Schnipselchen der Woche


Samstagmorgen.
Kaffee und Sofa.
Die Woche sacken lassen.
Eigentlich könnte ich ein ganzes Buch schreiben. Über die letzte Woche. Chaos auf der Station mit absoluter Unterbesetzung, Fortbildung, private Sorgen und ein Telefonat mit dem Kliniktherapeuten… - mehr als nach Hause kommen und ins Bett fallen war nicht drin.

Daher nur ein paar Eindrücke als zusammenhangslose Schnipselchen aus der Woche…

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Dienstag.
Ich sitze an meinem Schreibtisch; versuche meine To – Do – Liste zu sortieren. Fachliche Fragen muss ich gut überlegen und sammeln – der Herr Oberarzt ist nämlich nur noch heute da und hat dann für den Rest der Woche Urlaub. Und heute Nachmittag ist irgendeine interne Teambesprechung.
Plötzlich öffnet sich die Tür und der Oberarzt kommt rein. „Sag mal Mondkind – in diesen Konferenzen geht es auch immer darum, wie wir mit neuen Mitarbeitern umgehen – hast Du eigentlich so etwas wie eine Einarbeitungsmappe bekommen, wo man ein paar Zettel ausfüllen muss?“ „Naja… - ich habe eine Mappe…“, entgegne ich. „Und wo liegt die?“ „Zu Hause… - irgendwo… Aber da ist nichts zum Ausfüllen drin. Nur ein paar Zettel, die eine Kommunikation zwischen der Verwaltung und der Sekretärin beinhalten, in der es um Passwörter geht. Und bei der man am Ende darauf kommt, dass der neuen Mitarbeiterin ihr Passwort bekannt sein müsste… - also total hilfreich“, erkläre ich.
Er knurrt vor sich hin und erklärt, dass er mal zur Sekretärin geht und schaut, ob er etwas findet. Dann könnten wir darin zumindest noch ein paar Kreuze machen und er könnte sie mitnehmen in die Teambesprechung.
Ich sehe ihn an diesem Nachmittag nicht mehr. Aber was er da für eine Mappe meint, würde mich schon interessieren. Und ob andere die bekommen haben. Oder ob das wieder so die Auffassung ist – Mondkind kann eh alles.

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„Mondkind – warum ist diese Patientin noch hier? Die ist knallrot in meinem Belegungsplan, die muss irgendwo hin…“ Der vertretende Oberarzt ist mit seinen Liegetagen noch viel schlimmer. „Was soll ich denn machen?“, setze ich zur Verteidigung an. „Ich habe sie versucht zu den Internisten zu verlegen – die haben sie nicht genommen. Die Kardiologen waren hier und meinten, wir sollen sie auf die Palliativstation stecken. Und so sehr, wie ich auch jeden Sterbenden auf die Palli legen würde, weil ich da gearbeitet habe und weiß, wie würdevoll man dort mit den Patienten umgeht – aber sie stirbt noch nicht. Sie ist „nur“ kardial dekompensiert.“ „Ja, aber dann ist sie nichts für uns…“, sagt der Oberarzt. „Ich weiß, aber was soll ich machen?“. „Die Internisten anrufen. Und es geht ausdrücklich um „Übernahme““, entgegnet er. „Ich will sie hier heute Nachmittag nicht mehr sehen…“, ergänzt er.

Am Nachmittag lege ich mir alle internistischen Diagnosen zurecht, formuliere daraus nochmal eine Fallvorstellung und rufe den Internisten an. „Ich glaube, da gibt es irgendwo einen Haken, aber schick sie…“, erklärt er. Ich drücke auf den roten Hörer und lasse das Telefon auf den Tisch fallen.
Assistenzarztdasein ist manchmal echt blöd. Warum können die Oberärzte das nicht unter sich klären?

Mit den Angehörigen habe ich viel geredet in den letzten Tagen. Es ging darum, ein Konzept für die häusliche Versorgung aufzustellen; darum, wie mit der Patientin zu verfahren ist, wenn es ihr akut schlechter geht. Es ging – weil der Vorschlag halt zwischendurch kam und ich das dann schon besprechen muss – um eine mögliche Verlegung auf die Palliativstation. Und zwischendurch darum, immer wieder Worte der Hoffnung zu finden, ohne die Situation zu beschönigen.
Als die Patientin schon auf der Inneren ist, kommen die Angehörigen nochmal runter und klopfen vorsichtig im Arztzimmer an. Sie bringen ein kleines Dankeschön mit.
Manchmal hat dieser Job doch Sinn. Und wenn ich nur anderen Menschen ein ganz kleines bisschen in schwierigen Zeiten geholfen habe.




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Apropos schwere Zeiten… - dann ist da ja noch der Patient mit seiner Post – Stroke – Depression. Oft liegt er nachmittags mit Tränen in den Augen im Bett. „Gib ihm mal Mirtazapin“, sagte der Oberarzt auf der Visite. Nur leider sind Antidepressiva auch keine Wunderheilmittel und führen – wenn überhaupt – erst nach einigen Tagen zu einer Stabilisation der Stimmung.
Also knie ich jeden Nachmittag neben dem Bett, höre zu und erkläre dem Patienten von vorne, dass das Gehirn nach dem Schlaganfall noch recht erschüttert ist – das aber kein Grund ist, jetzt den Kopf in den Sand zu stecken. Das Gehirn knüpft neue Verbindungen und der Patient kann in der Reha lernen mit seinen Einschränkungen umzugehen. Und mit viel Übung wird er auch wieder Lebensqualität zurück gewinnen. Es wird besser – auch wenn er das jetzt noch nicht glaubt. Und verständlicherweise mit der Situation völlig überfordert ist.

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Eigentlich hätten wir Fortbildung am Mittwochmittag. Aber mit der halben Station an den Hacken, Gesprächen, die ich noch führen muss und Verlegungen bin ich vollständig eingespannt.
Der Kollege steht in der Tür. „Mondkind, gehst Du zur Fortbildung?“. Ich überlege. Der ehemalige Chef hält sie und nicht zu erscheinen, könnte ein negatives Licht auf mich werfen.
Der Oberarzt rast hinter dem Kollegen zur Tür herein. „Nein, die Mondkind geht nicht zur Fortbildung. Ich habe sie schon entschuldigt – die soll sich jetzt erstmal um ihr Zeug kümmern. Ein bisschen Elektrophysiologie kann ich ihr auch beibringen…“
Ja okay… - hat sich das also erledigt…

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Zwischendurch mal in die Mails schauen.
Der Oberarzt hat geschrieben… - aus dem Urlaub. Ein Erinner – mich. Kopf à Tischplatte. Ich sollte mich ja noch um einen Termin für einen Patienten im ambulanten Zentrum kümmern. Nachdem ich kurzzeitig tatsächlich überlegt hatte das zu vergessen, hatte ich die Unterlagen zusammen gesucht und mit einem Anschreiben dorthin gefaxt – einfach so einen Termin bekommt man da nämlich nicht. Der Oberarzt hatte einfach nur etwas von „erniedrigten Thrombozyten“ gemurmelt und ich hatte mich schon gefragt, wieso das jetzt einer onkologischen Ambklärung bedarf. In der Mail steht die Fragestellung dann ein wenig genauer.
Wenn es nicht Herr Oberarzt wäre, würde ich mich da nicht so zum Affen machen. Aber weil er es ist… - nehme ich den Telefonhörer, rufe da nochmal an und bitte die Arzthelferin noch einen Zettel mit den vom Oberarzt erwähnten Stichpunkten zu dem Fall zu legen.

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Donnerstagabend ist nochmal Fortbildung. In einer Gaststätte 200 Meter entfernt von meiner Wohnung. Und als ich um die Ecke auf den Hof einbiege, sehe ich den ersten Weihnachtsbaum des Jahres. Ein seltsamer Stich ins Herz. Bin ich bereit für den Dezember? Für den schwierigsten Monat des Jahres?
Irgendwie noch nicht.
Die Fortbildung ist anstrengend, aber nicht nur was die fachliche Weiterbildung, sondern auch was den neuesten Klatsch und Tratsch des Campus angeht, sehr lehrreich. Hinterher sitzen wir noch mit dem Chef in der Runde. Da kann man sich schwer abseilen. Aber um kurz nach 22 Uhr geht es wirklich nicht mehr. „Mondkind, gehst Du schon…?“ „Naja… - ich muss noch ein bisschen schlafen vor morgen früh…“, entgegne ich.

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Freitag. Ende der Woche. Denkt man.
Da die Chefarztvisite am Dienstag ausgefallen ist, wird sie heute nachgeholt. Wir sind zu Zweit auf der Station, gestern haben wir die halbe Station entlassen und sie anschließend prompt wieder aufgefüllt. Ich habe am Abend zuvor vier Lysen bekommen, die ich mir auch noch alle kurz angeschaut habe, um heute Morgen einen ungefähren Plan zu haben, wo es Schwierigkeiten gibt.
Mein letztes freies Bett wurde in der Nacht mit einem jungen Patienten aufgefüllt, der einen Krampfanfall bei bekannter Epilepsie hatte. Bis Anfang der Woche war er auf der Epilepsiestation gewesen, hatte zu Hause die Medikamente nicht genommen und schon haben wir den Salat.
Bei meinem morgendlichen Streifzug durch die Zimmer, um die Scores zu erheben, hält mich die Schwester auf. „Mondkind, der Patient möchte seine Medikamente nicht nehmen. Kannst Du nochmal mit ihm sprechen?“
Ich knie mich neben das Bett. Erschwerend kommt hinzu, dass der Patient offenbar immer noch etwas postiktal verwirrt ist und mich anschaut, wie ein Eichhörnchen wenn es blitzt, wie die Ergotherapeutin das später am Tag so schön formulieren wird.
„Was ist das Problem mit dem Medikament?“ frage ich. Er schaut mich lange an. „Wofür soll ich das denn nehmen?“, fragt er. „Naja… - Sie hatten heute Nacht einen Krampfanfall und das Medikament soll Ihnen helfen, das Gehirn ein bisschen zur Ruhe zu bringen. In der Messung der Gehirnströme zeigt sich, dass das Hirn immer noch feuert und die Wahrscheinlichkeit eines weiteren Krampfanfalls dadurch recht hoch ist. Und das wollen weder Sie noch ich – oder nicht?“ Der Patient zuckt mit den Schultern.
Ich nehme den Becher mit der Tablette vom Nachttisch. „Was meinen Sie – können wir uns darauf einigen, dass sie die erstmal nehmen und wir dann im Lauf des Morgens überlegen, was wir mit der Medikation machen?“, frage ich. Der Patient schaut mich an und fängt an zu zittern. Offensichtlich ist er völlig überfordert. „Was macht Ihnen jetzt so viel Angst bei dem Medikament?“, frage ich. Schweigen.
„Passen Sie auf – ich will Sie jetzt nicht komplett überfordern. Ich gehe jetzt mal weiter und komme in 10 Minuten nochmal. In der Zeit können Sie sich etwas sammeln und dann reden wir nochmal darüber…“, erkläre ich. „Ist das okay?“ „Ja…“, kommt ganz zaghaft.

„Chefarztvisite Mondkind… - Du hast keine Zeit für so etwas“, raunt es in mir aus dem Off. Habe ich auch nicht. Aber was soll ich machen? Nach 20 Minuten ist dann zumindest die Tablette drin. Das fehlte mir jetzt heute Morgen gerade noch. Generalisierter Krampfanfall auf der Station.
Der Frieden währt aber nicht lang. Keine 20 Minuten später ruft das EEG an. „Mondkind – ich habe hier gerade den Patienten im EEG – der zieht sich die Haube sofort wieder runter, er will das nicht…“ „Naja, aber so wie der gerade drauf ist, kann er auch gut und gerne im Status sein“, entgegne ich. „Wir brauchen das EEG.“ „Ja, aber dann müssen Sie kommen“, entgegnet die MTA. Also muss ich da nun hin. Stehe daneben, rede mit Engelszungen auf ihn ein und nach einer weiteren halben Stunde sitzt er ruhig mit der Haube auf dem Kopf und verkabelt auf dem Stuhl.
Und ich… - ich habe noch eine Stunde Zeit, um die verbleibende halbe Station zu visitieren und mich auf den Chef vorzubereiten.

Chefarztvisite. Revival. „Mondkind, der Patient mit seiner Epilepsie ist hier falsch. Der muss hier weg. Der war doch drüben auf der Epilepsiestation – verleg ihn dahin…“ Immer noch postikal verwirrt.
Also telefoniere ich nach der Visite. „Mondkind – unser Epilepsie – Spezialist ist krank. Da wird nichts passieren, wenn Du ihn hierher verlegst. Wir sind dünn besetzt. Und dann meckern die Patienten wieder, wenn hier nichts an Diagnostik läuft. Das musst Du erst mit ihm besprechen. Und wenn er dann immer noch will, dann kann er kommen.“, höre ich von der Kollegin, die gern mal hysterisch wird, wenn es um Verlegungen geht. Ich beschließe es mit Ehrlichkeit zu versuchen. „Ich weiß, dass Eure Station von der Besetzung her ein Nadelöhr ist. Ich habe nur das Problem, dass mein Oberarzt ihn unbedingt von der Station haben will und Du mir im Prinzip sagst, dass Du ihn nicht nehmen kannst. Was soll ich jetzt machen – er kann sich nicht zwischen den Stationen in Luft auflösen. Und ich bin ehrlich zu Dir – er war vorhin schon drauf und dran sich gegen ärztlichen Rat zu entlassen – ich kann nicht versprechen, dass das nicht eskaliert. Aber sollte das passieren, ist es ja nun eigentlich egal, ob es von hier aus oder von Eurer Station passiert. Ich schreibe Dir auch den Brief, wenn er geht…“
„Ja okay, dann schick ihn…“

Kurz nach 17 Uhr. Ich habe eigentlich seit einer halben Stunde Feierabend. In der Notaufnahme steppt allerdings der Bär; der Spätdienst und der Dienstarzt sind dort und ich bin die einzige Ärztin auf der Station. „Mondkind, wir haben eine neue Patientin mit Blutung und der Ehemann ist sehr schwierig. Ich weiß, Du hast Feierabend, aber kannst Du nochmal kurz mit ihm sprechen.“
Eigentlich wollte ich pünktlich nach Hause, weil ich um 18 Uhr einen Telefontermin mit dem Kliniktherapeuten habe, aber was soll man machen?
Ich gehe in das Zimmer.
Oha ja, „schwierig“ ist gar kein Begriff. „Was ist jetzt der weitere Plan?“ „Wie helfen Sie denn jetzt meiner Frau – Sie können sie doch nicht einfach nur ins Bett legen, Sie müssen doch etwas machen?“ (Dabei liegt sie bei Weitem nicht „nur“ im Bett…) „Ihre Kompetenz in allen Ehren – aber gibt es auch eine Klinik, die besser ist?“ Der Herr ist vollkommen aufgelöst und ziemlich passiv – aggressiv. Zumindest vermittelt der Kittel offensichtlich die Notwendigkeit ein bisschen Distanz zu halten, ansonsten würde er sich auf ein Küken im Job wie mich, mit Sicherheit nicht einlassen.
„Kommen Sie mal mit“, erkläre ich und nehme ihn mit ins Arztzimmer, wo wir mehr Ruhe zum Reden haben. Obwohl laut Dokumentation der Oberarzt alles schon erklärt hat, führe ich nochmals aus, was das Problem seiner Frau ist, warum wir nicht zaubern können und es ihr plötzlich wieder gut geht und dass sie einfach in einem sehr kritischen Zustand ist, wir aber gut auf sie aufpassen und alles therapeutisch Mögliche tun, um ihr zu helfen und darüber hinaus schon mit den Neurochirurgen in Kontakt stehen. „Meinen Sie, Sie können sich ein bisschen darauf einlassen uns zu vertrauen, dass wir Erfahrung mit solchen Patienten haben und wissen, was wir tun?“, frage ich, nachdem er mich ständig unterbricht und unterschwllig Vorwürfe erhebt. „Naja, ich bin ein misstrauischer Mensch“, entgegnet er. „Das merke ich“, antworte ich. „Das steht uns und vor allem Ihnen, gerade ein bisschen im Weg…“
 „Sie haben doch ein CT gemacht – kann ich die Bilder mal sehen?“, fragt er. „Die haben die Radiologen noch nicht bei uns ins System gestellt – ich habe Sie aber drüben schon gesehen“, erkläre ich so souverän wie möglich. Natürlich sind die im System. Ich habe sie auch schon an meinem PC gesehen und wenn ich ihm jetzt zeige wie ernst es ist, dreht er völlig durch.
„Meine Frau ist ja transplantiert – die braucht um Punkt 20 Uhr ihre Medikamente“, unterrichtet er mich. „Okay – das lässt sich einrichten. Haben Sie den Medikamentenplan?“ „Wir sind hier nur auf Urlaub“, entgegnet er, als sei das eine Rechtfertigung keinen Medikamentenplan für Notfälle mitzunehmen, wenn es so wichtig ist. „Und haben Sie Angehörige oder Nachbarn, die den mal aus der Wohnung holen und ihn abfotografieren können?“, frage ich. „Nein“, entgegnet der Ehemann. Ich versuche ihren nach der Transplantation behandelnden Arzt anzurufen, aber es ist Freitag nach 17 Uhr. Was ich nicht weiß ist, dass die in der Notaufnahme auch schon mit Hochdruck daran arbeiten. „Sie müssen irgendetwas machen“, erklärt der Ehemann. „War Ihre Frau in letzter Zeit im Krankenhaus?“, frage ich. „Ja, vor ein paar Jahren…“, entgegnet er. „Hat sich seitdem etwas an der Medikation geändert?“, frage ich. „Nein, ich denke nicht“, entgegnet er. Ich suche die Nummer des Krankenhauses, rufe über die Pforte an und lasse mich mit der Notaufnahme mit dem diensthabenden Kollegen verbinden. Er sucht nach Briefen und findet neben ein paar Ambulanzbriefen einen mit einem Medikamentenplan. „Können Sie den bitte ganz schnell her faxen – die Patientin braucht in zwei Stunden die Medikamente.“ „Ja, mache ich…“, sagt der Kollege.
Jetzt habe ich zumindest ein Stein im Brett beim Ehemann.

Um kurz vor 18 Uhr ruft mich der Arzt der Patientin an. Er ist nett, liefert viele wichtige Informationen aber sehr ausschweifend. Mein Blick fällt immer mal panisch auf die Uhr. Wenn der Herr Klinik – Therapeut anruft und die Leitung belegt ist, wird er es sicher nicht fünf Mal versuchen. Wenige Minuten vor 18 Uhr legen wir auf.
Um kurz nach 18 Uhr klingelt das Telefon. Das wird dann wohl Herr Kliniktherapeut sein. Ich gehe dran. „Ja Mondkind, ich bin es nochmal“, sagt der Oberarzt, der schon im Auto auf dem Weg nach Hause sitzt. Nee, oder? Nicht sein Ernst. Es gibt einen Spätdienst. Warum ruft er mich an? Warum glaubt er überhaupt, dass der Frühdienst nach 18 Uhr noch da ist?“
„Gibt es noch Fragen?“, fragt er, nachdem er das gesagt hatte, das er los werden wollte. Oh ja, es gibt ne Menge Fragen, aber ich brauche eine freie Leitung. „Nein, gibt es nicht“, entgegne ich. „Ich wünsche Dir ein schönes Wochenende“, sage ich, um das Gespräch zu beenden.
Der Spätdienst rast auf die Station. Shit… - ich habe überhaupt keine Zeit, um mit dem Therapeuten zu telefonieren, aber es ist wichtig. Ich bin noch dabei, dem Kollegen kurz alles zusammen zu fassen, als das Telefon schon wieder klingelt. „Falls noch etwas ist – das ist die Nummer des Arztes der Patientin, der ist noch bis 20 Uhr erreichbar – ich kümmere mich sonst selbst in einer Stunde weiter um den Fall““, erkläre ich und schiebe dem Kollegen einen Zettel unter die Nase, ehe ich auf den grünen Hörer drücke. „Danke Mondkind, ich glaube ich muss Dir nächste Woche Pralinen mitbringen…“, erklärt der Kollege.
„Der Herr Klinik – Therapeut“, meldet sich der Mensch in der Leitung. 

Ich mag diese Tee - Buch - Pausen - Momente...
Am Wochenende...



***
Eigentlich hatte ich das Telefonat mit dem Therapeuten etwas vorbereiten wollen. Schon seit Tagen. Aber es war nur Stress und ich war froh, wenn ich zwischendurch mal ein wenig schlafen konnte.
Ich rase schnell in Richtung Bereitschaftsraum und versuche mich ein wenig auf mich selbst zu konzentrieren.
Rollenwechsel innerhalb von Sekunden.
Plötzlich muss ich nicht mehr die starke, allwissende Ärztin sein, die die Angehörigen auffängt, beruhigende Worte findet, heute selbst mehr psychologisches Feingefühl, als ärztliche Kompetenzen an den Tag legen muss – plötzlich darf meine eigene Zerbrechlichkeit ans Licht kommen.
Normalerweise lege ich solche Gespräche auch ans Ende des Tages, wenn ich hinterher direkt Zeit habe, die Schlüsselerkenntnisse zusammen zu fassen, ehe sie wieder zwischen den Hirnwindungen verloren gehen. Aber heute klappt das offensichtlich nicht

Was ich sehr schätze an dem Herrn Klinik – Therapeuten ist, dass es keine Tabu – Themen gibt. Nicht so, wie die Therapeutin, die mir immer wieder klar macht, was alles nicht so sein darf. Bei ihm darf ich sagen, dass es in meiner Planung noch keinen Januar gibt. Und es kann nur die Angst vor allem, was da im Job noch auf mich zukommt, sein. Es kann weniger real sein, als es sich für mich anfühlt. Aber es ist gerade bedrohlich für mich. Und das in die Mitte von uns beiden zu stellen, ist schon unglaublich entlastend. Da trägt Jemand mit. Zumindest für den Moment.

Der Herr Kliniktherapeut kehrt die guten Momente heraus. Sagt, dass ich dankbar sein kann, dass es die gibt. Sie als Geschenk interpretieren soll. Und dass jedes Tief nach einem guten Moment eigentlich nur „Kritiker – bedingt“ ist. Und trotzdem fällt es so schwer, die guten Momente wirklich „nur“ als „gute Momente“ zu sehen, wenn das alles ist, was ich habe, um es der Negativität entgegen zu setzen. Aber er hat ja Recht.
„Ich denke, der Namen des Herrn Oberarztrs wird in der nächsten Zeit noch öfter fallen, oder?“, fragt er.
„Ich glaube schon, ja…“, sage ich leise. Scheiße man… - ich wünschte auch, die Dinge wären anders gelaufen und er würde nicht so viel mittragen, ohne das zu wissen.

Irgendwann zwischendurch wird die Verzweiflung mal etwas lauter. „Wissen Sie – das ist ja irgendwie ein bisschen die Frage, wie viel man aushalten muss. Alle behaupten immer, ich müsse endlich mal aus meiner Opferrolle raus kommen, aber das ist doch irgendwie nicht richtig. Wäre ich in der Opferrolle geblieben, wäre ich nicht dort, wo ich heute bin. Ich habe immer – trotz aller Dunkelheit – für eine Zukunft gekämpft. Und trotzdem frage ich mich, wie viel man aushalten muss. Wann bin ich berechtigt, die Reißleine zu ziehen? Wann darf ich sagen, dass ich das so einfach nicht mehr aushalte und eine Pause von dem Wahnsinn brauche?“
„Das ist eine gute Frage…“, entgegnet er. Eine Antwort hat er auch nicht. Das Problem ist, dass „die Reißleine ziehen“ am Ende immer Versagen ist. Mein Oberarzt wird mir unterstellen, in der Opferrolle zu bleiben, der Chef wird mich als ungeeignet für das Team einstufen. Weil alles was davor war, Selbstverständlichkeit ist. Dass das schon alle Grenzen längst überschritten hat, sieht ja keiner. Weiß keiner. „Mondkind – Deine Strategie in Beziehungen zu treten, ist Dein Kreisen um Dich selbst…“, unterstellte mir der Oberarzt letztens mal. Für einen Teil der Menschen mag das richtig sein, aber im Job bin ich eben doch die selbstbewusste Ärztin, von der man nicht meint, dass das Leben und sie so auf Kriegsfuß zueinander stehen.
Der Kliniktherapeut bekräftigt mich aber zumindest darin, dass ich eine Menge erreicht habe, obwohl es mir nicht gut ging.
„Und irgendwie wird mir langam auch bewusst, was ich da alles weg schmeißen würde, wenn es jetzt einfach nicht mehr weiter gehen würde“, erkläre ich, während ich mich im Spiegel betrachte. Blauer Kasack, Kittel darüber, Telefon am Ohr und Stethoskop in der Tasche. Das ist doch nicht Nichts. Und vielleicht – wenn irgendwann die Hoffnung und die Stützen weg fallen, kann mich vielleicht das retten, was ich mir so lange erarbeitet habe. Mein eigener Weg. Die Rückschau, auf diesen Hürdensalat, den ich bewältigt habe.

Ehrlich gesagt fände ich die Idee ab Mitte Dezember in die Klinik gehen, wie Frau Therapeutin das mal irgendwann vorschlug, nämlich gar nicht so schlecht. Ich will dieses Drama nicht erleben und eigentlich – wenn ich mir selbst etwas wünschen dürfte – dann wäre es, dass ich den Jahreswechsel sicher verleben kann. Dass ich nicht Angst haben muss, das nicht zu überleben.
Aber das wäre Versagen, oder?

Ich weiß nicht mehr, wie wir darauf kommen, aber irgendwann reden wir darüber, was fehlen würde, wenn ich nicht mehr da wäre. „Das wäre ein großer Verlust für alle Patienten“, erklärt Herr Kliniktherapeut. Und von da aus – ich weiß nicht mehr wie – kommen wir irgendwann auf ihn zu sprechen. Dass er froh ist, mich kennen gelernt zu haben und dass er viel von mir gelernt (war es das Wort?) habe. Das verstehe ich nun überhaupt nicht. „Naja… - sehr viel mehr, als dass ich Sie ungefragt mit Mails bombardiert habe, habe ich nun auch nicht getan“, erkläre ich. „Sie haben irgendwie eine besondere Art“, sagt er, als sei das eine Erklärung.
Zum ersten Mal höre ich das nicht. Der Oberarzt sagte letztens „Mondkind, irgendwie schaffst Du es ja die Leute dazu zu bringen, ganz viel für Dich zu tun…“, was sich irgendwie sehr negativ anhörte. Und von der Pflege habe ich in der Klinik damals auch gehört, dass ich irgendwie etwas Besonderes sei. Genau definieren konnte mir das noch keiner. Und ich… - bin dezent überfordert damit. Denn außer, dass ich immer nur ziemlich viel darüber rede, was alles nicht geht und dann funktioniert es am Ende doch irgendwie, mache ich nun auch nicht. Eher erlebe ich mich selbst sehr als Belastung für mein Umfeld.

So richtig eine Lösung, wie ich durch den Dezember kommen kann, finden wir nicht. „Im Prinzip ist mein Job als Therapeut ja gar nicht so schwer", erklärt er. „Ich kann ja immer nur Gedankenanstöße geben…“, sagt er.
Und das ist wahrscheinlich das Problem. Ich bin selbst für mich verantwortlich und muss mich selbst einfangen. Ich muss selbst leben wollen. Alle an mich heran getragenen Vorschläge überhaupt an mich heran lassen und nicht im Stillen argumentieren: „Boa Mondkind, nee. Das zu versuchen würde bedeuten, weiter Leben zu müssen und das wollen wir doch auch nicht…“
Und dann ist es so ein seltsamer Schwebezustand im Dazwischen. Irgendwie kann ich nach all den Jahren des Versuchs ins Leben zu finden nicht loslassen, aber wirklich bereit zum Leben bin ich auch nicht. Und dann stehen wir hier – bewegen uns weder vorwärts noch rückwärts. Weil die Kraft und der Mut fehlt, Dinge wirklich nochmal zu ändern, vollkommen über den Haufen zu schmeißen, vielleicht mit den Menschen, die mir wichtig sind nochmal wirklich darüber zu reden, was machbar ist, gegebenenfalls nochmal den Ort zu wechseln. Und andererseits existiere ich eben doch noch, nehme die Schwere wahr, die Unentschlossenheit und verharre letzten Endes in der Passivität.

„Brauchen Sie noch etwas?“, fragt er. Standardfrage zum Schluss. Ähm… ja. Nur, darf ich etwas brauchen…? Ich zögere ein wenig, ehe ich sage, dass es sehr nett wäre, wenn wir uns Mitte Dezember nochmal sprechen könnten. Weil es dann wirklich schwierig wird. Unterirdische Besetzung auf der Station, Spätdienste in der Notaufnahme, Weihnachten vor der Tür und die Frage, wie ich den Jahreswechsel schaffen kann.
„Können Sie mir versprechen, dass Sie es bis dahin schaffen?“, fragt er. „Ich hoffe es“, entgegne ich. Und bin ihm dankbar, dass er nicht anfängt an der Aussage herum zu pfeilen, bis sie therapeutisch passt.

Danach düse ich wieder zu meinem Arbeitsplatz, beschäftige mich weiter mit der Patientin, fülle ein paar QS – Bögen aus, korrigiere Briefe, dokumentiere und um kurz vor 21 Uhr kann ich wirklich nicht mehr. Obwohl ich nicht fertig bin, aber wenigstens für Montag sind die Briefe geschrieben.

Erst in der Nacht wird mir einfallen, dass ich vergessen habe, etwas zu dokumentieren. Das ist wichtig für die Visite, wer auch immer meine Patienten übernimmt. Da bekommt der Oberarzt am Montagfrüh eine Mail in der Hoffnung, dass er da ist. Ich werde deshalb heute nicht auf den Campus laufen.

***
So… - und jetzt? Eigentlich hätte ich bis 13 Uhr mit dem Fahrrad im Fahrradgeschäft sein müssen. Aber ich musste erst mal ein wenig zur Ruhe kommen. Einkaufen muss ich noch, die gesamte Wohnung putzen (ich habe nicht mal den Geschirrspüler ausgeräumt, oder die Wäsche abgehängt…) und mich auf meine beiden Spätdienste nächste Woche vorbereiten. Ich weiß nicht, ob ich da in die Notaufnahme muss, aber ich sollte mir zumindest mal meine Flussdiagramme für die wichtigsten Symptome anschauen.
Ansonsten muss ich mich um meine Technik kümmern. Das Handyladekabel hat einen Wackelkontakt und der PC – Akku funktioniert ohne Strom circa drei Minuten. Die Steckdosen sind immer noch nicht in der Wand… joa…
Und… - ich habe ein Päckchen bekommen. Von wem auch immer. Das muss ich noch heraus finden. Es lag keine Karte oder dergleichen dabei – ich habe also keine Ahnung. Aber ich freue mich darüber. Es ist sehr lieb – von wem auch immer… 

Mondkind

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