Liebes Leben...

Liebes Leben,
ein theatralischer Anfang für einen kleinen Text. Über das Leben.
Ein kleiner Text… - nur, weil ich mal ein paar Dinge zusammenfassen muss. Für mich. Und für Dich.

Liebes Leben, wir haben gelernt zu leben. Sind aneinander gewachsen in den letzten Jahren. Zusammen gewachsen. Ein Stück weit.
Egal, wie viele Steine da waren – wir haben logistisch gesehen alle davon aus dem Weg geräumt. Oder geschickt umschifft. Egal wie hoch die Anforderungen waren – alles wurde irgendwie erledigt. Ein Abi mit Bestnote. Ein Studium, das als eines der Schwersten gilt, die man machen kann. Und daneben eine private Situation, die die Dinge nie vereinfacht hat. „Also Ihre Familie will keiner erben“, sagte der Psychiatrie – Oberarzt mal zu uns. Oder, „Sie wissen ja – ich halte Ihre Wohnsituation für eine Katastrophe…“ Wie wir das durchgehalten haben, täglich vier oder fünf Stunden – je nach Verkehrslage zu pendeln – verstehe ich bis heute nicht.

Heute haben wir objektiv betrachtet viel überstanden. Das Studium ist vorbei. Der permanente Leistungsdruck. Wir verdienen unser eigenes Geld. Haben unsere eigene Wohnung. Unseren eigenen, kleinen, sicheren Ort. Der immer mehr ein Stückchen „wir“ werden würde in den nächsten Monaten, indem wir ihn immer weiter einrichten.
Materiell ist es glaube ich ganz gut bestellt um uns.

Und irgendwann… - vor mittlerweile schon ein paar Jahren schon, glaubten wir, dass wir vielleicht auch emotionale Löcher stopfen können. Das haben wir gespürt, noch bevor wir überhaupt realisiert haben, dass sie existieren. Es war, als wir zum ersten Mal an diesem Ort waren.
Was Dich an diesem einen Menschen hat festhalten lassen, das hast Du schnell verstanden. Aber andersherum… - was ist der Grund, dass Du plötzlich wichtig warst? Dass es plötzlich wichtig war, wie es Dir mit den Dingen ging? Dass da plötzlich Jemand gefragt hat, wie es Dir geht? Was Du möchtest? Dass jemand wollte, dass Du eines Tages für eine lange Zeit hierher kommst.
Lange hast Du nach Gründen gesucht. Nachgefragt. „Die Aufmerksamkeit und Wertschätzung die wir Dir zukommen lassen, hast Du einfach durch Deine nette und sympathische Art hervorgerufen.“ Das war die einzige Erklärung, die Du dazu bekommen hast.
Und vielleicht, so hast Du gehofft, braucht es manchmal keine Erklärungen. Vielleicht muss man manche Dinge nicht verstehen. Vielleicht muss man nicht hinterfragen, woher die Wege kamen und wohin sie führen, wenn sie sich gut anfühlen.

Der Ort in der Ferne. Der einzige Plan, den es gab. Und die Gewissheit, alles auf eine Karte zu setzen. Aber wenn es nur Plan A gibt, dann gibt es auch nicht viel zu entscheiden.
Wie willst Du eigentlich im Job so psychisch angeschlagen überleben? – war immer die erste Frage, auf die Du keine Antwort wusstest. Das Vorhaben war deshalb, bis dahin gesund zu sein.
Die zweite Frage war, was eines Tages sein wird, wenn der Plan mit dem Ort in der Ferne nicht klappt. Eine Situation, die Du Dir nie ausmalen wolltest. Hunderte Kilometer fern der „alten Heimat“, nachdem Du dort alle Zelte abgebrochen hast… 



Und heute… - heute liebes Leben, stehen wir hier. Lassen gedanklich langsam los – die Dinge, die Menschen, die uns einst an diesen Ort gebunden haben. Auch wenn die Erinnerungen in so vielen Winkeln hängen. Und auch, wenn wir immer an diesem einen Menschen hängen werden, müssen wir begreifen, dass der Plan die emotionalen Löcher zu stopfen, auf die Art nicht funktioniert.

Langsam liebes Leben, haben wir alle Hilfsangebote durch. Haben nochmal versucht zu telefonieren, zu schreiben, je nachdem. Unwissend, was wir eigentlich suchen.
Wir haben gehört, dass wir diejenigen sind, die die Dinge ändern können. Sich bewegen müssen. Für unser Leben verantwortlich sind. Mit dem Seelsorger haben wir Briefe an die Eltern geschrieben, um Schlussstriche einzufügen, wo in der Realität nie welche waren. Von der Therapeutin haben wir gehört, dass wir uns Hilfe suchen können, wenn wir sie brauchen. Nur, brauchen wir sie? Dürfen wir sie brauchen?

Aber weißt Du liebes Leben – das bringt uns alles auch nicht mehr viel, wenn wir es nicht wollen können. Wenn wir nicht akzeptieren können, dass wir so viel für dieses Leben und um Normalität darin gekämpft haben, aber dennoch nicht verantwortlich sind, für die seelischen Krater, die uns permanent ein Bein stellen. Wenn wir nicht aufhören können, Schlupflöcher zu suchen, um der Welt den Rücken zu kehren.
Weil es Dinge gibt zwischen Himmel und Erde, die niemand uns wird abnehmen können – unabhängig davon, ob wir nochmal Klink einschieben würden, oder nicht. Die emotionalen Löcher. Die Schmerzen in der Seele, die nie aufhören. Die Leere, die diese Wohnung bereit hält, sobald wir sie betreten. Die Wege, die unsere Geschichte uns hat einschlagen lassen und von denen wir vorerst nicht mehr abweichen können, weil finanziell so ein Hin und Her nicht machbar ist.

Der Ort in der Ferne… - wird entweder der Ort, an dem irgendwann mal endlich alles gut wird. Der erste Ort, an dem wir ankommen können, wie es uns einst prophezeit wurde. Oder aber, es wird die letzte Station auf unserem Weg.
So viel war immer klar. Und liebes Leben… - es sieht nicht nach ankommen aus.

Und jetzt, liebes Leben… - was ist Jetzt?
Wäre weiteres Durchhalten nicht nur das Aufschieben von etwas, das vielleicht seit so vielen Jahren am Ende des Weges unvermeidbar ist? Würde nochmal Klinik das nicht einfach nur ein paar Wochen nach hinten schieben? Nochmal Sicherheiten vorspielen, wo keine sind? Nochmal Wunden aufreißen, Schmerzen und Auffangen bedeuten, nur damit das Endergebnis auch kein anderes sein wird?
Sind wir nicht langsam zu müde vom Drehen und Wenden, vom Hoffen und Versuchen?

Liebes Leben, was sollen wir jetzt machen? Und… - sollen wir überhaupt noch etwas machen?
Oder sollen wir uns loslassen? Irgendwo, zwischen Himmel und Erde?

Mondkind

Bildquelle: Pixabay

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