Zusammenfinden in der Ambulanz


Aufwachen. Kopfschmerzen… - immer noch, oder schon wieder? Ich weiß es nicht. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es kurz nach 5 ist. Also sind – seit ich das letzte Mal auf die Uhr geschaut habe – phänomenale drei Stunden vergangen. Das war’s dann wohl wieder für die Nacht…

Völlig erschlagen stehe ich irgendwann auf. Kaffee kochen. Schreibtisch.

Den Tag von gestern wiederholen. Der Plan ist, sich heute zu beeilen, damit ich gut in der Zeit liege, bis ich in die Ambulanz zur Therapeutin fahre. Dann kann ich da zumindest vom „Produktivitätsstandpunkt“ schon mal beruhigt sein und mich auf die Stunde konzentrieren.
Zwischendurch versuche ich es mal mit Essen… - das ist wieder mal eine schlechte Idee. Heute komme ich beim Lernen am Ulcus vorbei. Langsam glaube ich, dass der Stress mir da eventuell zumindest eine Gastritis beschert hat.
Zwischendurch habe ich immer mal Herzrasen. Ein bisschen Angst, dass die Therapeutin mich heute zerlegt, habe ich schon.

Bis zum Nachmittag bleiben nur noch Magenkarzinome und Schlingensyndrome, außerdem Wiederholung der Pilze. Damit kann man leben.
Während ich mich fertig mache, nimmt unsere „m3 – whatsApp – Gruppe“ Fahrt auf. Morgen früh sind wir mit dem Neurologen verabredet und sollte er unser neuer Prüfungsvorsitzender werden und noch nach Präferenzen für die Prüfung fragen – was sagen wir ihm?
Unterdessen berichten zwei Kommilitonen, dass sie in einer Woche im Mai definitiv nicht können, weil sie da noch im Urlaub sind… Hä??? Das muss ich zwei Mal lesen… Was habe ich hier verpasst?

Auf dem Weg zur Ambulanz wird mir klar: Genau 52 Wochen ist es her. Zwar war es der 12. April, aber es war ein Donnerstag, als das Examen geschafft war. Heute vor 364 Tagen.
Von den restlichen Kommilitonen unserer Großgruppe wurden wir Nachzügler, die das Examen ein halbes Jahr später geschrieben haben, vor der Stadthalle mit Blumen empfangen. Unglaublich surreal. Auf den Bildern, die vor einem halben Jahr von den anderen die whatsApp – Gruppe gesprengt hatten, war ich nun – in der neuen Version - auch zu sehen.
Jeder ist danach noch mal schnell nach Hause gefahren. Ich habe die Antworten der ersten beiden Tage mit dem Lösungsschlüssel verglichen und festgestellt, dass ich auch ohne die Ergebnisse des dritten Tages fast bestanden hatte. Wahnsinn.
Danach habe ich meine Handtasche gepackt und das erste Mal in diesem Jahr ging es in die Altstadt an den Fluss. Unsere ganze Großgruppe war zusammen gekommen und gemeinsam saßen wir auf den Treppen am Fluss.
Ich weiß noch, dass mir die ganze Zeit ein kleiner Hund um die Beine strolchte. Und nachdem ich mir das eine Weile angeschaut hatte, habe ich doch seinen kleinen Kopf gestreichelt (Fremde Hunde und so, aber egal… - wird schon nicht giftig sein so ein Tier, das bei anderen auf dem Sofa liegt…). Mein Blick streifte über den Fluss, über dem die Sonne unter ging. Bevor ich ganz abdriftete, riss eine Frage mich aus meinen Gedanken: „Sag mal Mondkind – haben Dich Deine Eltern schon gefragt, wie es war…?“ „Nein…“, habe ich geantwortet. Bis dahin war mir nicht mal in den Sinn gekommen, dass Eltern so etwas tun könnten. Kurze Stille. Alle wissen, dass das Verhältnis etwas schwierig ist. „Mondkind – auch wenn Deine Eltern nicht fragen – Du kannst trotzdem sehr stolz auf Dich sein…“, sagte eine Kommilitonin. Fast wären mir die Tränen in die Augen gestiegen.

Es war der Abend, die Nacht, in der ich glaubte, dass ich das vielleicht doch noch irgendwie hinbekomme. Denn während der Examenstage kam dann mit viel emotionaler Erpressung raus, dass der Klinikplan nach dem Examen nicht klappen wird. Und ich hatte auch keine Kapazitäten, um mich zu wehren, an den richtigen Stellen zu reden und andere Menschen das regeln zu lassen.
„Mondkind – bis zum Tag nach dem Examen noch, dann darf Dein Kopf vollkommen durchdrehen. Dann musst Du ihn nicht mehr im Zaum halten – dann übernehmen das mal kurzzeitig andere“  - wie ich mit der Vorahnung, dass das nur eine Wunschvorstellung ist, wie mir am zweiten Tag des Examens noch vor der Prüfung mitgeteilt wurde, noch in Seelenruhe das Examen geschrieben habe, ist mir heute ein Rätsel. Es war ja sofort klar, dass ich wieder ein Jahr verliere…  

Heute bin ich im Sonnenschein auf dem Weg zur Ambulanz. Irgendwie nicht ganz da. Vollkommen übermüdet. Und irgendwie so weit weg von der Welt. So wie fast das ganze Jahr über schon. Aber heute tut es irgendwie weh.

Ein bisschen Frühling🌱

In der Ambulanz sitzen. Herzrasen. Was passiert hier gleich? Was macht Sie mit der Mail…?
Die Therapeutin bittet mich schon rein und geht noch kurz irgendetwas erledigen. So lange habe ich Zeit, um mich aus dem diskreten Hyperventilations – Modus raus zu holen.
„Wie geht es Ihnen?“, fragt Sie, als Sie in den Raum kommt. „Naja… - man versucht es irgendwie. Aber es ist schon sehr anstrengend gerade…“, sage ich. „Also so mittel“, macht sie daraus.
Erstmal geht es kurz um die Examensvorbereitung. Dass bei uns wieder alles durcheinander geschmissen wurde, wusste sie ja noch gar nicht. Dass das stresst, kann sie nachvollziehen. „Wer ist denn jetzt ihr Neurologe? Aus welchem Fachgebiet?“, fragt sie. „Stroke“, sagte ich. „Na das ist doch gut für Sie… - jetzt warten Sie das alles mal ab…“ „Wir treffen ihn morgen früh. Vielleicht werden wir dann schlauer…“, erkläre ich.
„Sie hatten mir eine Mail geschrieben…“, legt sie los. „Ja, hatte ich…“, sage ich etwas gedehnt. Sie sagt einfach gar nichts mehr dazu, dass es unpassend oder so gewesen wäre – und dafür bin ich ihr einfach unendlich dankbar.
Ich glaube, ein bisschen hat sie geschnallt, worum es geht. „Ich glaube, Sie sind da in einer ungünstigen Position. Auf der eine Seite ist dieses „Kind“ oder wie immer man das nun nennen mag und das hat seine Bedürfnisse und will die durchdrücken und auf der anderen Seite ist der Erwachsene, der sagt, dass das Kind hier nichts zu melden hat…“ „Ja, so ungefähr“, entgegne ich, „aber man muss damit natürlich irgendwie immer eine nach außen vertretbare Position finden. Es gab da mal eine Situation mit dem Seelsorger, das war irgendwann Richtung Ende November glaube ich, da bin ich mal bei ihm aufgeschlagen und es ging mir richtig schlecht. Ich habe den Tag kaum überstanden, da klappte das mit den Fassaden nicht mehr so gut. Und da meinte er: „Also ich habe mich ja immer ein bisschen gefragt, ob Sie das mit der Therapie und der Psychiatrie alles wirklich brauchen, aber wenn ich Sie heute so sehe, dann glaube ich Ihnen das schon…“ Es war auf gar keinen Fall böse gemeint und ich habe auch nichts dazu gesagt, aber es spiegelt das Problem wieder. Ich meine… - was soll ich machen? Ich kann nur reden – und hoffen, dass die Menschen mir glauben. Aber man kann es den Menschen auch nicht verübeln, dass Sie das glauben, was Sie sehen und die Worte eher für die Show halten… und dadurch ist das hier glaube ich alles immer so ein bisschen… seicht irgendwie…“ „Ich glaube, Sie geben sich da aber mittlerweile schon auch Mühe“, sagt die Therapeutin. „Ja schon…“, entgegne ich, „sonst kann man das halt auch alles irgendwie lassen und dann muss ich mir da eben einen Schubs geben. Aber es gibt immer noch viele Dinge, die ich noch nicht gesagt habe…“ Das reiche auch, wenn das langsam komme, sagt sie.

Sie ahnt glaube ich langsam, dass der Ort in der Ferne und die Gespräche mit dem Seelsorger da auch viel hoch geholt haben. Heute möchte sie genau wissen, was wir da gemacht haben. „Ich glaube halt, der Ort in der Ferne als Gesamtpaket hat mir bewusst gemacht, dass Familie für mich ein viel größeres Thema ist, als ich mir das eingestanden habe. Man hat sich irgendwann gesagt: „Okay, von da kommen eh nur noch unbrauchbare Kommentare“ und hat versucht, das nicht mehr an sich ran zu lassen. Aber ich glaube – so sehr man sich auch wehrt – es verletzt einfach. .“ Der Seelsorger hat mir gezeigt, wie kaputt und krank diese Familie ist und der Neuro - oberdoc hat mir gezeigt, wie es eigentlich laufen sollte. „Ich glaube, das war dennoch alles eine wichtige Erfahrung für Sie“, erklärt die Therapeutin. „Das glaube ich auch…“, sage ich. „Aber es tut mittlerweile noch viel mehr weh, als letztes Jahr um diese Zeit. Manchmal ist das wirklich nicht auszuhalten…“

In meiner Mail ging es ja noch um Das Thema Klinik – darauf kommen wir auch zu sprechen. Das Problem ist, dass sie nicht glaubt, dass mir das hilft. „Naja… - ich weiß das vorher auch nicht. Ist ein Versuch“, sage ich. „Aber Fakt ist, dass ich eigentlich so wie es jetzt ist, nicht da runter gehen und arbeiten gehen kann.“ Man wird nicht alles in den Griff kriegen – aber zumindest ein paar essentielle Dinge. Die Suizidalität zum Beispiel. Das wäre schon sehr schön, wenn die weniger präsent wäre. Sie meint, sie schreibt dem Psychiatrie – Oberarzt nochmal. Es wäre ja vielleicht gut, ihn nochmal zu erinnern – Vergesslichkeit scheint unter Oberärzten ein Phänomen zu sein. Aber die haben auch alle viel um die Ohren – man muss es ja nachsehen. Wahrscheinlich sage er ohnehin das, was er immer sage. Ich schaue Sie etwas schief an. „Sie sollen sich melden, wenn Sie so weit sind…“
Naja… - so richtig weiter hilft mir das jetzt auch nicht ehrlich gesagt. Wenn das nicht klappt… - was soll ich dann noch bis Oktober hier? Ich meine klar, es gibt noch die Doktorarbeit, aber ich muss raus hier. Von diesem Ort weg. Ja, ich habe den Fluss lieben gelernt in der Altstadt. Aber das sind zu viele Erinnerungen, die schlecht sind.
Wenn jemand irgendeinen Alternativplan auf Lager hat, wie wir da eine Verbesserung erreichen können, können wir das auch gern ambulant versuchen – so ist es nicht. Ich hätte auch noch ein paar Konzerte im Sommer, die ich gern besuchen würde – das wird natürlich in der Klinik nichts. 
Aber die ersten Antworten werde ich ohnehin frühestens in mehr als zwei Wochen bekommen - wenn  die Therapeutin aus dem Urlaub wieder da ist. Es ist wirklich langsam anstrengend dieses Jahr. Das zieht sich alles wie Kaugummi

Später in der Stunde kommen wir dann auch noch auf die Zukunft zu sprechen. „Sie müssen sich da mal einen Plan machen. Wie Sie das jetzt vor dem Examen noch machen wollen, dann zwischen dem Examen und nach dem Examen…“, erklärt die Therapeutin. Ich schweige kurz. „Das ist jetzt der Punkt, ab dem ich Sie jetzt wieder verliere…“, erkläre ich. „Wieso?“, fragt sie. „Weil Zukunft bei mir etwas sehr kurzweiliges geworden ist…“, entgegne ich.

Wir kommen auf das Thema Suizidalität zu sprechen und obwohl ich mir bei jedem Satz sage: „Mondkind, jetzt übertreibs mal nicht“, tut es auch gut, es erzählen zu dürfen.
„Und was ist, wenn Sie das erstmal so akzeptieren, dass Sie nicht wissen, ob es weiter geht und sich darüber nach dem Examen Gedanken machen…?“, fragt sie.
„Es ist halt einfach super anstrengend nie zu wissen, ob und wann es das nächste Mal aushakt und wie schlimm es dann wird. Irgendwie verschiebt sich die destruktive Grenze ja immer etwas weiter. Und das ist einfach beschissen, wenn man nie weiß, ob man das nun schafft, oder nicht. Weil da gibt es ja den Vernunftteil. Und der sagt, dass es eine Zukunft gibt. Und eigentlich will ich diese Zukunft ja auch erleben. Und dann macht es mir selbst so Angst. Denn es gibt eben auch noch diesen anderen Teil, der einfach nur noch müde ist… - der ist dann halt eher nicht mehr so rational…“ „Letzteres ist genau das Problem“, sagt sie, „Und da hilft auch das rationale Wissen nicht mehr weiter…“

Am Ende reden wir noch ein wenig über „Eltern im Selbst“ – das war auch so ein Konzept des Seelsorgers. „Okay, ich bin jetzt zwei Wochen nicht da“, erklärt die Therapeutin. „Was sagen Sie als Eltern jetzt, wenn es zwischendurch nicht mehr geht…?“ Geschickter Schachzug. „Naja… - hier anrufen… - oder außerhalb der Zeiten Notaufnahme. Weil erstmal geht es darum, das hier zu überleben. Und dann kommt das Examen. Es macht einen nicht weniger wertvoll, da durch zu fallen. Dann macht man es halt nochmal. Hauptsache man gibt sich überhaupt die Chance…“ Wenn ich das jetzt auch noch glauben würde...

Auf dem Heimweg überlege ich, wie ich die whatsApp von meiner Mutter beantworte. „Hi Mondkind – kannst Du mir bitte mitteilen wann und wo 2018 Dein Hauptwohnsitz war…?“ Keine Ahnung, wofür sie das braucht. Wo ich gewesen bin… - ich dachte, das wüsste sie. Gefragt, was ich gerade so mache, was die Examensvorbereitung macht, ob es mir gut geht, hat sie nicht. Hat sie seit Januar nicht.
Und vielleicht ist einer der Schlüssel, das zuzulassen, dass es einfach weh tut. Es ist wie so eine formale Mail. Ich beschließe, formal zurück zu schreiben. Ich habe mich so viel und so sehr da rein gehängt. Wenn sie nicht will, dann will sie nicht. Dann ist das so. Aber es ist okay, dass es einem die Tränen in die Augen treibt.

Auf dem Weg nach Hause, gehe ich am Briefkasten vorbei. Früher habe ich da ein Mal im Monat rein geschaut – wenn es hoch kam – und die Mitbewohner haben die Post meist mit hoch gebracht. Seitdem ein sehr lieber Mensch meine Adresse haben wollte und meinte, er wolle mir da noch etwas zukommen lassen, gehe ich fast jeden Tag vorbei. Wahrscheinlich ist das im Stress auch unter gegangen. Aber hin und wieder sollen ja doch noch Wunder passieren.

Gerade hat noch eine Freundin angerufen – für sie steht gerade die Frage im Raum, was sie mit ihrem Abi macht. Das kann man nicht einfach abwimmeln, da musste ich mir jetzt ein paar Gedanken zu machen.

Jetzt sitze ich hier. 21 Uhr. Immer noch Margenkarzinome und Schlingensyndrome. Und Pilze.
Und müde.
Und obwohl die Stunde heute wirklich gut war und die Therapeutin gut auf mich eingegangen ist, tut es einfach weh. Ich vermisse diese wenigen Momente, die den Schmerz einfach mal für ein paar Sekunden ausgeschalten haben. Es wird sicher besser werden irgendwann. Wenn der Kopf merkt, dass rebellieren nichts bringt – wie so oft. Dass wir einfach weiter gehen müssen und sehen werden, was passiert. Und, dass wir uns viel wünschen können. Aber am Ende liegt es nicht nur in unserer Hand, was davon real werden wird, und was nicht. Wir können nur unser Bestes geben. Und nicht zu verbissen um den Erfolg kämpfen.

Mondkind

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