Springer - Dasein und die Klinik - Frage


Ich glaube, ich werde nie wieder die ersten beiden Tage der Woche Urlaub nehmen.
Das hat mich nämlich in die unglückliche Lage gebracht, für den Rest der Woche Springer zu sein und immer die Patienten des Kollegen zu übernehmen, der am Morgen aus dem Dienst gegangen ist. Das summierte sich dann nur über die letzten drei Tage auf, weil natürlich unter sämtlichen Anforderungen mein Name stand und ich somit die telefonische Ansprechpartnerin war, bis ich dann heute quasi für ein Dreiviertel der Patienten Rede und Antwort stehen können musste.

Mittwoch ging es ja noch ganz gemütlich los. Abgesehen davon, dass der Kollege vergessen hatte einen Brief zu schreiben, war der Tag relativ ruhig.

Donnerstagmorgen wendete sich das Blatt dann schon. Der diensthabende Kollege war noch im anderen Gebäude unterwegs und ich hatte kaum meine roten Schuhe zugebunden, als mich die Pflege ansprach: „Mondkind, da ist ein Patient, der einen Herzultraschall bekommen soll – aber der ist noch gar nicht aufgeklärt…“ Super… - also hat der Kollege am Vortag mal wieder gepennt. Und da der Patient aphasisch und somit nicht aufklärungsfähig ist, haben wir ein ernstliches Problem. Also rufe ich um kurz nach sieben Uhr in der Früh die Ehefrau an und schmeiße sie damit erstmal aus dem Bett. Verständlicherweise rechnet sie um diese Uhrzeit auch mit schlimmeren Dingen, als einer fehlenden Aufklärung. Nachdem ich ihr mündliches Einverständnis habe, kann ich den Patienten dann auch zu seinem Ultraschall schicken.

Und dann gibt es da noch die Patientin, die eigentlich an dem Tag entlassen werden sollte. Nur leider hatte sie dann am Morgen leicht angestiegene Entzündungsparameter. „Mondkind, versuche die Patientin mal an die Internisten zu verkaufen. Die sollen sie direkt übernehmen. Du kannst die steigenden Entzündungsparameter ins Feld führen, außerdem hat sie eine chronische Niereninsuffizienz und eine Anämie, die man mal abklären könnte…“
Herr Oberarzt – das ist doch jetzt nicht Ihr Ernst… ? Die Frau ist quitschfidel und kein Internist der Welt wird Laborparameter behandeln… Das sage ich natürlich nicht, sondern hoffe, dass ich einen Internisten in die Leitung bekomme, den ich aus dem PJ kenne und der Erbarmen mit mir hat.
Aber leider kenne ich den Internisten nicht. Und höre mir eine Belehrung vom Feinsten an. „Sie haben ja nicht mal ein Röntgen – Thorax gemacht. Und Fieber hat die Frau auch nicht. Wir würden ihr hier nicht mal eine Antibiose ansetzen. Und was die Nierenwerte betrifft… - die sind so gut wie seit drei Jahren nicht mehr – haben Sie sich mal alte Labore angeschaut? (Ja habe ich, aber ich kann ja nichts für die Bitte des Oberarztes…) Ich kann nicht zaubern  - die Frau hat eine chronische Niereninsuffizienz und das können wir hier nicht ändern. Aber das ist ein stabiler Befund. Gleiches gilt für die Anämie. Es gibt absolut keinen akuten Behandlungsgrund und damit keinen Grund, die Frau zu übernehmen. Dieses Konsil ist reine Zeitverschwendung. Machen Sie morgen erstmal eine Labor - Kontrolle und ein Röntgen – Thorax und sollte da irgendetwas raus kommen – was ich nicht glaube – dann können Sie nochmal anrufen. Okay?“
Ich versuche den Oberarzt noch irgendwie zu rechtfertigen – ich kann ja schlecht behaupten, dass das alles nicht meine Idee war. Aber das nützt auch nichts mehr. Ich hoffe, dass er meinen Namen ganz schnell vergisst.

Und heute… - heute haben wir dann mal den Vogel abgeschossen.
Noch bevor der Tag überhaupt richtig los geht, ruft mich der Oberarzt an. „Mondkind, der Brief von der Patientin. Da fehlen noch die EEG – Befunde…“ Was für ein Zufall… „Ja ich weiß, aber sonst ist der Brief eigentlich fertig…“, entgegne ich. „Und die EEG – Befunde kann man ja noch einfügen – ich bin darin ja noch nicht so gut“, setze ich hinzu. „Genau Mondkind, da kannst Du ja mal herum telefonieren, ob Dir jemand dabei hilft…“ Super Idee Herr Oberarzt… Was hindert ihn eigentlich daran zu sagen: „Komm mal rum Mondkind – ich erkläre Dir zumindest mal kurz, was Du für Filter und Ansichten in diesem Programm einstellen musst und den Rest kannst Du ja mit Deinen Büchern lernen…“ Ich schreibe es als ersten Punkt auf meine To – Do – Liste für heute.

Im Lauf der Visite häufen sich dann noch Angehörigengespräche, eine Doppler – Untersuchung, die ich machen muss, weil unsere Ärztin im Ultraschall heute nicht da ist und zwei (!) Lumbalpunktionen an. Eine war so nicht vorhersehbar, aber die andere steht schon seit Anfang der Woche im Raum und ich bin jetzt diejenige, die das am Ende der Woche machen soll… ??? Da muss aber erstmal die Ehefrau davon überzeugt werden, weil der Patient nicht aufklärungsfähig ist.
Augen zu und durch… - was anderes kann ich jetzt ohnehin nicht tun.
Am Nachmittag kläre ich die erste Patientin für die Lumbalpunktion auf und möchte die Punktion direkt im Anschluss durchführen. „Mondkind, wir haben jetzt neue Nadeln – die sind anders“, klären mich die Schwestern auf. Die sind so anders, dass man damit genau gar keine Führung hat. Und prompt geht die ganze Sache schief. Ich bitte die Schwestern nochmal eine „alte“ Nadel zu suchen und sie finden doch tatsächlich noch eine. Und damit sitzt dann auch tatsächlich der zweite Versuch auf Anhieb. Es ist immer so erleichternd, wenn mir die klare Flüssigkeit entgegen fließt.

Die Ehefrau des zweiten Patienten kann sich – wie schon im Verlauf der ganzen Woche – nicht zu einem „Ja“ zur Lumbalpunktion durchringen. Ich verzichte darauf, mit Engelszungen auf sie einzureden. Dazu habe ich zum Einen keine Zeit, zum Anderen ist der Patient auch absolut immobil und wie ich ihn punktieren soll, weiß ich ohnehin nicht.

Es wird Zeit, mit meinem dritten Schätzchen in den Ultaschall zu gehen. Immerhin sieht es nicht so aus, als würde er darin gleich sterben, aber ich nehme trotzdem vorsichtshalber einen Kollegen mit. Ein bisschen habe ich aber scheinbar wirklich schon gelernt. Die Vertebralarterien finde ich nicht – da hilft der Kollege aus, aber die Karotiden kann ich gut schallen und sogar das Auseinanderhalten von Interna und Externa, die nur wenige Millimeter nebeneinander liegen, funktioniert ganz gut.
Und dann schreibe ich meinen ersten, eigenen Dopplerbefund.

Aber manchmal frage ich mich, was die Kollegen machen, die hier nicht schon im PJ Lumbalpunktionen und Ultraschall gelernt haben…

Spät nachmittags. „Mondkind, ich hatte Dich vorhin mal angerufen wegen des Briefs…“, kommt mir der Oberarzt entgegen. Stimmt… - irgendwann während der ersten Lumbalpunktion hatte das Telefon geklingelt. „Hast Du die EEG – Befunde…?“ Das ist nicht sein Ernst, oder? Ich habe heute sechs neue Patienten, mehr Funktionsdiagnostik als alle anderen und zudem noch „Altlasten“ aus den letzten Tagen. So wollten die Gefäßchirurgen einen Patienten übernehmen, bei dem ich erstmal lange grübeln musste, weshalb der überhaupt bei uns ist und mit den Unfallchirurgen bin ich noch an einem Patienten dran, der gestürzt ist.
„Dazu kam ich noch nicht, aber ich kümmere mich darum“, entgegne ich – wohlwissend, dass die Patientin schon längst entlassen sein müsste. Aber gelogen ist es ja nicht. Als ich viel später am Abend nochmal in den Brief schaue sehe ich, dass mein gelb hinterlegtes „Im EEG zeigte sich…“ einfach gelöscht wurde und das EEG mit keiner Silbe erwähnt wurde. Ich weiß schon, wer in wenigen Tagen einen Brief auf dem Schreibtisch vorfindet, auf dem mit gelben Textmaker markiert ist „bitte befunden, unterschreiben und zurück ans Schreibbüro…“ Das sind alles Helden hier…

Bis in die späten Abendstunden habe ich noch meinen Spaß mit Neuaufnahmen und Angehörigen, die mich von den Vortagen auf dem Flur erkennen und ansprechen. Und mit den Kardiologen muss ich noch ein paar Dinge klären wegen eines Patienten mit einem Thrombus im Vorhof. „Warum kommt denn da keine Info an mich?“, musste ich mir heute in einem vorwurfsvollen Ton vom Oberarzt anhören, als ich es auf der Visite erwähnt habe. Dass das CT schon vor ein paar Tagen gelaufen ist und es bisher keiner an ihn heran getragen hat – dafür kann ich ja relativ wenig. Er kann sich schon freuen, dass ich es heute ausbade, wo ich die Patientin übernommen habe.

Und irgendwann um kurz vor 19 Uhr ist auch dieser Tag beendet. Ich hoffe, ich habe im Gefäßultaschall nichts übersehen – kontrolliert hat es nämlich keiner. Und ich hoffe, dass bei einem anderen Patienten eine Blutgasanalyse nicht gelaufen ist, wird mir nicht nächste Woche das Genick brechen. Die Schwester wollte es nicht machen, da sie meinte, dass es ohnehin keine Konsequenz habe, wenn der Patient in seiner Patientenverfügung eine Behandlung auf der Intensivstation ablehnt. Und ich werde mich sicher nicht mit den Schwestern herum streiten und schon gar nicht um 19 Uhr.



***

Auch privat war diese Woche ziemlich turbulent.
Zu erwähnen ist, dass ich jetzt eine Küche habe. Nur leider wurden zum Teil die falschen Teile bestellt. Deshalb müssen irgendwann die Arbeitsplatten nochmal ausgetauscht werden und die Wandverkleidungen sind auch noch nicht dran – es gilt also aufzupassen, dass die weiße Wand nicht leidet von Fettspritzern oder vom Spülen. Außerdem war man der Meinung, dass man die Hälfte der Steckdosen zwar heraus rupfen könne, aber fest machen müsse man sie ja nicht mehr. Also habe ich jetzt in der halben Küche keinen Strom und muss einen Elektriker bestellen. Joa… - hätte besser laufen können, nicht wahr?

Auch eine Freundin hat diese Woche ziemlich viel los getreten. Da es mir psychisch ja nun eher nicht so gut geht, hat sie mal die Therapeutin angerufen und davon unterrichtet. Also habe ich mit ihr im Endeffekt noch zwei Mal telefoniert.
Wirklich schlauer sind wir dabei nicht geworden.

Ich habe nochmal mit meinem Oberarzt geredet, um heraus zu finden, womit im Fall einer Krankschreibung jetzt zu rechnen wäre und wir sind darauf gekommen, dass der Chef eben schwierig einzuschätzen ist. Es könnte sein, dass ich meinen Job verliere und das ist im Moment eben ein absolutes Ausschlusskriterium. Denn selbst, wenn ich irgendwann einsehen würde, dass ich an diesem Krankenhaus nicht finde, was ich suche, sind wir hier auch nicht in der Situation, fünf Krankenhäuser in einer Großstadt zu haben. Ein neuer Job bedeutet hier mitten im Nirgendwo wieder einen Umzug und das ist im Moment finanziell nicht mehr machbar.
„Mondkind, ich habe noch nie Jemanden, wie Dich gesehen. Der so viele Insuffizienzgefühle hat und das alles dennoch so souverän meistert. Da passt doch irgendetwas nicht zusammen. Das kann doch alles gar nicht sein. Es kann doch nicht sein, dass alles immer schwierig ist und nicht funktioniert bei Dir und dann sitzt Du hier und es geht doch…“
Aber es ist ja so, Herr Oberarzt. Und vielleicht wäre dann die Konsequenz, mich nicht noch weiter zu stressen („Mondkind, ich nerve Dich absichtlich ein bisschen mit den EEGs, damit Du es schnell lernst…“ – Danke, ehrlich…), sondern mir mal ein bisschen Zeit zu geben. Ruhe, anzukommen. Die Gewissheit, erstmal auf dieser Station bleiben zu dürfen. Erstmal hier mit dem Alltag zurecht zu kommen, ehe ich dann Dienste machen muss.

„Sie waren auch schon mal konstruktiver unterwegs“, wurde ich heute von der Therapeutin belehrt, als ich gefragt habe, ob das nicht nach so vielen Jahren und nach so viel Drehen und Wenden der Situation okay ist, wenn das einfach mal ein Ende hat. „Ich glaube, die Suizidgedanken sind ja nur ein Symptom. Das ist ja wie beim Bluthochdruck. Das ist auch ein Symptom. Das würden Sie doch auch behandeln…“ Oh man, Frau Therapeutin… - mal wieder mit den eigenen Waffen geschlagen.
Aber wir kommen hier nicht weiter. Mit diesem Stresspegel, der fehlenden Unterstützung vor Ort und der Einsamkeit, fühlen sich die Tage zählbar an. Aber Klinik würde eventuell bedeuten, das letzte Stück Normalität zu verlieren, das ich habe.
Ich glaube die Angst vor genau dieser Situation wie sie jetzt ist, hat den Zustand damals in der Klinik kurz vor der Entlassung so dekompensieren lassen. Ich wusste, dass ich in dem Fall einfach nur noch wenige Chancen habe. Und genau da sind wir jetzt.

„Mondkind, glaubst Du wirklich, dass nochmal Klinik es bringen würde? Hat Dich denn der letzte Aufenthalt wirklich weiter gebracht?“
Der Oberarzt stellt schon die richtigen Fragen. „Naja… - Schema – Therapie ist schon interessant. Ich weiß immer mehr, warum es mir geht, wie es mir eben geht. Aber da fehlen die Lösungen. Die emotionalen Löcher, die kann ich selbst nicht stopfen. Und da es niemanden gibt, der das übernehmen kann (doch, den gäbe es schon, aber das kann ich ihm ja nicht sagen…), werden die auch immer bleiben. Und damit kann ich nicht mehr leben. Das tut in der wachen Zeit des Tages nur weh.“

Frau Therapeutin meint, wenn mich die Suizigedanken morgens wecken und abends ins Bett begleiten, dann darf man das schon nochmal versuchen mit der Klinik. „Ich habe aber Angst, dass ich eigentlich nur zu faul zum Arbeiten bin…“, werfe ich ein. „Das sind dann wieder Ihre Denkmuster. Und daran kann man arbeiten…“, erklärt sie. Allerdings habe ich bisher noch nie von ihr gehört: „Ich glaube, Sie wären aktuell in der Klinik besser aufgehoben.“ Ich weiß nicht mal, wie sie das sieht. Ob sie da eine Indikation sieht, oder nicht. Ich versuche das immer, aus ihr heraus zu bekommen, aber das Einzige, das ich höre ist, dass ich das selbst entscheiden müsse. Aber dann kann es ja immer noch ein „Eigentlich glaube ich, die Frau Mondkind übertreibt etwas. Aber wenn sie das unbedingt will, dann kümmere ich mich mal darum“ sein. Wer weiß, ob es dann nicht doch nicht gerechtfertigt ist? Und ich Leuten, die den Platz wirklich brauchen, den nicht weg nehme… ? Ich glaube, ich bräuchte das wirklich mal schriftlich von ihr, dass es okay ist.

Ich soll darüber nachdenken, sagt sie. Ist ja nicht so, als würde ich nicht genug denken.

Erstmal denke ich jetzt ans Bett. Die Woche hat gereicht. Obwohl sie nur drei Tage lang war.
Und nächste Woche… - nächste Woche rocken wir die Station wieder zu Zweit. Man darf sich freuen… - nicht.

Mondkind

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