Über die Bewertung von Patienten

Frühbesprechung. Und irgendwie bin ich ja am Ende doch immer da.
Eine neue Patientin. Ein paar Tage jünger, als ich selbst es bin. „Kam in der Nacht gegen 2 Uhr mit einer Alkoholintoxikation. Sie hat eine Schürfwunde am Kinn; die haben die Chirurgen genäht“ ist das, was die Nachtschicht mir übergibt.

Auf der Station erkundige ich mich erstmal nach meiner Patientin von gestern. Sie ist gerade beim Oberarzt in der Sonographie – also kann schonmal nicht mehr so viel verpasst werden.
Während ich das Labor meiner Patienten durchschaue, kommt eine Schwester: „Mondkind, Deine Patientin klagt über Kopfschmerzen und Schwindel und sie ist irgendwie wackelig auf den Beinen…“ Ich strecke meinen Kopf auf den Flur und sehe, dass der Gang wirklich ein wenig breitbeinig und unsicher ist. Nachwirkungen vom Alkohol? Oder Hirnblutung nach dem Sturz?
Ich schnappe mir die Unterlagen und die Patientin und gehe mir ihr in ihr Zimmer. Der Freund sitzt bei ihr und kann mir am Besten Auskunft geben, was da gestern Abend los war. „Wie war das denn mit dem Sturz?“, frage ich. „Hat Sie sich noch irgendwo abgestützt und ist sie wirklich zuerst auf das Kinn gefallen?“ Der Freund erklärt mir, dass sie initial kurz bewusstlos war und er nicht wisse, wie genau sie gestürzt ist.
Plötzlich öffnet sich die Tür und meine Kollegin kommt herein. Die Schwester hatte auch ihr Bescheid gegeben.
„So ein junges Mädchen“, legt sie los. „Und dann trinken die auf irgendwelchen Feiern immer Alkohol und dann landen sie bei uns. Und wir haben dann die Arbeit und müssen uns darum kümmern. Ich verstehe das nicht. Also Mondkind, dann machen wir eben ein CT. Kümmerst Du Dich darum, ja?“
Und damit knallt sie dann die Tür wieder zu.
Betretenes Schweigen im Raum. Ein paar Sekunden Stille. „Okay, ich habe noch den Anforderungsschein für die Radiologen dabei. Die wollen immer noch ein paar wichtige Dinge vor der Untersuchung wissen…“

Einige Stunden später kommt eine Schwester mit dem Stationstelefon zu mir. „Mondkind, ich habe da gerade die gesetzliche Betreuerin von Herrn [Name] am Telefon. Der lag doch bei Dir, oder?“ „Ja“, gebe ich zurück, „aber mir war gar nicht bewusst, dass der eine Betreuung hatte“, raune ich der Schwester zu, während ich Ihr das Telefon abnehme.
„Wohin haben Sie den Patienten denn entlassen?“, fragt mich die Betreuerin. „Nach Hause“, gebe ich zurück. „Nach Hause…“, wiederholt sie. „Aber Sie wissen schon, dass er eine Alkohol- und Drogenvorgeschichte hat…“ „Ja das weiß ich“, gebe ich zurück, „er kam ja auch aus der Klinik, in der er die Entwöhnungstherapie gemacht hat, direkt zu uns. Von dort haben wir aber die Information bekommen, dass die Therapie beendet sei und wir ihn – wenn wir sein akutes Problem behandelt haben – entlassen können. Es hat keiner etwas von einer gesetzlichen Betreuung gesagt…“ „Und jetzt weiß keiner wo er ist“, hält mir die Betreuerin vor. „In seiner Wohnung ist er nicht angekommen – ich weiß nicht mal, ob er das Geld hat, sich eine Fahrkarte zu kaufen…“ Ziemlich genervt beendet sie das Gespräch.

Ich kann mich erinnern, dass der Patient in einer der ersten Wochen, in denen ich auf der Station eingeteilt war, bei mir lag. Ich habe beim Brief schreiben durchaus bemerkt, dass der Wohnort ein Stück weg von hier ist und er wahrscheinlich wegen des Aufenthaltes in der Klinik einen solch weiten Weg auf sich genommen hat. Ich kann mich auch erinnern, dass ich die Kollegin gefragt habe, wie er denn da jetzt hinkommen soll. „Ach Mondkind. Schau ihn Dir doch an. Alkohol- und Drogenvorgeschichte und er spricht ja auch nicht mit uns… Der lässt sich schon etwas einfallen…“ war die Ansage.
Und auch wenn die Kollegin das so gesagt hat – ich hätte mich trotzdem nicht darauf ausruhen dürfen. Ja, er war sehr unangenehm und hat mich unfreundlich gefragt, wo denn der Brief bleibt. Aber ich hätte ihn ja wohl fragen können, wie er jetzt heim kommt.
Da mir der Fall keine Ruhe lässt, gehe ich runter ins Schreibbüro und suche die Akte. Da findet sich nichts. Eine gesetzliche Betreuerin ist im Stammblatt nicht eingetragen, auch in der Pflegekurve ist ein „nein“ angekreuzt und einen Entlassbrief aus der Entzugsklinik haben wir nicht. Die haben uns wahrscheinlich keinen mitgeschickt, weil sie den Patienten bei sich entlassen und nicht verlegt haben, also müssen sie keinen Verlegungsbericht mitgeben. Und der Patient wollte vielleicht aus guten Gründen nicht, dass wir den Brief bekommen.

Aber so generell frage ich mich einfach: Wieso hängt der Umgang mit den Patienten von deren Diagnosen ab? Es ist nicht das erste Mal, dass mir auffällt, dass junge Menschen mit einer Alkoholintoxikation sehr abweisend und unfreundlich behandelt werden, sodass die wahrscheinlich schon das Gefühl haben, sich rechtfertigen und entschuldigen zu müssen. Wenn ein Arzt – dem ich ja als Patient ein gewisses Vertrauen entgegen bringen muss – so mit mir umspringen würde und ich das Gefühl habe, dass der nicht gut auf mich aufpasst; ich würde durchdrehen, wirklich.
Wieso interessiert es uns nicht, wie ein (Ex-)Drogenabhängiger nach Hause kommt, aber für andere Patienten fragen wir danach und kümmern uns im Zweifel darum?
Ich frage mich wirklich, ob man irgendwann einfach so abstumpft. Ob man als junge Medizinerin vielleicht noch meint, die Menschen retten zu können und irgendwann einsehen muss, dass es nicht geht. Es gibt Patienten, die sehen wir quasi alle paar Tage. Menschen, denen wir alle paar Tage das Wasser aus dem Bauch ziehen und die trotzdem weiter trinken. Verwahrloste Menschen, die wir immer am Ende des Monats bei uns sehen, wenn nicht der Husten, sondern das fehlende Geld im Vordergrund steht, aber der Patient irgendeinen Grund vorschieben muss, um in die Notaufnahme zu kommen. „In Deutschland muss keiner hungern“, heißt es. Aber auch in Deutschland fallen Menschen durchs System. Es sollten eigentlich auch alle krankenversichert sein. Und dennoch ist es nicht so.

Jeder Mensch hat eine Geschichte.
Kein Mensch ist gern im Krankenhaus. Niemand sucht sich das aus. Vielleicht erscheint es in manchen Situationen noch die bessere Lösung zu sein, aber wenn man andere Möglichkeiten finden würde – ich bin mir sicher, die Menschen würden sie nutzen.
Kein Mensch möchte abhängig von Drogen oder Alkohol werden. Aber solange wie man den Grund nicht kennt, hat man kein Recht darüber zu urteilen.
Ich habe beim Hausarzt mal einen Patienten kennen gelernt, den ich dann auf dem Heimweg nochmal in der Bahn getroffen habe. Er hat mir sehr viel erzählt und musste es denke ich auch irgendwo loswerden. Ein schwerer Schicksalsschlag. Die Frau und eines seiner Kinder bei einem schweren Unfall verstorben. Da ist die eigene Trauer, die Verantwortung das zweite Kind allein groß zu ziehen, die Trauer des Kindes, das Problem ein ausreichendes finanzielles Polster zu schaffen. Natürlich hat er keinen adäquaten Weg der Problemlösung eingeschlagen und das hatte er auch schon längst erkannt. Ich will das auch gar nicht entschuldigen und das verharmlosen. Aber es passiert einfach. Und in dem Moment in dem wir Ärzte werden, sollte es uns – und bei mir ist das auch so – darum gehen, den Menschen zu helfen. Und zwar unabhängig von deren Diagnosen. Wir haben kein Recht zu urteilen – wir sollten nur helfen. Und vielleicht müssen wir auch nicht alles wissen und alles verstehen von der Geschichte des Patienten – solange wir wissen, dass jeder eine Geschichte hat. 

Kurpark...😊

Ansonsten versuche ich selbst mich auch wieder aufzurappeln. Ich hatte heute dann tatsächlich mal Frau Therapeutin an der Strippe. Weniger als 10 Minuten, aber immerhin. Ihre Aussage zum Telefonieren war: „Naja, wie soll ich denn am Telefon wissen, wie es Ihnen geht?“ Naja… - vielleicht, weil ich einen Mund habe und sprechen kann? Ich meine ganz im Ernst: Gerade bei mir sieht man es meistens wirklich nicht. Und sie bekommt das auch echt nicht mit. Die Fassade fällt zum Einen erst sehr spät, zum Anderen bin ich da in der Therapie – ich glaube unbewusst – nochmal aufmerksamer. „Sie sehen immer so fröhlich aus, wenn Sie hier vor mir sitzen und dann erzählen Sie Dinge, die eigentlich wirklich sehr dramatisch und traurig sind“, hielt mir der Stationsarzt in der Psychiatrie mal vor. Wahrscheinlich, weil ich einfach nicht so weit gekommen wäre, wenn ich das immer vor mir her tragen würde. Das ist schon Automatismus. Wie oft habe ich mir schon gedacht, dass es doch eigentlich mal nicht zu Hause, sondern in der Therapie zusammen klappen kann. Dann wäre das wenigstens „sicher“ und irgendwie „gesteuert“. Aber das wird nicht passieren.
 Wie oft saß ich Anfang des Jahres bei der Therapeutin und habe es einfach nicht geschafft ihr mal zu erklären, was Sache ist. Da gab es ja genug Blogposts drüber, in denen ich mich aufgeregt habe, dass sie einfach so schwer von Begriff ist, nicht eins und ein zusammen zählen kann und nichts versteht, wenn man sie nicht mit der Nase darauf stößt, was mir so schwer gefallen ist.
Ich habe ihr dann jedenfalls erklärt, dass ich jetzt an dem Punkt bin alles komplett in Frage zu stellen, langsam auch Angst vor der Neuro (richtig bescheuert) bekomme, weil so nett wie die auch alle sind – aber nachdem die sich so für mein Kommen eingesetzt haben – da sicher auch die Erwartungen hoch sind. Und so generell ist es alles sehr unsicher, denn ich weiß nicht so richtig, wie es weiter geht, wo meine Zukunft sein wird und auch wie ich mich entscheiden werde, weil das glaube ich nochmal eine große Sache wird, wirklich für immer hierher zu ziehen.
Und dann habe ich Angst gerade so viel im Kopf zu haben, dass ich Fehler mache und eine Gefahr für die Patienten bin.
Und so bedingt das eine das andere und irgendwann ist mein Kopf so voll und durcheinander, dass es einfach knallt.
Und irgendwann ist der Punkt, an dem man da noch was reißen kann, auch überschritten. Denn je schlimmer das wird, desto mehr habe ich Angst die Menschen zu nerven und dann wird der Plan mit „na Du könntest ja einen Freund anrufen“ eben nichts mehr.
Naja… - sie meinte dann das kommt sicher alles durch die Familiensituation, die vor ein paar Tagen der Anfang von allem war. Das seien eben die „Nachwirkungen“ und ich soll versuchen, mich von diesen Gedanken ein wenig zu distanzieren und Pläne zu machen, wie ich freie Zeit verbringe. Damit ich nicht noch mehr denke, auch wenn sie verstehen kann, dass es mir im Moment sehr schwer fällt irgendetwas zu machen, weil mein Kopf die ganze Energie verbraucht…
Und am Ende dann: „Sie kommen ja nächste Woche Freitag auch.“ Woraufhin ich erwiderte, dass es im Plan ist, aber das alles sehr chaotisch und unorganisiert diesmal ist und ich hoffe, dass es klappt. Und dann meinte sie: „Naja, Sie melden sich aber in jedem Fall und berichten, wie es Ihnen geht. Sonst rufen Sie an.“  Kopf ➙ Tischplatte. Wie war das nochmal mit dem Telefonieren… - also manche Dinge muss man vielleicht echt nicht verstehen…

Einen guten Start ins Wochenende an alle Leser!
Mondkind

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