Fassaden
Vermutlich sollte man einfach einen Haken an die Woche machen.
Irgendwie überleben und dann von vorne anfangen. Besser wird es nicht
mehr.
Gestern habe ich nochmal mit dem Seelsorger telefoniert. Ihm habe ich
auch erstmal von den Alltagproblemen erzählt, die sich diese Woche auffällig
häufen. Vielleicht haben meine Erzählungen über sinnlose Fahrten zur Uni und
hüpfende Waschmaschinen durchaus Unterhaltungswert. „Wenigstens können Sie noch
darüber lachen und das mit einem gewissen Maß an Selbstironie betrachten.“
Nein, kann ich eigentlich nicht. Aber sobald ich in soziale
Interaktion trete, ist sofort wieder Masken – Mondkind am Werk. Und so sehr ich
mir auch wünschen würde, dass sie in den richtigen Momenten bei den richtigen
Menschen einfach mal fällt – das passiert nicht.
Ich kann den Menschen nicht mal vorwerfen, mich nicht so richtig ernst zu nehmen. Ich erlaube
es ihnen ja eigentlich nicht.
Gestern Abend habe ich dann noch Stunden an einem Zettel für die
Therapeutin gebastelt.
Für mich war das Ereignis, um das es da geht, ein sehr einschneidendes
Erlebnis. Ich hatte immer Angst vor diesem Kontrollverlust. Dass irgendwann
mein Kopf die Mauern doch nicht mehr aufrecht erhalten kann, ein
vernunftgesteuertes „Mondkind, Du musst einfach weiter machen. Einfach weiter
gehen. Immer schön geradeaus“, nicht mehr ausreicht. Und dann ist es passiert.
Ohne, dass es sich vorher dramatisch hochgeschaukelt hätte, dass ich lange das
Gefühl gehabt hätte, jetzt die Grenze erreicht zu haben. Ohne, dass ich das
noch fünf Mal überdacht habe und wie sehr ich die mir wichtigen Menschen damit
enttäusche.
Es ist alles relativ glimpflich ausgegangen, die meisten Menschen
haben nichts davon mitbekommen. Aber es macht Angst. Weil ich die Auslöser
nicht benennen kann, damit auch eigentlich nicht absolut ausschließen kann,
dass es wieder passiert. Insbesondere, wenn ich psychisch so abrausche, wie es
im Moment der Fall ist. Weil ich das Thema „mündliches Examen“ einfach völlig
unterschätzt habe und das zu viel Ungewissheit für einen Menschen wie mich ist.
Die Therapeutin wirkt heute etwas gestresst, durchquert mit klackernden
Schuhen den Raum und sucht einen Zettel. Sie sitzt kaum, als ich höre: „Also… -
wir müssen jetzt überlegen, wie wir das machen. Wir haben nicht viel Zeit, wenn
es jetzt wichtig ist, dann müssen wir uns etwas anderes ausdenken…“
Nein… - bitte nicht nach dieser Woche. Nicht, nachdem ich hier die
ganze Woche artig die Finger still gehalten habe, jeden Tag weniger gelernt
habe, weil mein Kopf sich mehr eindreht. „Ich bin eigentlich schon ein bisschen
stolz auf mich, dass ich Sie die Woche nicht genervt habe und es bis heute
ausgehalten habe“, erkläre ich. „Also ja, es ist wichtig…“
Ich soll „kurz“ erzählen. Naja, mit „kurz“ geht es heute nicht so
richtig, erkläre ich. Und, dass ich einen Zettel dabei habe. (Das ist übrigens
ein Fortschritt – früher habe ich mich in solchen Situationen gar nicht mehr
getraut, den Zettel überhaupt noch zu erwähnen… - aber wir müssen das irgendwie
entwirren…).
Sie möchte den Zettel dann doch haben. Liest ihn.
„Okay, also eigentlich ist das ja nicht so schlimm. Es ging Ihnen
nicht so gut – das hatten Sie mir ja schon mal erzählt…“ Nein… - denke ich mir
nur. Sie hat es mal wieder nicht gepeilt, was ich ihr eigentlich sagen wollte.
Wieso ist sie nur immer so schwer von Begriff? Ich habe nicht detailliert
aufgeschrieben, was da passiert ist – auch wenn ich das gestern Abend überlegt
habe, weil solche Reaktionen ihrerseits schon öfter kamen, aber ich schaffe das
einfach nicht, es schwarz auf weiß zu verschriftlichen. Hinweise gab es dennoch
genug.
„Ich hätte auch nicht arbeiten können, wenn ich gewollt hätte“,
erkläre ich. „Es war physisch nicht möglich…“ „Wie meinen Sie das…?“, fragt
sie.
Ich winde mich noch ein paar Minuten wie ein Fisch an der Angel.
Irgendwie geht ihr in solchen Situationen immer sämtliche Emapthie verloren und
ihre Stimme nimmt eine eigenartige Härte an – obwohl ich eigentlich das
Gegenteil bräuchte. Man kommt sich ein bisschen wie ein Sachobjekt vor. Da gab
es Menschen, die es einem durchaus leichter gemacht haben, über diese Untiefen
im Hirn zu reden.
Am Ende ist es ein Satz, den ich da raus hauen muss.
„Okay und können Sie versichern, dass es nicht nochmal passiert?“,
fragt sie.
„Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was damals passiert ist und was die
genauen Auslöser waren. Also eigentlich…“ Ich überlege mir noch, wie ich den
Satz zu Ende führe. „Dann müssen Sie jetzt in die Notaufnahme…“ Ich hatte es
befürchtet, dass genau diese Reaktion kommt.
Aber was genau möchte sie denn damit bewirken? Jeder Mensch, der
halbwegs klar im Kopf ist, wird nicht ein paar Wochen vor dem Examen freiwillig
diese Prüfung aufs Spiel setzen.
Es war eigentlich der Sinn des Zettels zu überlegen, wie man solche
Situationen verhindern kann, weil ich eben Angst habe, dass es nochmal
passiert. Weil es in den Momenten auch kein rationales Denken und Abwägen mehr
ist. Dass das Leben dafür grundsätzlich zu wertvoll ist, ist mir schon klar.
Das hat ja dann wieder super funktioniert… - nicht.
So sehr, wie ich sie sonst auch schätze – aber über solche Dinge kann
man mit ihr wirklich nicht reden. Da sieht sie weniger den Menschen, dessen
individuelle Lage und Not, sondern mehr die Mühlen der psychiatrischen
Versorgung.
„Manchmal nimmt das Reden darüber den Ereignissen ihren Schrecken“,
hörte ich mal von einem Menschen. Und das stimmt halt wirklich. Geholfen hat es
immer. Auch, wenn das keiner für mich lösen kann, mir keiner meinen eigenen
Kopf abnehmen kann.
Irgendwann im Lauf der Stunde stellt sie dann fest: „Ich glaube, dass
sie nicht wissen, wann der Prüfungstermin ist, stresst sie mehr als alles
andere…“ „Das glaube ich auch“, entgegne ich, „allerdings weniger wegen des
Examens selbst, sondern mehr weil alles ab Anfang Mai eigentlich
Zeitverschwendung ist. Der Lernplan ist ja darauf ausgerichtet, Anfang Mai
fertig zu sein. Und jede Woche, die danach vergeht, geht von der Zeit ab, die
ich mir eingeräumt habe, um bis zum Jobstart wieder auf den Posten zu kommen.
Und nachdem das letztes Jahr auch nicht geklappt hat und so ein Teil von mir
diesen „Funktioniermodus“ einfach nicht mehr kann, ich ihn aber zwingen werde,
dass durchzuziehen, wenn es sein muss, habe ich einfach wahnsinnige Angst, dass
es diesen „kontrollierten Zusammenbruch“ nicht geben kann…“
Eigentlich wäre das eine Sache, die man relativ einfach klären könnte.
Indem einfach alle Seiten kommunizieren würden, dass das mit der Klinik klappt.
Aber ob die Therapeutin dann die Indikation sieht, ist dann mal die Frage. Mit
der Psychiaterin, bei der ich letztens war, komme ich da auch nicht weiter und
der Oberarzt, der sagte, dass ich mich mit ihm in Verbindung setzen soll, hat
das letzte Mal fast zwei Monate für eine Antwort gebraucht. Das schwebt mir
alles zu sehr in der Luft. Wenn jemand sagen würde: „Frau Mondkind, wir kümmern
uns darum, dass das klappt und Sie brauchen sich da keine Sorgen zu machen und
auch wenn es spät wird und Sie zeitgleich noch viel organisieren müssen,
kriegen wir das hin“, dann wäre ich da auch viel entspannter.
Und dann rede ich ein wenig von Fassaden. Davon, dass ich die mein
halbes Leben lang schon aufstelle. „Das sieht halt von außen immer so
wahnsinnig gut aus und jeder denkt „Ja, die Mondkind, die macht das alles mit
links“, aber das ist nicht so. Und manchmal macht mir das selbst so Angst, weil
ich ja immer weiß, was da kommt. Ich wusste, dass der Anfang des Jahres die
Katastrophe wird, dass das über weite Strecken einfach nur ein Überleben wird, aber
was sollte ich machen? Es war der Lauf der Dinge, das konnte keiner mittragen.
Und ich weiß auch, dass ich davor nie kapitulieren würde. Man hat es
durchzuziehen. Und irgendwie leide ich dabei halt einfach unmenschlich und ich
weiß gar nicht, ob sich das so rigoros immer alles lohnt…“
„Wo stellen Sie denn die Fassaden immer so auf?“, fragt sie. „Naja… -
eigentlich überall. Im Job natürlich, in der Uni, bei Freunden und… - auch hier
irgendwie. Sie würden mich hier nie so fertig sehen, wie ich abends oft auf
meinem Bett sitze. In vielen Situationen ist das auch gut so mit der Fassade.
Aber gerade was die Therapie angeht, kann das ziemlich hinderlich sein…“
Ehrlich gesagt hatte ich gehofft, dass sie letzteren Punkt einfach
nochmal aufgreift und wir überlegen können, wie es vielleicht mal ohne Fassade
gehen kann bei ihr. Dass mir so eine Stunde vielleicht mal wirklich die Last von
den Schultern nehmen kann. Es wäre mir ja schon geholfen, wenn ich einfach mal
alles sagen darf. (War mal eine Ansage von einem Arzt in der Klinik damals: Ich
soll ihm alles erzählen und er verspricht mir, dass das keine Konsequenzen
gegen meinen Willen nach sich zieht). Ob das bei ihr je funktionieren kann,
weiß ich nicht. Man muss ja schon auf der Hut sein und – wenn man wieder nach
Hause gehen möchte – einlenken.
Ich weiß es nicht… - heute Abend steht noch ein bisschen Pharma auf
dem Programm und irgendwie werde ich diesen Lernplan mal überarbeiten müssen.
Aber im Moment bin ich – was das Examen anbelangt – ehrlich gesagt nicht so
zuversichtlich. Im Moment ist mein Hirn dicht und so richtig schaffe ich es
nicht – auch mit Hilfe nicht – dort aufzuräumen. Und selbst die Dinge, die ich
schon mal wusste, scheinen irgendwie entfleucht. Es wird ein kleines Wunder,
wenn ich dieses Ding bestehe.
Und jetzt sitze ich hier. Muss die nächste Woche über die Bühne
bringen.
Nicht nachdenken. Und einfach jeden Tag weiter gehen. Es versuchen.
Mondkind
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