Der Weg in die Neuro
Eine Frage, die Mondkind hier beinahe täglich gestellt wird
ist: „In welche Fachrichtung möchtest Du eigentlich später mal gehen?“
„In die Neuro“, antwortet Mondkind dann immer.
„In die Neuro…?“ fragen die meisten dann ungläubig. „Das mit
den ganzen Nerven ist doch so anspruchsvoll.“
Sie kann sich erinnern – als sie angefangen hat zu studieren
– hat sie sich auch oft gesagt: Ich weiß nicht, wo ich hin möchte, aber ich
weiß definitiv, wo ich nicht hin möchte. Und da war die Neuro dabei.
Seit dem fünften Semester war sie in Richtung Kardio
unterwegs.
Sie fand die Kardio nicht ganz uninteressant und hatte sich
außerdem eine Doktorarbeit auf dem Fachgebiet organisiert.
Und was die Forschung anbelangt, ist das Herz wirklich sehr
interessant.
In einer Famulatur wurde ihr von einer Ärztin mitgeteilt:
„Wenn Du wirklich etwas lernen willst, musst Du am kardiovaskulären Praktikum
teilnehmen.“ Das ist ein Angebot eines Krankenhauses, das ihren Studenten im
Rahmen der Famulatur unglaublich viel bietet. Morgens sind die Studenten in
Kleingruppen rund sieben Stunden auf Station gewesen und nachmittags hatten gab
es immer irgendwelche Seminare oder praktische Übungen. Es war anstrengend,
aber sehr – wirklich sehr – lehrreich.
Der Rotationsplan sah die Kardiologie, Kardiochirurgie,
Anästhesie, Gefäßchirurgie, Rehabilitation und die bildgebende Diagnostik vor.
Und da die ganzen Praktikanten nicht in Kleingruppen untergebracht werden
konnten, wurde jeweils eine Kleingruppe auf die Neuro geschickt.
Mondkind hatte in den Wochen davor das Fach in der Uni
gehabt und irgendwie war es spannend gewesen. Sie hatte sich ein Lehrbuch
gekauft, das sie jeden Morgen und Nachmittag im Zug gelesen hat und das Meiste
daraus musste sie dann gar nicht mehr lernen. Es war so spannend gewesen, dass
das Wissen leicht in ihr Gehirn gerutscht war.
Und dann war Mondkind dran auf die Neuro zu gehen und sehr
gespannt, wie es ihr gefallen würde.
Natürlich sind solche Famulaturen auch immer von den betreuenden
Ärzten abhängig. Wenn man behandelt wird wie der letzte Trottel, weil man in
der Hierarchie ganz unten steht, wird das nicht gerade dazu beitragen, dass man
sich für das Fach entscheidet. (Genau das hatte Mondkind in ihrer ersten
Famulatur in der Anästhesie erlebt. Da hieß es nach kaum zwei Minuten: „Rennen
Sie mir nicht hinterher, sondern beschäftigen Sie sich anders…“ Vielleicht wäre
in Mondkind sonst eine Anästhesistin verloren gegangen, wobei es Mondkind da
weniger um die Narkosen, sondern mehr um Intensivstation und Rettungsmedizin
ging. Gerade im Rettungsdienst kann man unglaublich viele Leben retten – das
hat Mondkind wirklich fasziniert)
Mondkinds Gruppe wurde in der Neuro super betreut. Einen Tag
ging es in aller Ausführlichkeit darum, wie man eine komplette neurologische
Diagnostik erhebt, einen anderen Tag ging es um die Sonografie der Halsgefäße.
Der Oberarzt blieb solange, bis jeder aus der Kleingruppe das einigermaßen
konnte. Und einen Tag war sie auf der Schlaganfallstation. Sie hatte ein wenig
Angst davor, was sie dort wohl zu sehen bekommen würde. Insgesamt ist das aber
gar keine so schreckliche Station. Natürlich gibt es die ganz dramatischen
Fälle in denen junge Leute komplett aus dem Leben gerissen werden und große
Einschränkungen davon tragen, aber es gibt auch viele, die sich flott wieder
erholen. Die am Tag der Aufnahme regungslos im Bett lagen und einen Tag später
morgens anlächeln, einen guten Morgen wünschen und es sogar irgendwie fertig
bringen zu frühstücken – auch wenn es meist noch ein wenig wackelig ausschaut.
Auf der Neuro war Mondkind in der letzten Woche des
Praktikums. Am Donnerstag war der Abschlussabend gewesen, an dem alle
Famulanten in ein Restaurant in der Stadt eingeladen wurden. Auch von den
Ärzten waren viele da und es wurde eine recht lange Nacht.
Kurz bevor die Veranstaltung weit nach Mitternacht aufgelöst
wurde, wurden die Studenten von den Ärzten für den nächsten Tag freigestellt.
Mondkind war an diesem Morgen schon sehr früh wach, obwohl
sie keinen Wecker gestellt hatte. Und ehe sie sich langweilt, dachte sie, dass
sie einfach ihren Kittel überstreift und rüber zur Neuro läuft. Nach vielen
Famulaturen, in denen Mondkind sich nie wohl gefühlt hatte und danach meist
konsequent ihr Studium in Frage gestellt hatte, war das der erste Morgen, an
dem sie freiwillig in Arbeitskleidung im Krankenhaus erschien.
Es war nicht nur so, dass die Ärzte sich sehr wunderten,
Mondkind aber ganz lieb aufnahmen und ihr an dem Tag besonders viel erklärten,
weil sie eben alleine war. Es war auch der Moment in dem Mondkind klar geworden
ist: Hey, das ist es. Das ist das, was
ich später mal machen möchte.
Und dabei kann Mondkind immer gar nicht genau erklären,
woher die Begeisterung kommt. Sie findet es faszinierend, mit wie wenig Technik
man die Menschen untersuchen kann und trotzdem auf recht genaue Diagnosen
kommt.
Es gibt auch sehr spannende Krankheitsbilder zu betreuen.
Sogar die Stroke unit ist wirklich manchmal sehr faszinierend, obwohl der
Umgang mit den Patienten bezüglich Ursachenabklärung eigentlich immer derselbe
ist.
(Wir hatten da mal einen jungen, sportlichen Mann am
Wochenende in unserer Notaufnahme mit einer isolierten Daumenparese. Wir haben
ihn komplett untersucht – sonst hatte er nichts. Wenn man jetzt weiß, dass der
Daumen von drei Nerven versorgt wird, ist es bei einem sonst völlig gesunden
Arm schon ungewöhnlich, dass gleich alle drei in Mitleidenschaft gezogen sein
sollten. Wir forderten deshalb ein CT vom Kopf und unser Oberarzt fand das doch
sehr amüsant hinter einem so klar abgrenzbaren Ausfall einen Schlaganfall zu
vermuten, genehmigte uns es aber doch mit dem Zusatz, dass er uns einen Kaffee
ausgibt, wenn wir etwas finden. Und siehe da: Ein winzig kleiner Einschlag in
dem Bereich im Gehirns, der für die Motorik des Daumens zuständig ist. Das war
schon richtig faszinierend)
Mondkind wird sich nur damit anfreunden müssen, dass man die
Menschen oft nicht mehr so richtig gesund bekommt. Von Schlaganfällen bleiben
oft Schäden zurück, Parkinson und Multiple Sklerose sind gar nicht heilbar –
man kann eben nur versuchen, den Krankheitsverlauf so weit wie möglich zu
verzögern und die Lebensqualität zu erhöhen. Ganz zu Schweigen von ALS, da ist
das alles noch viel schlimmer und das einem Patienten sagen zu müssen, ist
schon wirklich bitter.
Es war der letzte Tag auf der Neuro und Mondkind ist immer
so ein Hasenfuß. Den ganzen Tag hat sie sich gefragt, ob sie wohl den Oberarzt
fragen sollte, ob sie für eine vollständige Famulatur in der Neuro nochmal
wieder kommen dürfe. Immerhin sind Famulanten auch immer Aufwand – zumindest dann, wenn man sich Mühe
gibt in der Betreuung.
Und kurz bevor sich ihre Wege getrennt haben, hat Mondkind
die Frage doch noch über die Lippen bekommen. Postwendend schnappte sich der Oberarzt
einen Zettel und schrieb direkt seine Durchwahl drauf. Mondkind müsse ihn nur
anrufen, er würde alles regeln – auch dass sie für die Zeit eine Unterkunft
bekommen würde.
Es war nur wenige Wochen später, als Mondkind an ihrer
Universität im Labor stand, den Zettel in der Hand hielt und die Nummer in ihr
Handy tippte. Sie fragte sich, ob der Oberarzt wohl noch wisse wer sich ist,
bei dem ganzen Famulantendurchlauf, der im Rahmen dieses Praktikums entstanden
ist. Sie musste aber nur ihren Namen sagen und schon hatte er sie auf dem
Schirm.
Deshalb reiste Mondkind in den nächsten Semesterferien
wieder quer durch Deutschland, um dort ihre Famulatur in der Neuro machen zu können.
Im Moment überlegt Mondkind ihre Doktorarbeit hier
abzubrechen, da die Betreuung wirklich schlecht ist und sich trotz der
Tatsache, dass Mondkind den Verantwortlichen wöchtenlich auf den Füßen herum
trampelt, nichts passiert. In so einer Arbeit ist man nun mal abhängig von
Dritten – es wäre Mondkind viel lieber, wenn sie selbstständig durchs Labor
turnen könnte, wie es ihr gefällt.
Sie steht schon wieder im Kontakt mit dem Oberarzt und in
den nächsten Tagen wird er ihr ein paar Themen schicken, die gerade zur Auswahl
stehen.
Wenn Mondkind eines davon anspricht, wird sie in den
nächsten Semesterferien vielleicht ein drittes Mal dorthin fahren, um mit der
Dissertation zu beginnen. Voraussetzung ist natürlich, dass sie mit ihrem
psychischen Zustand keine Rückfall in der Form erleidet, dass sie wieder nicht
mehr fähig für den Alltag ist.
Alles Liebe
Mondkind
Kommentare
Kommentar veröffentlichen