Ein Notfall und ein bisschen Seelsorge...


Wieder ein Tag vorbei. Und was für einer. Bis kurz vor 16 Uhr war eigentlich alles ganz okay. Ich hatte die ganze Zeit zu tun und da ich auf der Palli noch einen Patienten aufnehmen sollte war es klar, dass ich nicht pünktlich gehen würde, aber es war immerhin nicht ganz so stressig.

Bevor alle Ärzte in den Feierabend gehen, streife ich nochmal durch meine mittlerweile drei Zimmer. Einen meiner Patienten hatte ich bis dahin kaum gesehen. Ständig war er bei irgendwelchen Untersuchungen. Sein Sohn sitzt an seinem Bett und fragt mich nach den Untersuchungsergebnissen und der weiteren Planung. Der Patient schaut ein wenig luftnötig aus. „Ist Ihr Vater irgendwie anders als sonst?“, frage ich ihn. „Nein“, entgegnet der. Ich erkläre, dass wir den Patienten vielleicht Donnerstag nach Hause lassen können, wenn der Blutdruck gut eingestellt ist, der Kontroll – Ultraschall unauffällig ist und die Laborparameter passen. Der Sohn verabschiedet sich und ich gehe weiter.
Und irgendwie bleibt der Patient in meinem Kopf. Irgendetwas gefällt mir nicht an ihm. Ich kenne ihn zwar kaum, aber dennoch. Auf dem Rückweg gehe ich nochmals im Zimmer vorbei. Er habe ein wenig Druck auf der Brust, aber das sei schon lange so und nichts Neues. Ich werfe einen Blick auf das Aufnahme – EKG vor ein paar Tagen, das völlig unauffällig war.
Gerade noch rechtzeitig (eben kurz vor 16 Uhr) erreiche ich meine Oberärztin. „Mach morgen früh ein EKG“, sagt sie. Ich schreibe es in die Kurve, aber es passt mir nicht. Ich würde nachher nicht beruhigt gehen. „Wir machen jetzt ein EKG“, sage ich zu den Schwestern.
Mittlerweile wirkt der Patient noch ein wenig luftnötiger und über der Lunge höre ich ein abgeschwächtes Atemgeräusch. Das EKG zeigt sich allerdings unauffällig. Ein Herzinfarkt hätte mir jetzt gerade noch gefehlt.
Ich schlage vor die Sättigung zu messen und die liegt ohne Sauerstoff bei 80 %. „Okay, jetzt das volle Programm bitte“, sage ich. „Sauerstoff dran, ich nehme Blut ab, jemand kümmert sich bitte noch um eine BGA und wir melden ihn für ein Röntgen an.“ „Alles jetzt?“, fragt die Schwester. „Ja jetzt“, sage ich. Danach rufe ich die Oberärztin an, die zwar schon umgezogen ist, aber nochmal kommt.
Die Blutparameter zeigen erhöhte Entzündungswerte und das Röntgen ist eine absolute Katastrophe. Ob es nun ein großflächiges Infiltrat ist, ob da noch etwas Atelektase oder gar ein Pneumothorax dabei ist… - ich weiß es nicht genau. Trotz Röntgenkurs. Und gerechnet hätte ich nicht damit, dass es so schnell geht. Der Patient hat heute eine Untersuchung bekommen für die er viel Kontrastmittel trinken musste. Das ist ihm nicht gut bekommen und er hat sich übergeben und dabei wahrscheinlich aspiriert. Und tadaa – hat man bei einem 91 – Jährigen wohl eine Pneumonie.
Der Zustand des Patienten verschlechtert sich rasend schnell weiterhin und im Endeffekt kommt sogar der Chef noch dazu und entscheidet, den Patienten auf die Intensivstation zu nehmen.

Ich stehe nachdem alles organisiert ist, nur noch wie gelähmt in der Ecke am Rand eines Nervenzusammenbruchs. Habe ich das zu spät gesehen? Hätte ich den Patienten nach dem Erbrechen mit einiger Latenzzeit auf Verdacht röntgen müssen? Hätte ich ihm vielleicht sogar prophylaktisch eine Antibiose geben müssen? Würde es ihm jetzt besser gehen, wenn er nicht bei mir liegen würde, weil ich wieder alles verpennt habe?
Eine Schwester kommt zu mir. „Mondkind, Du hast das alles losgetreten, weil Du gesagt hast, dass Du findest, dass der Patient schlecht aussieht, obwohl die Oberärztin sagte, dass es morgen reicht. Du hast es doch richtig gemacht. Stell Dir vor, Du hättest einfach nichts gemacht…“
Aber trösten kann mich das jetzt auch nicht und der Spätdienst bei uns Ärzten ist auch ziemlich schlecht auf mich zu sprechen, weil es jetzt eben in seinen Spätdienst fällt. „Ich kann nicht glauben, dass so etwas immer kurz nach 16 Uhr passieren soll…“

Bild vom Wochenende. Mal ein bisschen über das Wasser schauen. Und viel denken...


Es ist schon spät, als ich endlich hoch auf die Palliativstation komme, um die Aufnahme zu machen, um die man mich auch noch gebeten hatte und zu der ich bisher noch nicht gekommen war.
Der Patient hat auch schon eine Odyssee hinter sich. Ursprünglich sollte er auf die Innere aufgenommen werden, aber dann war auf der Palli doch ein Platz frei. Allerdings sind die Unterlagen, die auf der Palli ausgefüllt werden müssen, andere. Ich habe das auch noch nie gemacht. Ich sortiere alles im Arztzimmer und schaue, was ich vom Kollegen übernehmen kann. Das wirkt immer etwas unprofessionell, wenn der nächste Arzt überhaupt keine Ahnung davon hat, was gesagt und gemacht wurde und eine mündliche Übergabe hatte ich nicht.
Und ehrlich gesagt ist meine Konzentration so im Eimer, dass ich mit dem ganzen Zettelkram ein wenig überfordert bin.
Plötzlich steckt der Seelsorger den Kopf zur Tür herein. „Ach Mondkind, bist Du jetzt wieder bei uns?“, fragt er. „Ich bin da, wo es gerade brennt“, gebe ich zurück.
„Wie geht es Dir denn mittlerweile ?“, fragt er und zieht sich einen Stuhl heran. „Du siehst müde aus…“ „Ich bin auch müde“, entgegne ich, „in letzter Zeit habe ich das Gefühl, ich könnte nur noch schlafen und wäre immer noch nicht wach.“ „Seit wann geht das denn so?“, fragt er. „Naja, seit ein paar Wochen“, gebe ich zurück und widme mich wieder meinen Unterlagen.
„Und was hat sich seitdem verändert?“, fragt er weiter. „Ich habe einfach viel zu tun“, entgegne ich. „Erstmal hänge ich hier fast jeden Tag zu lange im Krankenhaus. Ich mache das ja auch gerne und möchte viel lernen. Und es ist ja nicht nur allein die Zeit. Ich habe so oft Angst, dass mir die Patienten unter den Händen wegsterben, oder ich Fehler mache. Dann habe ich noch eine Doktorarbeit, aber die liegt in meiner Studienstadt. Also fahre ich alle paar Wochen dorthin, um da auch voran zu kommen. Und an jedem freien Wochenende ist meine Schwester hier.“ „Warum ist Ihre Schwester so oft hier?“, fragt er. „Naja… - ist ne familiäre Sache“, murmle ich vor mich hin.
Mondkind… - was machst Du da eigentlich, frage ich mich selbst. Er hat mich ein Mal angestupst und in mir brodelt es, wie in einem Vulkan.
„Da haben Sie aber auch viele Belastungsfaktoren. Allein der Jobeinstieg ist ja schon genug (wo habe ich das schonmal gehört… ?). Sie müssen ein wenig auf sich aufpassen. Sonst landen Sie ganz schnell auf der anderen Seite…“
Stille. Wir sehen uns an. Und noch während ich mich ermahne, entgegne ich: „Da war ich schon. Und es wäre ungünstig, wenn es noch mal passiert.“ „Ist das abgeschlossen, oder sind Sie noch in Behandlung?“, fragt er. „Nein, eigentlich ist das nicht abgeschlossen. Aber meine Ärzte und Therapeuten sitzen in der Studienstadt.“
Und irgendwie. Ich kann nicht so genau erklären, was da gerade mit mir passiert. Vielleicht ist es, weil er die ganze Story noch nicht kennt. Weil er irgendwie so eine einfühlsame Art hat, zu fragen. Vielleicht, weil ich es seit Wochen mit mir herum trage und mir auch noch etwas von „Luxusproblemen“ anhören darf. Und in der letzten Therapiestunde die ganze Sache völlig untertrieben dargestellt habe, weil ich wusste, dass die Therapeutin in den Urlaub geht und ich auf keinen Fall wollte, dass sie sich Gedanken macht. Und weil ich heute sowieso schon wegen meines Patienten weit jenseits meiner Grenzen bin.
Ich rede eine Weile. Nicht über die Suizidalität, aber darüber, dass das ein Problem ist, dass man hier keine vernünftige psychiatrische Versorgung hat. Darüber, dass ich das hier alles so sehr wollte und Angst habe, dass ich in der Neuro irgendwann scheitere. Weil dieser Plan schon seit über zwei Jahren existiert und ich es mir nicht verzeihen könnte, wenn ich alleine mir ihn verbaue. Ich berichte vom fehlenden Aufwind. Davon, dass es immer ein paar Tage besser wird und ich glaube, es geschafft zu haben und es dann wieder einbricht. Ich erkläre, dass es nicht so einfach ist, mit einer magersüchtigen Schwester. Bei mir isst sie einigermaßen und ich versuche immer etwas mit ihr zu kochen, aber das ist ein Tropfen auf den heißen Stein, wenn sie nicht will und doch jede Woche etwas schmaler hier ankommt. Ich versuche stark für sie zu sein, obwohl ich eigentlich selbst dringend eine Pause brauche.
Und dann gibt es da ja auch noch Freunde, die man auch nicht aufgeben will, aber denen man nicht gerecht wird und mir das mittlerweile teils auch recht aggressiv vorgeworfen wird.
„Sie brauchen eine Pause, ja…“, sagt er. „Und es hilft Ihnen jetzt wahrscheinlich nicht, wenn ich sage, dass Ihre Freunde dann halt warten müssen und Ihre Schwester mal nicht kommen darf, weil Sie sich da verantwortlich fühlen…“
„Ja…“, entgegne ich, „in der Theorie weiß ich, was zu tun ist. Die Umsetzung ist nur… schwer. Das ist mir bis jetzt noch nicht gelungen.“
Wir sitzen eine Weile nebeneinander und ich merke, dass ich ein wenig zittere. „Es tut mir leid, ich hätte das alles gar nicht erzählen sollen“, sage ich irgendwann. Er sagt, dass es okay ist, weil manchmal einfach nur einige Dinge gesagt werden müssen und ich da doch schon ein bisschen Last auf meinen Schultern schleppe. „Das denkt man nicht, wenn man Sie so sieht. Heute sehen Sie sehr müde aus, aber sonst…“ „Ich weiß…“, entgegne ich. „Fluch und Segen gleichzeitig…“
Mittlerweile wuseln schon wieder zwei Schwestern durchs Zimmer. „Ich glaube so zwischen Tür und Angeln ist das nicht die richtige Atmosphäre, um das zu lösen. Aber wenn Sie mal jemanden brauchen, können Sie mich anrufen“, sagt er.
Zwar ist mir irgendwann später eingefallen, dass ich die Telefonnummer von ihm gar nicht habe, aber die lässt sich sicherlich ermitteln. Ich weiß es nicht. Im Moment bezweifle ich, dass ich das tun werde. Ich bin nicht mehr lang im Krankenhaus und irgendwie möchte ich jetzt privat und beruflich nicht nochmal vermischen. Aber falls es wirklich überhaupt nicht mehr geht, ist das vielleicht eine bessere Alternative, als irgendein Krisendienst – es sei denn es ist Nacht.

Alles Liebe von einer sehr, sehr müden Mondkind

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