"My blood"


But sometimes there's more to the story
And we don't know what's going on in
That home, behind closed doors
Maybe there is something wrong
So be brave, my little one
I know you can be strong
'Cause you are just like your mom

Say my name
When you're hurting, darling
I'll take the demons away
But you know there will come a day
When I won't be there, but
I know that you'll be okay
'Cause you are my blood
You're my blood

(Westlife – my Blood)

Das würde man dann wohl „Urvertrauen“ nennen, oder?
Erst genug mit auf den Weg bekommen, um das Vertrauen in sich selbst zu gewinnen und dann ohne die Eltern die Flügel aufspannen und fliegen.

Ich versuche auch die Flügelchen aufzuspannen. Ohne je das Vertrauen darin gefunden zu haben, dass ich dabei nicht abstürze. Ohne je gelernt zu haben, dass ich selbst zu sein, manchmal schon genug ist. Ohne je zu wissen, dass da jemand ist, der die ersten zaghaften Versuche auffängt. Oder zumindest mal Rückmeldung geben kann.

Wochenende…
Nachdem ich mich am Samstag aufgerafft hatte, war ich noch schnell im Bekleidungsgeschäft. Ich brauche dringend einen neuen Winterschlafanzug. Meiner ist so viele Jahre getragen, dass er förmlich zerfällt. Aber mal abgesehen davon, dass ich relativ schnell festgestellt habe, dass ich dort nicht finde was ich suche, lief Weihnachtsmusik. Ein Lied halte selbst ich noch aus. Aber beim zweiten Weihnachtslied, musste ich den Laden dann verlassen.
Ich kann das nicht. Wie kann schon wieder ein Jahr vorbei sein? Wie kann schon wieder dieses ganze Weihnachts – Drama anfangen…?

Sonntag. Spät nachmittags.
Ein Blick in die whatsApps.
Dad hat geschrieben. „Wegen Deinem Wohnzimmer…“ geht es los. Und dann „Wir können ja nächste Woche mal telefonieren…“
Meine Nackenhaare sträuben sich nach oben. Von Zeit zu Zeit ist das wohl die Pflicht des Kindes, aber ich will doch nicht telefonieren. Ich will mir nicht dasselbe anhören müssen wie immer: „Mondkind, Du hast Dich noch nicht um Dein Wohnzimmer gekümmert. Du musst das jetzt mal machen. Da ist ja die Tochter meiner Freundin schneller im Wohnung einrichten – dort wollen wir dieses Jahr Weihnachten feiern. Und sie ist erst im November umgezogen…“
Ja, aber sie hat auch Hilfe von meinem Vater und seiner Freundin. Und sie arbeitet nicht im Schnitt 12 Stunden am Tag. Sie hat keine Menschenleben auf ihren Schultern. 

Sonnenuntergang von heute.

Ich habe morgen meine ersten Spätdienste. Mal abgesehen davon, dass ich mit meinem regelmäßigen Erwachen um spätestens halb 6 relativ schnell sehr müde sein werde, wenn ich nicht pünktlich ins Bett komme, bin ich morgen und übermorgen Springer für die Stroke Unit, die periphere Station und die Notaufnahme. Und da Einarbeitung ja schließlich vollkommen überbewertet wird und ich außer auf der Stroke Unit noch nirgendwo gearbeitet habe, werden schon einfache Verlegungen auf die periphere Station morgen Abend ein Problem. Denn während wir noch mit Papierkurven arbeiten, sind die Kollegen digital unterwegs. Also müssen die Medikamente digital ins System. Und ich weiß nicht, wie das geht.
Ich weiß überhaupt nicht, was da morgen auf mich zukommt. Außer, dass ich um 12 Uhr da sein muss und um 19 Uhr Scores machen muss, weiß ich nichts.
Also war ich heute hauptsächlich damit beschäftigt, mich durch ein paar Flussdiagramme hinsichtlich differentialdiagnostischer Überlegungen zu wühlen – falls ich morgen in die Notaufnahme muss. Und EEG habe ich natürlich gemacht.

Aber um zurück auf meinen Vater zu kommen. „Mondkind, Du hast wenigstens Eltern“, formulierte der Neuro – Oberdoc letztens. Und da traut man sich dann auch nicht mehr dagegen zu argumentieren. Aber ehrlich gesagt bringt mich das nicht weiter, wenn man immer – wirklich immer – nur hört, was man alles nicht macht. Wenn es nie okay ist. Nie genug.
Ich würde mir so sehr wünschen, dass er sagen würde: „Hey Mondkind, dann rufe ich Dich morgen mal 10 Minuten an und dann erzählst Du mir mal kurz, wie Du das überlebt hast…“ Ich würde mir so sehr wünschen, dass er das, was ich hier mache, mal ein bisschen wertschätzt. Und es nicht immer nur heißt: „Mondkind, Du musst pünktlich nach Hause gehen – sonst kommst Du ja mit der Wohnung nicht weiter.“ „Mondkind, Du musst die Überstunden doch irgendwo aufschreiben…“ „Mondkind – sind eigentlich die Steckdosen schon wieder in der Wand?“ Ist das alles so unfassbar wichtig, wenn ich das Leben zu balancieren allein eine riesige Herausforderung ist?
Jedes Telefonat ist ein bisschen wie ein Verhör.

Da muss ich noch mal etwas dagegen stellen: Das habe ich neulich im letzten Jahresrückblick gefunden – den hatte ich nochmal gelesen, weil ich irgendwie mit dem Kliniktherapeuten darauf gekommen war, dass das immer ein recht langer Text wird.
Der Neuro - Oberarzt hat es in beeindruckender Weise geschafft, mich als Menschen mit allen Eigenschaften zu akzeptieren, mich zu fördern und zu fordern und gleichzeitig ein Verbündeter und ein „Ersatzpapa“ zu sein, wie er das irgendwann selbst mal formulierte.
Zwischen fachliche Erörterungen streute er manchmal einfach so die Frage: „Wie klappt es gerade mit den Medikamenten?“ oder „Wie schläfst Du gerade?“, oder „Wie sieht es mit Suizidgedanken aus?“. Ich hatte immer Angst ihn damit zu überfordern, oder dass es unpassend ist, aber ich war dankbar, dass das irgendwen interessiert, wie es mir geht und empfand die Fragerei nicht als unangebracht oder grenzüberschreitend. Es war schön, bei einem Menschen mal so komplett und uneingeschränkt ehrlich sein zu können. Und zu erfahren, dass er mich trotzdem an dieser Klinik haben möchte. Dass er auch alles versucht, um es mir so einfach wie möglich zu machen. Dass ich noch einen eigenen Büroplatz bekommen habe, einen ruhigen Raum, wenn ich ihn brauchte. Dass er manchmal Vorschläge hinsichtlich der Medikation angebracht hat und dass er mir bezüglich der Bewerbung und dem Startzeitpunkt den Rücken frei gehalten hat. Denn ich kann eben auch etwas – fachlich meine ich jetzt. Und wenn man es schafft, diesem rebellierenden Teil etwas Aufmerksamkeit zu widmen und es nicht verurteilt und einsperrt, damit es noch rebellischer und unkontrollierbarer wird, dann klappt das auch.

Wundert irgendwen noch irgendetwas? Ist das nicht einfach normal, dass ich so an ihm klebe, mit all den Erfahrungen, die ich tagtäglich mache?
Gesellschaftlich okay ist es natürlich trotzdem nicht.
„Ich glaube Mondkind, Dir fehlt dieses Urvertrauen…“, sagte er mal letztes Jahr.

And we don't know what's going on in
That home, behind closed doors
Maybe there is something wrong
So be brave, my little one

Ich hab’s versucht. Wirklich.
Aber wieso kann nicht einfach mal Jemand so nah sein, wie ich es brauche? Ein Stück mitgehen? Da bleiben? 

Ich melde mich nach meinen Spätdiensten und berichte... 

Mondkind

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Drittes Staatsexamen - ein Erfahrungsbericht

Reise - Tagebuch #2

Von einem Gespräch mit dem Kardiochirurgen