Palliativstation


Es ist nicht das erste Mal, dass ich eine Palliativstation betrete. Allerdings das erste Mal im Kreiskrankenhaus.
Die Treppen führen mich ins dritte Stockwerk. Da die Palliativstation in Nachhinein auf das Haus gesetzt wurde, kommt man nur über die Treppen hier hoch, sofern man nicht im Bettenaufzug fahren möchte.

Parket. Ein breiter, heller Flur. Bilder an den Wänden, Pflanzen in den Ecken. Ockerfarbene Wände. In der Mitte des Flures steht ein Tisch mit einer gelben Tisckdecke. Darauf ein Kaffeeautomat und daneben ein paar Tassen.

Gleich am Beginn des Flures auf der rechten Seite ist das „Wohnzimmer“. Ein runder Tisch mit vielen Stühlen. Ein Ort für Gespräche oder zum gemeinsamen Frühstück. In einer anderen Ecke ein Sofa mit vielen Kissen. Und ein großer Fernseher.
Eine Tür führt hinaus auf die Dachterrasse. Auch hier laden Holzmöbel inmitten von blühenden Pflanzen zum Verweilen ein.

Sieben Patienten haben auf der Station Platz. Jeder hat selbstverständlich ein Zimmer für sich und auch hier wirkt das Bett in dieser „Wohnzimmer – Atmosphäre“ beinahe fehl am Platz.

Ich lerne die ersten Patienten kennen. Den ein oder anderen kenne ich noch von der Station. Zuerst wurden sie unten behandelt, aber als man erkannte, dass es keinen Sinn mehr hat, verlegte man die Patienten hoch.

Eine über 90 – jährige Patientin, die die Dialyse mittlerweile abgelehnt hat. Und die an den Folgen der Urämie sterben wird. „Sie wird jetzt einfach immer müder und irgendwann schläft sie dann ein“, erklärt die Ärztin den Angehörigen, mit denen wir im Kreis sitzen und die nicht verstehen, dass sie jetzt tatenlos daneben sitzen müssen.

Ein älterer Herr mit metastasiertem Nierenzellkarzinom. Er ist immer wieder hier gewesen mit Luftnot. „Ich glaube, diesmal werde ich die Station nicht mehr verlassen“, sagt er und stützt seine Arme auf der Stuhllehne vor ihm ab, um die Atemhilfsmuskulatur zu entlasten.
„Oberstes Gebot: Glaube immer dem Patienten“, klärt mich die Ärztin vor dem Zimmer auf. „Die Patienten spüren das. Wenn sie das so sagen, dann stimmt es in den meisten Fällen.“

Ein Zimmer weiter eine Patientin, die noch nicht mal fünfzig Jahre alt ist. Dass sie ihre Erkrankung bis hierher überlebt hat, grenzt an ein Wunder. Normalerweise leben die Patienten nach der Erstdiagnose kein halbes Jahr. Auch sie war immer wieder hier.
„Wie geht es Ihnen?“, fragt die Ärztin. „Es geht…“, entgegnet sie mit Tränen in den Augen.
Die Tochter sitzt neben der Patientin auf dem Bett, der Sohn auf einem Stuhl ein Stück entfernt. Der Ehemann im Sessel. Beinahe rund um die Uhr ist die Familie da und die Tochter – sie kann kaum älter sein als ich – ist sichtlich mitgenommen, aber stark.
„Papa wir haben gesagt wir sind bis zum Ende für die Mama da und dann müssen wir das jetzt auch machen. Wir haben es ihr versprochen.“

Es geht viel ums Sterben. „Ich habe keine Angst vor dem Tod. Das ist okay. Wenn mir jemand sagt, dass ich heute um 14 Uhr sterbe, ist das okay. Ich habe nur Angst davor, wie es passiert“, erklärt uns der Patient mit dem Nierenzellkarzinom.

Am Nachmittag ist die Übergabe. Die Ärztin, die Pflege, der Pfarrer und je einer von der Krankengymnastik und vom Sozialdienst sitzen zusammen im Wohnzimmer mit einer Tasse Kaffee und sprechen über die Patienten und deren Angehörigen.

Nach der Übergabe  gehe ich runter ins Büro. Eine Akte liegt auf meinem Tisch von einer meiner Patienten, die am Wochenende in die Neuro verlegt wurde. Den Brief hatte ich schon vorgeschrieben, weil ich sie Freitag hatte entlassen wollen, aber der Kollegin nicht noch zumuten wollte, „meinen“ Brief zu schreiben. Darin steht, dass wir das Antibiotikum oralisierten und die Patientin im gebesserten Zustand nach Hause entließen.
Und der ist jetzt in der Neuro gelandet, weil den keiner an die aktuellen Ereignisse angepasst hat. Die Patientin liegt jetzt auf der Stroke – das heißt, dass mein sehr geschätzter Oberarzt den Brief definitiv in den Händen hatte. Das ist wirklich super peinlich. Ich ändere ihn und faxe den korrigierten Brief hinterher… mal sehen, ob er mich bei unserem nächsten Treffen darauf anspricht.

Ende eines Arbeitstages. Die weißen Klamotten gegen eine blaue Jeans und eine karierte Bluse tauschen. Und mit dem Aufhängen der Krankenhauskleidung in den Spint, schlüpfe auch ich aus meiner Rolle. 



Was hier in den letzten Tagen, schon fast Wochen mit mir passiert… - ich weiß es nicht. Ich habe einfach so gehofft, dass es nicht so kommt. Ich versuche mich immer noch zu zwingen, zumindest jeden zweiten Tag spazieren zu gehen. „Aktive Erholung“ sei wichtig, hat letztens mal jemand gesagt.

Ansonsten überfordert mich alles. Ich hätte eigentlich mal bei der Bank und bei der Krankenkasse anrufen sollen. Und zum Friseur müsste ich eigentlich auch gehen. Und die Wäsche müsste ich mal machen. Und zumindest mal durchsaugen.
Mein Körper gibt auch langsam auf. An manchen Tagen liege ich halb 9 im Bett. Zähne putzen ist furchtbar, weil die Zahnschmerzen zurück sind. Es ist mit Sicherheit der Situation geschuldet – ich glaube nicht, dass beinahe jeder Zahn irgendetwas hat.

Ich ziehe mich immer umso mehr zurück, je schlechter es mir geht. Dann glaube ich stark sein zu müssen und nicht jammern zu dürfen. Weil doch objektiv gesehen alles gut sein müsste. Und was will man den Menschen auch sagen? Wie will man etwas erklären, das man selbst nicht versteht? Und erwartet man dafür dann wirklich Verständnis? Und ich möchte auch nicht, dass irgendwer sich verpflichtet fühlt, zu handeln. „Meine Leute“ sind ja alle hunderte Kilometer weit weg – was nützt es, wenn ich denen am Telefon etwas erzähle?

„Wir sehen uns in drei Wochen wieder“, hatte die Therapeutin am letzten Freitag am Ende der Stunde noch einmal wiederholt und mich eindringlich angesehen. Das war kein Erinner – mich und auch keine Frage. Was sie eigentlich sagen wollte war: „Ich erwarte, dass Sie hier in drei Wochen auf der Matte stehen und sich nicht versucht haben, umzubringen.“ Wir reden mittlerweile nicht mehr darüber. Und ich spreche es auch nicht aktiv an. Und schon gar nicht, wenn es wirklich schlecht läuft.
Auf der einen Seite hat sie mir mal erklärt, dass unbedingt möchte, dass ich Bescheid sage. Auf der anderen Seite habe ich immer das Gefühl, sie damit unter Druck zu setzen. Das soll auf keinen Fall manipulativ wirken und gerade vor ihrem Urlaub, in dem sie jetzt zwei Wochen ist, wäre das einfach nicht fair gewesen.
Also was macht man in solchen Situationen? Jedes Mal eine neue Gradwanderung…

Und jetzt… ? Der Einsatz auf der Palliativstation macht es garantiert nicht besser. Ich bin mir dieser krassen Gegensätze bewusst.
Warten, bis es besser wird. Bis ich überhaupt wieder genug Kraft habe, mal aktiv etwas zu tun nach dem Krankenhaus. Und möglichst arbeitsfähig bleiben. Und die Finger still halten und keine Mails schreiben. Das kann in solchen Situationen immer nur nach hinten los gehen.
Und sich erinnern. Daran, dass es schonmal besser war. In den ersten Wochen hier, als ich wirklich geglaubt habe, dass es alles richtig ist, so wie es gerade ist. Und dass es nichts macht, dass die psychiatrische Versorgung hier wirklich schlecht ist. Es gab Momente, da hätte ich wirklich weinen können vor Glück und Dankbarkeit. Dankbarkeit gegenüber so vielen Menschen, die hier so lieb zu mir sind, aber auch mir selbst gegenüber, dass ich das so lange durchgehalten habe.
Die Zeiten werden wieder kommen – wenn ich durchhalte.

Mondkind



Bildquelle: Pixabay

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