Dienstplan, Familie und Wochenendplanung
Donnerstagmorgen.
Die Station ist heute mal wieder absolut unterbesetzt. Die Visite
pünktlich fertig vorbereitet zu haben ist eine Herausforderung, aber es wird
machbar sein. Nach und nach lösen sich auch meine „schwierigen“ Fälle. Die Dame
mit dem akuten Nierenversagen wird zurück in die Reha verlegt, nachdem die
Nierenwerte sich fast vollständig erholt haben. Der Patient mit dem Hirntumor
wird – nachdem wir noch eine Eilbetreuung brauchten – in den nächsten Tagen in
ein Tumorzentrum verlegt. Eine Patientin musste ich ohne Übergabe übernehmen
und obwohl die schon ewig hier ist, ist mir nicht genau klar, was mit ihr los
ist. Und zwischendrin… - habe ich mittlerweile sogar mal den ein oder anderen „normalen
Schlaganfall“.
Ich sitze heute Morgen allein im Büro. Die restlichen Plätze sind
leer; die Kollegen fehlen. Ruhe im Arbeitszimmer. Und wenn es nicht zugeht wie
im Taubenschlag, dann lassen auch die Kopfschmerzen mal etwas nach. Ich bin
fast dabei zu befinden, dass der Job ja gar nicht soooo schlimm ist.
Es klopft. Der Oberarzt steht in der Tür. „Mondkind, wo sind die
anderen?“, fragt er. „Drüben“, antworte ich. Normalerweise sagt er seinen
Assistenten, dass sie die anderen zum Start der Visite anrufen sollen. Heute
macht er es selbst. Irgendetwas stimmt da schon wieder nicht. Er lässt sich auf
den Stuhl vor dem Diagnostik – Bildschirm fallen, auf dem wir uns die Bilder
anschauen. Ich sage mal vorsichtshalber nichts. Alle Antennen haben
angeschlagen.
Wenig später kommen die Kollegen. „Wenn ich sage, Ihr sollt JETZT
kommen, dann sollt Ihr jetzt kommen“, erklärt er ärgerlich. Zwei Minuten
Verspätung haben gerade ihn noch nie interessiert. Es stimmt etwas nicht. Ganz
gewaltig nicht.
Es geht um den Dienstplan. „Die Stroke Unit ist schuld, dass der
Dienstplan nicht frei gegeben werden kann und der Chef tobt“, informiert uns
der Oberarzt. Er schaut auf den Plan und dann mich an. „Mondkind… - Spätdienst
Ende November?“ Eigentlich ist das keine Frage, sondern eine Aussage. Ich nicke
kaum merklich.
„In fünf Minuten hätte ich den Plan gerne ausgefüllt…“, erklärt er,
ehe er geht. Wir tragen die fehlenden Dienste ein. „Was mache ich jetzt mit dem
Plan?“, frage ich die anderen. „Du musst das in den Dienstplan im PC eintragen“,
erklären sie. Den bearbeitet aber gerade jemand und ich komme nicht dran. „Lass
das erstmal da liegen Mondkind“, erklären sie und gehen. Wenig später kommt der
Oberarzt wieder. „Mondkind, wo ist der Plan? Wenn ich sage fünf Minuten, dann
meine ich das auch so…“ Ich drücke ihm den Plan in die Hand, während er die
Augen verdreht und damit dann schnellstens wieder den Raum verlässt.
Fairerweise muss man sagen, dass er am späten Nachmittag nochmal
gefragt hat, ob ich den Dienst machen kann. Nachdem die anderen Assistenten
schon gemeckert hatten, dass ich sie zu wenig unterstütze. Ich bin mal
gespannt, ob ich bis dahin heraus gefunden habe, was der Spätdienst denn genau
tut. Bisher konnte mir das noch keiner so wirklich sagen – ich fürchte, da ist
ziemlich viel Notaufnahme dabei. Deshalb muss ich mein Flussdiagramm fertig
bekommen.
„Du hast ja dann auch noch den Hintergrund, den Du sonst anrufen
kannst…“, merkt der Oberarzt an. Den Hintergrund an diesem Tag kenne ich nur
überhaupt nicht und der soll... – etwas speziell sein, haben die Kollegen
erklärt.
Ich kann mich daran erinnern, dass es hieß, dass ich dann halt die
ersten paar Dienste, in denen der Hintergrund interessant wird, mit „meinem“
Oberarzt machen darf. Aber wenn Not am Mann ist, dann zählt das nicht mehr. Und
er weiß wahrscheinlich, dass ich alles irgendwie mache und irgendwie
hinbekomme. Ich hoffe nur, dass ich nicht auf die Art meinen ersten 24 –
Stunden – Dienst bekomme. Aber wissen kann man nichts…
Manchmal ist das komisch. Dass es ein und derselbe Mensch ist. Damals
und heute. Dem es damals wichtig war, dass es mir mit allem was passiert,
einigermaßen okay geht.
Ich habe so viel versucht mittlerweile. Reden klappt eher nicht so,
wenn das Gespräch nach ein paar Minuten mit „Mondkind, wir korrigieren jetzt
mal den Brief“ endet. Eine Mail schreiben und darin zu erklären, dass ich mehr
Einarbeitung brauche, hat auch überhaupt nichts gebracht. Mittlerweile bin ich
auf den Rat der Therapeutin schon dazu übergegangen, Markierungen an „verdächtige“
Zacken zu machen. Aber drüber schaut bis heute keiner. Ich bräuchte einfach mal
Jemanden, der mir nur das Programm erklärt und mir sagt, wann ich welche
Einstellungen und Filter verwenden muss. Denn das steht auch in keinem EEG –
Buch und wenn ich aufgrund falscher Einstellungen nicht mal etwas sehen kann,
komme ich auch nicht weiter.
Wenn ich so darüber nachdenke, dass er der letzte Mensch war, mit dem
ich vor dem Examen gesprochen habe und der erste Mensch war, mit dem ich nach
dem Examen wieder gesprochen habe… - dann tut das irgendwie weh. Dass sein „Mondkind,
Du versprichst mir, dass Du kämpfst wie eine Löwin“ all die Stunden des Examens
mantraartig in meinem Kopf schlug.
Dass wir selbst in der Psychiatrie noch das ein oder andere gute
Telefonat hatten.
Dass die Distanz trotz all der räumlichen Entfernung die wir hatten,
nie so groß zu sein schien, wie jetzt.
Und ich kann mich ja nicht mal beschweren. Ich verliere etwas, das ich
nie hätte haben dürfen und doch so dringend gebraucht habe. Und das war immer
einer der Knackpunkte, der die ganze Geschichte so schwierig gemacht hat. Von
Anfang an. Ich wusste immer, dass mir nichts anderes übrig bleibt, als das zu
akzeptieren, wenn es eines Tages so ist, dass es ein Ende gibt. Es gibt kein
einziges Argument, mit dem ich die Dinge halten kann. Und dem so viel Gewicht
in meinem Leben zu geben, war wohl immer riskant.
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Letztens im Park |
Aber zumindest hinsichtlich der Arbeit hatte ich diese Woche ein
erhellendes Telefonat mit dem Vater von einer Freundin, der selbst im
Rettungsdienst tätig ist. Letzten Endes kann es nur darum gehen, die Dinge so
gut zu machen, wie ich sie machen kann. Und wenn man möchte, dass ich Dinge gut
mache, dann muss man sie mir zeigen. Dann muss man mich einarbeiten. Dann kann
man auch erwarten, dass ich das kann.
Wenn man mir nicht sagt, was ich in dieser oder jener Situation zu tun
habe, kann ich es nur nach bestem Wissen und Gewissen tun. Und hoffen, dass es
richtig ist. Und wenn es das dann nicht ist, dann ist es nicht automatisch
meine Schuld. Und dann muss ich nicht alles, was irgendwie schief geht zu Hause
500 Mal im Kreis drehen und überlegen, was ich hätte anders machen können. Denn
egal was ich mache, am Ende ist die Situation fast immer besser, als sie vorher
ist. Vielleicht anders, aber besser.
Der Schlaganfall ist immer noch da. Und wenn die Therapie nicht wie
gewünscht funktioniert hat, geht es dem Patienten auch immer noch nicht gut.
Aber er ist zumindest bei uns auf der Station, versorgt, leidet nicht mehr so
stark wie in der Akutsituation und die Angehörigen wissen den Patienten auch in
guten Händen. Und dann ist es einfach das Schicksal und die Zeit, die heilt.
Oder manchmal eben auch nicht.
Aber ich bin nicht für alles Leid der Welt und jeden Fehler, der
passiert, verantwortlich.
Die Freundin sitzt übrigens gerade neben mir. Es war ein langes Hin
und Her diese Woche, weil ich eigentlich ganz, ganz viel Erholung brauche. Und
meine Mum dieses Wochenende ungefähr 20 Kilometer von hier entfernt einen
Kurzurlaub macht und ich bis zuletzt ein bisschen gehofft habe, dass sie es in
Erwägung zieht, mich zu sehen. Aber irgendwann meinte sie, dass sie es wohl
nicht schafft. Und irgendwie tut auch das seltsam weh. Und ich… - ja, ich frage
mich dann mal wieder, ob das okay ist, wenn man als erwachsenes Kind enttäuscht
ist, wenn man soweit voneinander entfernt wohnt und sich selbst dann nicht
besuchen kann, wenn man in einer Gegend ist. Wir haben ja nicht mal ein gutes
Verhältnis, aber irgendwie tut es doch weh.
Letzten Endes konnte mich die Freundin doch überreden, in die
Studienstadt zu fahren. Als Nebeneffekt bin ich dann zumindest safe über das
Wochenende. Jetzt bin ich gerade noch dabei, ein paar Freunden Bescheid zu
sagen, dass wir uns kurz treffen können.
Montag werde ich an der Uni sein. Einen Schwenk im Labor vorbei
machen. Den MTA besuchen. Das Labor war kurzzeitig auch mal ein Stück zu Hause.
In meiner experimentellen Phase, bei der zwar am Ende nichts raus gekommen ist –
aber in der Zeit habe ich quasi dort gewohnt.
Ich bin ein bisschen gespannt, was diese Eindrücke mit mir machen. Aus
einer Zeit, in der ich noch „anders“ gelebt habe. Die Studienstadt und alles
was dort passierte, eher Mittel zum Zweck war. Für etwas, das am Ende auch
nicht gut geworden ist. Wie wird es sein, wieder an diesen „alten Plätzen“
vorbei zu gehen…?
Und dann habe ich gestern die Therapeutin angehauen, ob sie nicht noch
einen Termin hat. Ich weiß nicht, wie sie das immer macht, wenn ich ihr nur
noch Montagmorgen ein paar Stunden anbieten kann, bevor ich definitiv zurück
muss, weil Dienstag die Küche kommt. Ich hätte ehrlich nicht damit gerechnet,
aber sie hat mir einen Termin gegeben.
Ich weiß nur noch nicht, was ich daraus mache. Ich weiß, dass ich am
Dienstag zurück sein muss, weil da die Küche kommt. Ich weiß, dass aufgrund von
Wechseln zwischen den Stationen mindestens den halben November die
Personalsituation sehr angespannt ist und ich da eigentlich nicht ausfallen
kann. Ich würde gerne ehrlich sein. Ihr sagen, dass ich keine Ahnung habe, wie
lange ich das so noch überleben kann. Und mir ziemlich sicher bin, dass es nicht
mehr lang ist, weil die Suizidgedanken fast ununterbrochen in meinem Kopf
kreisen und auch unglaublich viel Kraft ziehen. Und gleichzeitig verurteile ich
mich so sehr dafür, dass ich eigentlich nicht mehr darüber reden will. Und dann
ist da noch so viel Angst, mich einfach nur vor der Arbeit zu drücken.
Vielleicht schreibe ich ihr auch einfach einen Zettel. Das kann ich ja
gut.
Mondkind
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