Gegensätze


Heute frage ich mich, wo du gerade bist
Was du gerade machst und wer bei dir ist
Und warum die Zeit so ein Arschloch ist

(Wincent Weiß – Herzlos)

Abend. Halb zehn erst. Und ich bin schon hundeelendig müde. Weinen und lernen zusammen ist unglaublich anstrengend.

Mittlerweile kann ich mir 500 Mal am Tag sagen, dass ich das schon irgendwie hinbekommen werde. Ich glaube es mir kein bisschen. Ich bin mir im Gegenteil fast sicher, dass das nichts wird. Ich weiß ja auch immer noch nicht, wie das abläuft. Die Vorgespräche waren nichtssagend. Ein Neurologe, der ja mal ein MELAS – Syndrom abfragen könnte und eine Allgemeinchirurgin, die meinte, dass man schon auch wissen müsse, wie man eine Oberschenkelhalsfraktur operiert. Könnte ja mal jemand aus dem Bett fallen. Und dann operiert das ganz sicher ein Allgemeinchirurg… - nicht.
Was wird das Niveau sein? Wie sollen wir jede exotische Neuro – Krankheit können, jede OP – Methode mit all ihren Komplikationen, in der inneren Medizin den Herold auswendig können und dann auch noch HNO? Ich lese und lese und komme gar nicht zum Wiederholen und schmeiße alles durcheinander und vergesse schneller als ich lerne.
Vermutlich redet am Ende keiner mehr über das Examen, weil keiner genau weiß, wie er das bestanden hat. Und wahrscheinlich wird man hinterher das Gefühl haben, nichts zu können.

Und ich?
Ich… - ich weiß nicht mehr, wohin mit mir. Zu viele Gegensätze. Der Teil, der keinen Fuß vor den anderen mehr setzen will. Der lieber heute als morgen die Welt verlassen will und der andere Teil, der dazwischen springt und sagt: „Mondkind, schätze gefälligst das Leben… - andere wären froh…“
Der Teil, der irgendwie die Familie um sich herum haben möchte. Weil gestern Schwestern – Tag war, um das Examensoutfit zusammen zu stellen. Und der Teil, der einfach nicht mehr schwarzes Schaf sein kann. Und der es nicht ertragen kann, die zweite Hälfte neben sich zu haben, die selbst in Größe 32 verschwindet.
Der Teil, der so dringend los in die Zukunft will. Weil es doch alles besser werden soll. Und der Teil, der sagt, dass ich doch ohnehin keine Verantwortung für die Patienten tragen kann. Weil ich ja nichts kann.
Der Teil, der irgendwie ein Stück weit Erlösung in der Psychiatrie sieht. Sich mal unter die Käseglocke zurückziehen, einigeln, diese Welt nicht mehr ertragen müssen. Und der Teil, der sagt: „Mondkind, wenn Du da nach zwei Jahren wieder auftauchst, hast Du es halt einfach verkackt…“

„Ich kann auch irgendwie nachvollziehen, dass die Sie in der Ambulanz nicht ganz ernst nehmen – Sie erzählen das immer mit einem Lachen…“ Irgendwie ist der Punkt des Redens vorbei. Weil Verhalten und Gesagtes so gegeneinander stehen. Der Mensch an der Heizung, zwanzig Zentimeter neben mir, wäre jetzt angebracht. Nicht mehr reden. Nur sitzen. Und schweigen.
Er meint es nicht böse und macht mich nur darauf aufmerksam. Die Geschichte geht halt schon zu lange. Was machst Du, wenn sich die Eltern trennen, die ganze Familie auseinander fällt, völlig unvorbereitet. Und Du ein paar Tage später in der Schule stehst und erzählst, der Vater sei auf Geschäftsreise? Das musst Du verkaufen. Als sei es wahr. Und Du musst funktionieren. Weil sonst, das haben Dir die Eltern ja gesagt, fliegst Du von der Schule und landest unter der Brücke.
Und dann funktionierst Du eben. Bei allen.

Und dann… - dann gibt es noch die Randschauplätze. Ein verstopftes Waschbecken – der Rohrreiniger hat es noch schlimmer gemacht. Und die Mitbewohnerin die meint, dass ich mich ja darum kümmern kann. Was ich nicht kann.
Und morgen ist Feiertag. Und Du hättest einkaufen sollen. Was Du nicht getan hast. Du könntest einen Freund fragen. Aber man kann die Wohnung keinem mehr zumuten.

Und dann… - dann kommt eine ganz liebe Mail. Aus der Ferne. Aus dem Ort, der die neue Heimat werden soll. Und manchmal… - manchmal würdest Du gern fragen: „Können wir nicht einfach mal zehn Minuten reden?“ Aber Du weißt, dass er viel zu tun hat. Jeden Tag 13 Stunden arbeitet. Und Du bist schon froh, über zwei Sätze. Als Zeichen, dass sich der Ort da unten in Deiner Abwesenheit nicht in Luft auflöst und dass es ihm gut geht. Weil Du Dir Sorgen gemacht hast. Er hat mal gesagt, Du sollst nicht weinen über diese Mails. Aber das tust Du fast immer. Was Du ihm natürlich nicht sagen darfst.

„Ihr sollt eine gute Show machen…“, stand in einem Prüfungsprotokoll eines Prüfers, der uns jetzt doch nicht prüft. Nur leider ist das keine Show. Leider entscheidet diese Prüfung über so viel. Das hättest Du gern, dass die Eltern sagen: „Und wenn es nicht geklappt hat, dann kommst Du nach Hause, dann heulst Du Dich hier aus, wir finden das einfach alle zwei Tage scheiße und dann schauen wir mal, was wir aus dem Sommer machen. Und dann versuchst Du es nochmal und weißt schon eher, was da auf Dich zukommt.“
Aber so ist es ja nicht. Nur mit einem bestanden Examen darf ich überhaupt zurück in die Wahlheimat. Und mehr Angst, als mich hier noch ein halbes Jahr irgendwie - vermutlich mit vielen Tränen - durchschlagen zu müssen, habe ich davor dem für mich wichtigsten Menschen da unten vermelden zu müssen: „Ich habe es nicht geschafft.“ Weil er anders an mich glaubt, als die Eltern. Ehrlicher. Nicht mit einem "Du musst...", sondern mit einem "ich vertraue Dir..."
Obwohl es ja irgendwie auch kaum noch schlimmer werden kann, als neben ihm stehend die erste Prüfung des Medizinstudiums so völlig zu vergeigen. Zwar waren alle da so nett mit mir. Aber irgendwie hat das ganz, ganz viele Selbstzweifel ausgelöst. Es war einfach irgendwie unnötig, auf der Zielgeraden dieses Studiums.

So… - hundeelendmüde. Aber ich versuche noch ein bisschen Chirurgie.
Und statt eines alten Bildes, gibt es heute dann wohl mal gar kein Bild…

Einen schönen Feiertag morgen an alle Leser!
Mondkind

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