Examenstermin
Sie ist da, die Mail.
Am Donnerstagmittag vor Ostern,
als schon keiner mehr so wirklich damit rechnete, dass wir noch schlauer
werden.
Der Examenstermin steht. Man kann
jetzt also nochmal anfangen die Tage zu zählen und einen Lernplan machen. Wobei
das keine schöne Rechnung wird. In einem Monat sind wir fertig.
Irgendwie ist es gut, dass wir es
jetzt endlich wissen. Und gleichzeitig hat das zum nächsten Tränenausbruch
geführt. Wie zum Geier soll ich das machen?
Man kann sagen: „Pass mal auf
Mondkind – man kann die Tage jetzt wirklich abzählen. Jetzt reiß Dich zusammen,
setz Dich an den Schreibtisch und mach mal…“
Aber irgendwie… - die Luft ist
längst raus. Das ist sie eigentlich schon seit Januar. Seit dem Beginn auf der
Chirurgie. Und seitdem saß ich irgendwie trotzdem jeden Tag an diesem
Schreibtisch, es hat nicht einen freien Tag gegeben. Ich habe bestimmt schon
sieben Mal Multiple Sklerose gelesen dieses Jahr und trotzdem jedes Mal wieder vergessen,
dass Natalizumab eine PML auslösen kann und Mitoxantron eine Kardiomyopathie
und dass man Interferon – Beta nicht bei Depressionen geben sollte.
Mein Hirn ist ein Sieb. Vor zwei
Wochen habe ich Leukämien gelernt. Fragt einfach nicht…
Und irgendwie… - ich habe mich da
völlig verrannt; vielleicht hat auch die Einsamkeit ein bisschen Schuld und die
Tatsache, dass das Hirn ungehindert immer und immer wieder dieselben Schleifen
laufen kann und man so nach und nach das Vertrauen in sich so völlig verliert.
Und das mit den
Untersuchungsskills am ersten Tag... Wann habe ich denn das letzte Mal
Lungengrenzen perkutiert oder eine Kratzauskultation der Leber gemacht? Das
muss im Untersuchungskurs im fünften Semester gewesen sein. Also gut drei Jahre
her.
Ich weiß, dass diese
Neuroprüfung, durch die ich da durchgefallen bin, ein Einzelfall war. Die erste
Prüfung in diesem Studium überhaupt. Sonst habe ich es immer irgendwie
hinbekommen, auch wenn ich mir oft anhören musste, nicht stolz auf meine
Leistung sein zu dürfen, weil es „gerade so bestanden ist und ich hätte Sie
auch durchfallen lassen können.“ Jede mündliche Prüfung war der absolute
Horror.
Und gleichzeitig ist es so ein „Alles
– oder – Nichts – Denken“, das auch nicht sehr förderlich ist. Ja, man kann die
Prüfung wiederholen. Aber ich kann das nicht. Es ist das dritte Osterfest in
Folge, das ich nicht mit einem Osterfrühstück oder sonst irgendetwas verbringe,
sondern vor dem Schreibtisch. Und die Tatsache genieße, dass morgens alle
Menschen noch schlafen und man deshalb Stille zum Lernen hat. Obwohl ich mich
da eigentlich nicht hinsetzen müsste, weil ich sowieso nach drei Stunden fest
stelle, dass ich mehr als die Hälfte der Zeit geweint habe und gerade mal fünf
Seiten weit gekommen bin und das den Lernplan für den Tag ohnehin schon wieder
vor dem Mittag killt.
Seit Februar 2017 habe ich jeden
Tag dieses Examen im Kopf. Die Grenzen sind längst überschritten. Weder kann
ich mich hier noch bis Dezember hinsetzen und weiter im Kreis lernen, noch kann
ich noch ein halbes Jahr hier in dieser Stadt bleiben.
Wenn ich das Ding nicht bestehe,
bin ich wirklich offiziell am Ende.
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Einfach jeden Tag von vorne probieren... |
Und wie es danach weiter geht… -
erstmal wurde ich belehrt, muss ich mich um Behördenkram für die Beantragung
der Approbation kümmern. Dazu gehört nicht nur allerlei Dinge beglaubigen zu
lassen und Dauergast beim Einwohnermeldeamt zu werden, sondern man muss auch
noch beim Hausarzt vorstellig werden. Den ich nicht habe… - zumindest war ich
da seit fünf Jahren nicht mehr, weil ich irgendwann beschlossen habe, dass das
keine gute Sache ist, wenn die Hausärztin und meine Mutter an der Kasse bei
Aldi miteinander quatschen und es ständig darum geht, was die Kinder machen.
Ich glaube, das mit der Schweigepflicht nimmt sie nicht so eng. Jedenfalls muss
ich da auch noch hin. Vor der Klinik – so die Klinik statt findet. Denn wenn
ich ein Mal dort bin, wird mir garantiert keiner bescheinigen, dass ich
arbeiten kann.
Es ist einfach nicht vorbei nach
dem Examen. Und es ist so ein bisschen die Frage, ob es überhaupt irgendwann
vorbei ist. Ob man sich mal irgendwann ein paar Tage um
nichts kümmern muss, der Kopf so laut sein kann, wie er mag und ich einfach mal
nicht den ganzen Tag gegen mich selbst kämpfe. Ich traue mich wirklich nicht
mich darauf zu verlassen – das ist ja letztes Jahr immerhin auch gnadenlos
schief gegangen.
Ach ja… - und so nebenbei… meine
neue Mitbewohnerin. Jeden zweiten Tag steht sie hier und ich höre: „Mondkind –
Du studierst doch Medizin…“ Dann eine lange Erklärung und dann: „Meinst Du, ich
sollte den Arzt aufsuchen…?“ Wegen Nackenverspannung, ein bisschen
Bauchschmerzen oder der Tatsache, dass man sich des nachts nach ein bisschen zu
viel Alkohol die Seele aus dem Leib gekotzt hat. Natürlich nicht zivilisiert
über der Kloschüssel. Nee, das Bad sah aus wie nach einem Anschlag. Und der nächste
Abfluss ist verstopft. Ich könnte im Sechseck springen. Auch so ein Grund,
warum ich definitiv hier weg muss. Studentenwohnheim – da bin ich einfach raus.
Ach so… - geputzt hat sie
natürlich nicht. Und wer den Abfluss sauber macht, weiß ich nicht. Ehrlich
gesagt ist mir das jetzt zu peinlich dem Hausmeister Bescheid zu sagen, nachdem
ja letztens schon die Wohnungen unter uns wegen unserem Abfluss eine
Überschwemmung hatten.
Leute, ich kann einfach nicht
mehr. Ich war selten so am Ende. Ehrlich. Und wenn ich die Therapeutin nächste
Woche Freitag (und auch das ist noch ungefähr unendlich) sehe, wird Sie sagen,
dass ich Lernen soll und keine Zeit mehr habe, bis zum Examen zu ihr zu kommen.
Das mag richtig sein – aber für mein durchgeknalltes Hirn ist ein Termin bis
Mitte Mai einfach zu wenig. Vermutlich werde ich das aber nicht schaffen, ihr
das zu sagen.
Mondkind
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