Wochenend - Reise und Therapie
Wieder mal auf der Straße. Wieder mal zwischen den Welten.
Wieder mal auf dem Rückweg aus der Studienstadt, die ich eher wieder gesehen
habe, als ich das vermutet hätte. Im Moment hoffe ich noch inständig, dass wir
nicht zu spät an dem kleinen Bahnhof ankommen, an dem ich umsteigen muss. Der
Berufsverkehr hat uns aufgehalten. Und ich habe nicht so viel Lust, die Nacht
auf dem Bahnhof zu verbringen.
Jetzt gerade merke ich, wie sich die Müdigkeit über mich
legt. Erschöpfung, nachdem ich am Wochenende nur im Kopf hatte, die Termine
abzuarbeiten und alles unter einen Hut zu bekommen.
Ein kleiner Reisebericht. Ein paar Gedanken zur
Therapiestunde. Und ein paar Emotionen, von denen vielleicht mehr zwischen den
Zeilen stecken, als bei mir angekommen sind.
***
Donnerstagabend.
Nachdem wir uns entschieden haben, dass ich am Wochenende in die
Studienstadt fahre, hat die Freundin beschlossen, mich abzuholen. Hat sich
kurzerhand ins Auto gesetzt und ist die beinahe 370 Kilometer zu mir gefahren,
nur um mir einen Tag auf der Straße zu ersparen.
„Ich bin gleich da…“, informiert sie mich über das Telefon, als ich
gerade um kurz nach 19 Uhr noch dabei bin, dem Oberarzt eine Mail mit einer
kurzen Übergabe zu schreiben. Ich möchte ihr noch sagen, dass ich sie abholen
komme, aber sie hat schon aufgelegt. Na super… - wenn sie sich verläuft, ist im
Gebäude kein Empfang und eigentlich kommt sie auch gar nicht auf die Station
ohne Transponder.
Wenig später klopft es aber schon zaghaft und sie steckt ihren Kopf um
die Ecke. Ein Kardiologe hat sie rein gelassen, wie sie mir erklärt.
Freitagmorgen gibt es Crepes zum Frühstück. Danach stellen wir noch
die Küche um, holen mein Fahrrad vom Kurpark ab und dann setzen wir uns ins
Auto und fahren zu ihr nach Hause. Ein kleiner Ort neben der Studienstadt.
Obwohl alle versuchen, die Situation so entspannt wie möglich zu
gestalten, ist es für mich anstrengend bei der Ankunft. Wieder ein neues Haus,
neue Menschen, Regeln, die ich eventuell nicht kenne und nicht beachte. Zu
Essen gibt es extra wegen mir etwas Vegetarisches. Schon sehr lieb, muss ich
sagen.
Einziges Problem ist, dass ich den Vater der Freundin nicht ganz
einschätzen kann. Das Auftreten ist so autoritär, dass sämtliche Alarmglocken
anspringen, aber ich glaube, das ist gar nicht nötig. Es fühlt sich nur an, als
müsste ich jede Glocke einzeln ausmachen und so vorsichtshalber sage ich auch
mal nicht zu viel, das kritisiert werden könnte.
Weil die Freundin, die ich Samstagmorgen eigentlich treffen wollte
keine Zeit hat, gestaltet sich der Samstagmorgen recht entspannt. Ich
verkrümele mich mit einem Buch und Schokolade unter meine drei Decken und lese
ein wenig, ehe ich versuche EEG zu lernen. Leider stelle ich dabei fest, dass
da Vieles in meinem Kopf ist – nicht aber Konzentration.
Samstagnachmittag gehe ich mir der Freundin, bei der ich schlafe noch
in die Stadt. Einmal am Fluss stehen, muss bei jedem Besuch der Studienstadt
sein. Irgendwie erinnert mich das immer an das erste Mal, an dem ich mit den
Kommilitonen da war. Es war kurz nach meinem ersten Klinikaufenthalt. Ich hatte
gelernt, dass ich auch mal Freizeitaktivitäten nachgehen darf und wir haben den
Blockabschluss und die bestandene Klausur am Fluss gefeiert. Für mich war das
damals ein ganz neues Gefühl von Freiheit. Für andere vielleicht nicht so etwas
Besonderes, aber ich hatte mir da gerade etwas Neues geschaffen.
Heute erinnert mich dieser Ort immer an die guten Momente in der
Studienstadt.
Am Abend treffe ich mich noch mit einer ehemaligen Mitpatientin. Wir
gehen gemeinsam eine Kleinigkeit essen und es tut einfach gut zu hören, dass
ich nicht alleine damit bin, dass es nach der Klinik noch längst nicht
überstanden ist. Auch die anderen kämpfen um Normalität und aus einigen
ehemaligen Mitpatienten, mit denen ich auch gut zurecht kam, hat sich ein recht
enges Selbsthilfe – Netzwerk gebildet, wie ich erfahre. „Mondkind, wenn Du hier
wärst, könntest Du natürlich auch dazu gehören…“ Das sind dann die Momente, die
weh tun. Vor den Psychiatrie – Aufenthalten hätte ich es nicht für möglich gehalten,
dass ich mal zu einer Gruppe dazu gehören kann. Die ganze Idee vom Ort in der
Ferne ist lang davor entstanden und schmeißt mich zurück in eine bekannte, aber
ungebliebte Isolation.
Sonntagmorgen treffe ich mich noch mit einem Freund. Er hat schon eine
Idee, wo wir einen Kaffee trinken gehen wollen und führt mich durch die halbe
Stadt. Es ist komisch, die Stadt wieder leben zu sehen. Die Stadt, in der ich
nur schnell fertig studieren wollte, um endlich eine Heimat zu finden. Und
dabei hat sich ganz langsam ein Netz aus Freundschaften, bekannten Plätzen,
Erinnerungen und Sicherheiten aufgebaut, die ein bisschen Vertrautheit
generiert haben.
Kaffee trinken und quatschen. Im Sommer nach dem ersten
Klinikaufenthalt haben wir das öfter gemacht. Und mir fällt auf, dass ich es
vermisse, einfach mal mit Jemandem gemütlich im Café zu sitzen.
Sonntagabend ist „Geschäftsessen“ von zwei befreundeten Familien und
als wäre das absolute Selbstverständlichkeit, werde ich mitgenommen. Das ehrt
mich schon irgendwie. Ich verbringe zum ersten Mal zwei Tage in dieser
Familie und die tun so, als würde ich schon mein halbes Leben dazu gehören.
Nachdem ich ein bisschen zu meinem Studium und meinem Job ausgefragt
wurde und somit nicht die „schweigende Unbekannte“ am Tisch bin, fühle ich mich
sogar einigermaßen wohl. Auch, wenn es einige Seitenhiebe zu meinem
Vegetarierdasein gibt, aber zumindest akzeptieren es hier alle.
Am Abend sitzen die Freundin und ich noch mit einem Tee auf dem Sofa
im Gästezimmer. Ein bisschen fühlt es sich an, als würden wir uns schon ewig kennen, dabei sind es erst ein paar Monate. Ich weiß schon jetzt, dass
ich sie vermissen werde. Wir beraten uns ein wenig über den Termin bei der
Therapeutin, der am Montagmorgen noch ansteht.
Obwohl das Wochenende objektiv betrachtet sicher viele gute Momente
hatte, stehe ich unter Hochspannung. Gedanklich kann ich die Arbeit nicht
loslassen, habe Angst vor den Anforderungen.
Außerdem ist die Suizdalität immer noch 24/7 Thema, manchmal mehr im
Hintergrund, manchmal leider weniger und verbraucht so viel Kraft, dass mir
permanent der Kopf dröhnt und ich sehr schlapp auf den Füßen unterwegs bin.
Und irgendwie kann es gerade nicht richtig werden. Stehen bleiben geht
nicht und ein paar Schritte in die ein oder andere Richtung, erscheinen
irgendwie zu viel.
Zurück gehen in den Arbeitsort wird eventell nicht mehr lang gut
gehen. Und nicht zurück gehen wäre persönliches Versagen. Würde die Menschen
dort enttäuschen. Mich selbst. Würde irgendwie viele Jahre und Wege im
Nachhinein entwerten.
Und jetzt stehe ich da. Wie schlimm ist das jetzt? Wie sehr geht es
hier ums Überleben? Kann ich dort etwas wie Familie finden? Lohnt es sich, da
noch viel Hoffnung und Energie rein zu geben?
Jetzt muss ich irgendwie versuchen, ehrlich zu sein. Sie mitabschätzen
lassen, was die nächsten Schritte sein können.
Und da ich ja nicht so gut im Reden bin, beschließen wir, einen Zettel
zu schreiben. Und da es ehrlicherweise nicht ganz ausgeschlossen ist, dass ich
den Zettel nicht abgebe, besteht die Freundin darauf, der Therapeutin den
Zettel als Mail zu schicken.
Montagmorgen führt mich mein erster Weg aber ins Labor an der Uni.
Ich fahre extra ein wenig früher los, um einerseits meinen Koffer im
Labor parken zu können und andererseits, um dem MTA noch einen Besuch
abzustatten und mit ihm einen Kaffee trinken zu können.
Altbekannte Gefilde. Schlüsselkarte vor die Tür halten. Ein gründes
Blinken und ein Klicken und dann öffnet sich die Tür.
Es ist wie immer. Der MTA springt von seinem Platz auf und nimmt mich
erstmal in den Arm. Anschließend gehen wir einen Kaffee holen und reden ein
wenig über unsere letzten Wochen.
Viel Zeit bleibt nicht, ehe ich schon wieder weiter ziehen muss zur
Therapeutin.
Das erste Mal seit langer Zeit laufe ich wieder mit Herzrasen in die
Ambulanz. Ich habe keine Ahnung, was sie aus dem Zettel macht. Und ich weiß
auch nicht, was ich da jetzt will und erwarte. Ich weiß einfach nicht, wie es
weiter gehen soll.
Weil es keine Lösung für die nächsten Tage und Wochen gibt. Weil
vermutlich nichts und niemand etwas daran ändern kann, dass es auf die ein oder
andere Weise furchtbar wird.
Wie oft war dieses rote Gebäude, das ich nun betrete, ein Stück
Sicherheit? Wie oft ist in diesem Wartebereich die Anspannung ein bisschen von
mir abgefallen. Wegpunkt erreicht. Und wie es danach weiter geht, das muss ich
jetzt noch nicht wissen.
Heute habe ich kaum Zeit mich zu setzen, ehe sie mich mitnimmt. Und
dann liegt der Zettel zwischen uns. Sie überfliegt ihn. „Also dann muss ich Sie
da behalten…“, ist ihr Kommentar dazu. Die übliche Strenge, die hinter diesen
Sätzen ihrerseits steckt. Mein Blick, der in die Ferne geht. Gegen die Wand.
Ich spüre in mich hinein. Nicht mehr das übliche Herzrasen, das solche
Kommentare auslösen. Ein kurzes „dann bricht mir jetzt hier alles auseinander“
gefolgt von einem „dann ist es jetzt aber auch endlich vorbei…“ Nur wie soll
ich reagieren? Ich kann ja schlecht sagen: „Ja, dann kümmern Sie sich mal…“
Nichts sagen. Warten, was sie daraus macht.
Wir gehen ins Gespräch. Neues können mir die Menschen langsam nicht
mehr sagen. Verstand rennt gegen Gefühl. Das Gefühl ist noch nicht bereit, das
in der Ferne alles aufzugeben. Es war eine andere Zeit, als dieses Projekt
irgendwann mal gestartet ist. Aber es war immer so viel mehr, als nur ein Job.
Es war die Idee von einem zu Hause. Die einzige Idee, die ich hatte. Und egal,
wie klein die Chance ist, dass das noch klappt – so sie irgendwie existiert,
scheint es gerechtfertigt.
Der Verstand sagt, dass das so nicht mehr geht. Dass es mit jedem
Arbeitstag schlimmer wird, ich keine Ahnung mehr habe, wie ich das aushalten
soll und mir definitiv die Kraft fehlt. Es braucht Alternativen, aber um die zu
finden bräuchte man wiederrum Kraft und da beißt sich die Katze in den Schwanz.
Dass ich müde bin, wundert sie überhaupt nicht. Wenn man bedenkt, dass
dieses Jahr nur Stress mit PJ, Examen, Klinik, Umzug und Jobstart war. Aber das
löst jetzt trotzdem nicht die Tatsache, dass ich mich ganz, ganz weit jenseits
meiner Grenzen bewege.
Am Ende des Gespräches fehlt die obligatorische Frage, die Herr Klinik
– Therapeut immer gestellt hat: „Kann ich Sie so gehen lassen?“ Damit kauft man
sich eventuell eine Menge Probleme ein. Und hätte es vermutlich mit mir heute
getan. Gegen Ende des Gesprächs merke ich nämlich, dass diese
Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung das jetzt so weiter machen zu müssen,
extrem überrennt und mir fast die Luft zum Atmen nimmt.
Es hilft nichts. Zurück ins Labor. Noch ein paar Bücher der Freundin
einer Freundin übergeben, die jetzt mit einer Ausbildung im medizinischen
Bereich angefangen hat und die ich leider nicht geschafft habe, zu treffen.
Und dann weiter zur Bahn. Und irgendwie ist es eine kaum aushaltbare
Schwere, die sich auf mich legt. Wie soll das alles weiter gehen? Die
Therapeutin hält mich offenbar für stabil genug, um das durchzustehen. Jedes
Resultat aus dem Termin ist heute eine Katastrophe. Hätte sie mich wirklich da
behalten, wäre ich vermutlich komplett zusammen geklappt. Aber sich in den Bus
zu setzen und nicht zu wissen, wie lange ich die Tage noch durchhalten kann,
ist auch nicht viel besser. Es ist halt der Mondkind – Weg. Keine Schwäche
zeigen. Nicht ausfallen. Straight forward. Bis zum Ende.
Und irgendwie hatte ich gehofft, dass sie das sieht. Dass ich einfach nicht mehr kann. Den Mondkind - Weg. Und mir hilft, irgendeine Lösung zu finden. Die nicht daraus besteht, einfach weiter zu machen.
Mondkind
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