tatsächlich erst nach und nach in mein Bewusstsein. Und ich einen Monat vorher, nachdem wir Jahre drauf hingearbeitet haben, alles verloren habe.
Morgen hat er Geburtstag. Macht das jetzt auch nicht alles unbedingt einfacher. Ich frag mich, was er zu dem Leben sagen würde, das ich heute führe. Ich  glaube irgendwie nicht, dass er einverstanden wäre.

Ich denk viel über den Kardiochirurgen nach. Darüber, wie streng ich mit ihm bin.
Und darüber, dass ich gar nicht genau weiß, woher das so kommt.
Es fühlt sich nicht sicher an mit uns. Ich hab darüber kürzlich schon mal an anderer Stelle gesprochen und wir haben heraus gearbeitet, dass es wahrscheinlich ein bisschen der Unverbindlichkeit geschuldet ist. Es gibt irgendwie noch nichts, das uns so richtig verbindet. Wir könnten die Verbindung morgen auflösen und dann wäre es, als wäre nichts geschehen. Unser beider Umfeld weiß wenig davon, wir tauchen nirgendwo zusammen auf und ich habe immer den Eindruck er mag das auch nicht, wenn ich es irgendwo erzähle. Letztens wurde ich gefragt, mit wem ich im Urlaub war und da ist es mir auch kurzzeitig schwer gefallen zu sagen „mit meinem Freund“. „Ach Mondkind, Du hast einen Freund? Ich hätte ja nicht für möglich gehalten, dass das nochmal passiert“, war die Reaktion. „Ja und ich hoffe, ich muss Dir nicht in ein paar Monaten wieder etwas anderes erzählen“, dachte ich. Und manchmal glaube ich, solange wie es nicht im Alltag verwoben ist, fühlt es sich auch irgendwie nicht so an.


Und gleichzeitig ist es auch immer noch so ein „ich kann mich da vielleicht noch nicht ganz rein fallen lassen.“ Da ist zu viel Angst, wieder verlassen und verletzt zu werden. Da ist zu viel Angst, dass ihm etwas passieren könnte. Dass er den halben Mai Fallschirm springt, macht mein Leben nicht unbedingt einfacher. Da ist immer noch die Frage, ob ich denn überhaupt nochmal glücklich mit Jemandem werden darf, wenn ich auf den verstorbenen Freund nicht aufpassen konnte. Habe ich ein Recht auf dieses neue Leben? Darf ich einen anderen Mann fühlen?  Darf man eigentlich wütend auf Tote sein? Ich bin es irgendwie im Moment oft.

Langsam ist der Druck in mir so hoch, dass es gefühlt explodiert. Auch der Kardiochirurg bekommt davon mehr mit, als er sollte. Ich hasse das mittlerweile, wenn mich Menschen weinen sehen.
Ich habe alle Rahmen hier ausgenutzt, so weit ich konnte und es hat wenig entlastet. Das Arbeitsthema habe ich jetzt bei der Funktionsoberärztin geöffnet und sie hilft mir soweit sie kann – aber die emotionale Ebene dahinter bleibt natürlich im Dunklen. Beim Psychologen in unserer Sektion bin ich über den Wechsel des Chefarztbereiches auf den Thema Heimatlosigkeit gekommen und natürlich hat er zwei Minuten gebraucht um zu begreifen, dass da einiges dahinter steckt. Aber Raum gibt es auch dort natürlich nicht dafür.
Ich spüre mich kaum noch und die Menschen um mich herum auch nicht mehr. Und die Welt auch kaum noch. Festes in den Arm nehmen hilft dann manchmal. Dass Jemand die Grenzen des Körpers für mich spürbar macht und sie damit auch in ein „ich selbst“ und „die Welt um mich herum“ teilt.

Und mein Dasein in der Psychosomatik – das hat glaube ich auch viel mit Mut zu tun. Endlich mal nach 12 Jahren – oder vielleicht auch zum ersten Mal im Leben überhaupt – das zu tun, das ich für richtig halte. Mich nicht beirren zu lassen, weil alle meinen in der Psychosomatik würde man eh nicht arbeiten. Und naja… -nicht wieder baden zu gehen. Mein erstes eigenes Projekt – so habe ich immer gesagt – war hierher zu kommen und mit dem verstorbenen Freund zusammen zu ziehen. Und ich glaube ja nicht so richtig ans Universum oder so, aber… naja… vielleicht möchte das Universum nicht, dass ich ein Stück weit ich selbst werde. Habe ich mir oft gedacht. Was ziemlicher Bullshit ist, vermute ich. Aber trotzdem irgendwie da. Als müsste ein „ich selbst sein“ Zerstörung und Chaos auslösen.

Ich versuche es irgendwie. Tag für Tag. Ein Fuß vor den anderen – auch, wenn sich die Tage aktuell mit so viel körperlicher und psychischer Erschöpfung kaum noch machbar anfühlen. Aber das ist wichtig. Einfach machen. Nicht stehen bleiben. Und nicht zu viel zurück schauen, wenn es geht.
Und irgendwie würde ich mir schon wünschen, dass aus diesen ganzen Unsicherheiten irgendwann Sicherheiten werden. Dass ich irgendwann sagen kann: Okay, das war arbeitstechnisch und beziehungstechnisch auf einer emotionalen Ebene gesehen echt ein schweres Jahr – wo ich mir doch eigentlich sehr einen guten Sommer gewünscht habe. Aber wir haben es geschafft und es wird gut.

Mondkind

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