Spätdienst... - und der Tag danach


Dienstagmorgen.
Eigentlich war der ein bisschen gemütlich geplant, aber mit Gemütlichkeit wurde es nicht viel. Nach einem Kaffee auf dem Sofa, bin ich im Regen zur Apotheke gelaufen und irgendwie hat mir all die Weihnachtsdekoration auf dem Weg dorthin, seltsam das Herz zerrissen. Am Wochenende ist erster Advent, ist mir irgendwie mal so eingefallen. Es wird eine sehr einsame Weihnachtszeit – was ich eigentlich gewohnt bin, aber irgendwie ist es doch jedes Mal schwer. Weil man es ja einfach nicht ändern kann, dass da so viel fehlt – und es im Funktioniermodus schon (hoffentlich) trotzdem irgendwie gehen wird. Das war auch der Moment, in dem ich mich – wie gestern schon erwähnt – gefragt habe, wie viel Lebensqualität das Leben wohl so hätte, ohne wahlweise Angst oder Suizidgedanken. Allein das Wegdenken davon, fühlt sich ein bisschen befreiend an.

Wieder zu Hause haben die Küchenmonteure angerufen. Die wollten ja noch die Arbeitsplatte austauschen und den Spritzschutz an der zweiten Wand anbringen. „Wir können Ihnen nur noch den 5. Dezember anbieten, alle anderen Termine dieses Jahr sind ausgebucht…“ Was denken die eigentlich, was die Menschen an einem Werktag morgens machen? Däumchen drehen?
Ich zögere eine Weile, aber dann mache ich das Einzige, das jetzt noch denkbar ist: Um Hilfe bei den Nachbarn bitten. Das hasse ich ja und gut darin bin ich auch nicht. Die Nachbarin ist schon in Rente und sagt, dass sie gern auf die Monteure aufpasst. Problem gelöst… - vielleicht sollte ich ihr aber ein paar Blumen mitbringen – Blumen mag sie, hat sie mir mal irgendwann gesagt. Das hat gefühlt schon wieder die halben Nerven des Tages verbbraucht…

Danach rufe ich den Elektriker an. Wenn die Steckdosen an der anderen Wand auch noch raus kommen, habe ich zwischendurch in der Küche quasi gar keinen Strom mehr. Aber die befinden, dass Steckdosen in die Wand basteln ja mal keine Elektriker – Aufgabe ist. Das sollen doch die Küchen – Monteure machen. Also habe ich noch mal dort angerufen. Aber die dürfen es wohl nicht, weil sie keine Elektriker sind.
Hallo… ? Ich brauche doch einfach nur Jemanden, der mir die blöden Steckdosen wieder in die Wand steckt…

Dann muss ich aber erstmal los. Im Büro schnappe ich meine Sachen, sortiere noch ein paar meiner Zettel, die ich als hilfreich für die Notaufnahme empfinde und laufe los in Richtung Notaufnahme. Der dortiger Oberarzt erwartet mich schon.
Das Erste, was er mir zuschiebt, ist das Diensttelefon. „Mondkind – zu Deiner Information. Wenn ein Kollege aus dem Haus anruft… - Du übernimmst keinen Patienten. Du sagst immer, dass wir erst vorbei kommen und uns den Patienten anschauen. Und wenn ein Hausarzt anruft mit Schwindel seit drei Wochen – das ist eigentlich auch kein Notfall. Dann sagst Du, dass Du erst mit dem Oberarzt Rücksprache hältst und Dich dann nochmal meldest. Wenn allerdings ein Hausarzt anruft und Dir eine eindeutige Hemiparese seit zwei Stunden beschreibt – den nimmst Du natürlich. Da sagst Du nicht, Du musst erst mit Deinem Oberarzt reden…“
Okay, verstanden.

Meine erste Patientin ist eine Einweisung vom Hausarzt. Kopfschmerzen und Verdacht auf Infarkt, stehen in der Einweisung. In der Realität stellt sich heraus, dass sie keine Kopfschmerzen, sondern eher Bauchschmerzen hat. Und eine positive Tumoranamnese. Im Labor sind die Leberwerte erhöht und die Internisten werden im Verlauf eher den Verdacht auf Lebermetastasen bei fortgeschrittenem Tumorleiden feststellen. Ich hatte schon eine Peritonealkarzinose befürchtet, nachdem ich ein Mal orientierend auf dem Bauch herum gedrückt habe.

Mein zweiter Patient wird vom Sohn begleitet und kommt mit „Verwirrung“. Fokal – neurologisch sind keine Ausfälle zu finden – örtlich, zeitlich, zur Person und situativ ist er aber tatsächlich überhaupt nicht orientiert. Manche Patienten werden dann sehr aggressiv, aber er ist lammfromm. Meine erste diagnostische Maßnahme ist ein CT.
Und dann zerfallen Welten. Zukunftspläne, der Felsen der Familie, Ideen, bis dato angenommene Selbstverständlichkeiten. Innerhalb von den Sekunden, die das CT braucht. Vor zwei Minuten ahnte niemand etwas Böses und jetzt müssen wir den Angehörigen sagen, dass der Patient einen Tumor hat. Ohne Biopsie kann man nicht sagen, ob es gut- oder bösartig ist, aber gut schaut es nicht aus. Das wird auch das MRT zeigen, das wir schnellstmöglich organisieren. Wie ein solch großer Tumor erst jetzt zu Ausfällen führen kann, ist erstaunlich. Morgen werde ich den Patienten vermutlich in die Neurochirurgie verlegen. Und dann werden wir leider (oder zum Glück) nie wissen, wie die Geschichte ausgeht.

Der dritte Patient kommt auch mit Verwirrung – allerdings ist er eher von der aggressiven Sorte. Blut abnehmen ist nicht möglich, auch Blutdruck messen funktioniert nicht und untersuchen lässt er sich schon mal gar nicht. Wie die Kollegen ein CT hinbekommen haben, weiß ich nicht, ehrlich gesagt.
„Mondkind, Du arbeitest immer so in Phasen. Entweder bei Dir sterben alle oder es haben alle einen Tumor…“, sagt der Oberarzt, als er sich die Bilder anschaut. Auch Tumor. Und mit allerhand Psychopharmaka geht es auf die Station.

Der nächste Patient kommt mit dem Verdacht auf einen Hirnstamminfarkt. Die gekreuzte Symptomatik ist fast wie im Lehrbuch. Die Symptomatik hat er schon seit ein paar Tagen, aber er sei im Urlaub gewesen und habe nicht zum Arzt gehen können. Während ich noch um den Patienten springe, kommt mein Oberarzt von der Stroke Unit. Er habe heute Dienst, erklärt er. Das hatte ich ja gar nicht gewusst. Aber dann kann es ja nicht so schlimm werden, beschließe ich.
Da es schon spät ist, muss ich mit meinem Patienten allein ins Doppler. Er ist allerdings nicht vital bedroht – also ist das recht entspannt möglich mit den extrakraniellen Gefäßen. Die intrakraniellen Gefäße schallt dann aber mein Oberarzt – er erklärt auch etwas dazu, aber ich werde im Anschluss nicht mehr dazu kommen, es aufzuschreiben.

Die Notaufnahme war den ganzen Tag über brechend voll. Zwischen all den Patienten, denen wir Briefe schreiben müssen, weil sie nach Hause gehen oder den Konsilen, die dokumentiert werden müssen, schaffen wir es nicht, rechtzeitig die Aufnahmebefunde fertig zu schreiben, als die Patienten auf die Station gehen.
Und als ich dann kurz vor halb 7 (eigentlich hätte ich halb 5 da sein sollen), endlich auf die Station komme, steigen mir die Schwestern erstmal geschlossen aufs Dach. Ja ich weiß, da fehlen Aufnahmebefunde, Anordnungen, es ist noch nicht eine Aufklärung gemacht, Nadeln sind nicht gelegt. Auf der Nachbarstation ist kein Blut abgenommen, die dorthin verlegten Patienten, die nun eine elektronische, statt eine Papierkurve haben, haben keine Medikamentenangaben.
Ich versuche – auch wenn das eigentlich didaktisch falsch ist – die Aufgaben derer, die sich am lautesten beschweren zuerst zu erledigen, damit ich möglichst schnell Ruhe in die Situation bringe. Es dauert trotzdem alles zu lange. Und dass ich auf der Nachbarstation erstmal freudig experimentieren darf, ehe ich dann auch endlich mal die Medikamente dort einpflegen kann, macht es nicht besser. Weil es ja auch unmöglich ist, ausnahmsweise mal für eine Nacht Papierkurven zu benutzen. Was auf der Nachbarstation Alltag ist, ist dort scheinbar absolut nicht machbar.

Um kurz nach 22 Uhr – wie das dann so ist – fällt ein Patient mit Luftnot auf. Also untersuchen, Labor abnehmen, EKG schreiben – ich leite alles noch in die Wege; dann kommt der Dienstarzt. Sagt, dass ich zu Ende dokumentieren und nach Hause gehen soll – er kümmert sich um den Patienten.
Was ich dann irgendwann um kurz vor 23 Uhr auch tue.
Spätdienst überlebt. Wenn auch mit viel Kritik der Pflege.



***
Die Nacht ist kurz. Ehe ich zur Ruhe komme ist es nach 1 Uhr.
Halb sechs schmeißt mich der Wecker wieder aus dem Bett. In die Küche schlurfen. Kaffee kochen. Ich frage mich, was aus meinem luftnötigen Patienten geworden ist.

Ich bin immer ein bisschen früher als die Anderen und damit die Erste, die das Arztzimmer am Morgen wieder aufschließt. Nach einer groben Orientierung am PC schaue ich als erstes bei meinem „Sorgenkind Nummer 1“ vorbei. Er sitzt genauso luftnötig im Bett, wie gestern Abend. Das EKG war wohl unauffällig und mehr ist nicht gelaufen. Ein paar Laborparameter sind erhöht – abgeklärt wurde das aber bisher nicht.
Ich rufe schon vor der Frühbesprechung den Oberarzt an und organisiere ein CT zur Abklärung einer Lungenembolie. Und die Internisten hole ich auch dazu „Mondkind, ich habe dem Dienstarzt schon gestern gesagt, dass wir da mal mit den Angehörigen reden müssen – das ist nicht passiert…“, werde ich belehrt.
Und dann kommt noch die Arzthelferin. „Mondkind, bei dem Patienten in der Fünf fehlt das Lyseprotokoll. Ich habe Dir schon mal gesagt, dass Du das am Aufnahmetag anlegen musst…“ Eigentlich komme ich gut mit ihr zurecht, aber heute Morgen ist sie Diejenige, die das Fass zum Überlaufen bringt. Ich kann einfach nicht mehr. Ja, ich habe es vergessen, da hat sie wohl Recht. Aber wenn es nur ein vergessenes Lyseprotokoll ist und keine vergessene Antikoagulation, die einen Patienten wenn es blöd läuft, das Leben kosten kann (wenn er einen großen Infarkt nachschiebt zum Beispiel), ist das doch wohl noch okay.
Trotzdem merke ich, wie meine Augen nass werden. Und dann nimmt sie mich kurzerhand mit in ihr Büro. „Och Mondkind, das kann es doch auch nicht sein, dass Du hier so überfordert bist“, sagt sie. „Da musst Du mal mit dem Oberarzt reden…“ „Habe ich doch schon“, entgegne ich, „es sieht halt nicht so aus, als sei ich überfordert. Ich versuche trotzdem immer irgendwie alles zu schaffen – ich würde mich nie hinsetzen und sagen, dass ich etwas nicht mache. Und am Ende geht es ja meist auch – auch wenn ich dafür viele Leute nerven muss, weil ich mit meinem Latein am Ende bin. Aber das stresst mich halt echt zu Tode…“ „Und wenn ich noch mal mit dem Oberarzt rede…“, fragt sie. „…dann reißt er mir den Kopf ab, weil ich es nicht selbst konnte“, beende ich den Satz für sie. „Mondkind, ich arbeite hier schon 11 Jahre und die erwarten wirklich sehr viel von Dir. Ich weiß nicht, warum das so ist…“, sagt sie.

Bis 10 Uhr habe ich meine Patienten nur so halb vorbereitet, weil mich mein „Sorgenkind Nummer 1“ die meiste Zeit gekostet hat. Die Visite läuft aber trotzdem ganz okay – außer, dass im Tagesverlauf noch eine Lumbalpunktion bei einem Patienten mit Bruch eines Wirbelkörpers ein paar Etagen höher wartet. LP unter erschwerten Bedingungen also. Stresst mich ja so schon immer nicht genug.

Die LP funktioniert erstaunlich gut, ich dokumentiere viel und schreibe Briefe und bei dem Angehörigengespräch von dem luftnötigen Patienten ist der Oberarzt sogar dabei. Dann gibt es aber doch noch Komplikationen und irgendwie hängen in dem Fall jetzt der Chef und der Vorstand mit drin und ich als kleine Assistenzärztin, die den Patienten heute den ersten Tag hat… - der Oberarzt hat zwar alles, was da im Argen ist gut von mir abgeschirmt, aber es geht ja trotzdem nicht an mir vorbei. Als der Patient am Nachmittag instabil wird, brechen dann nochmal die Dämme – dummerweise diesmal im Beisein des Oberarztes. Ich weine sonst wirklich nie, wenn jemand dabei ist, aber jetzt stehe ich einfach im Arztzimmer und bin komplett überfordert.
Wobei es nicht nur der Patient alleine ist. Es ist alles zusammen. Der fehlende Schlaf, die Spätdienste (der Nächste wartet am Freitag), die Frage, wie lange ich das alles noch durchhalte – diese hohen Erwartungen. Die Frage, wo ich Weihnachten und Silvester verbringe und mit wem ich die schwierigsten Tage des Jahres aushalten werde. Die Einsamkeit, die am Ende des Tages auf mich wartet, das Leid im Krankenhaus, die vielen Lebenspläne, die einfach zerfallen, die ständige Anspannung und Angst vor Fehlern. Und der Seelsorger, der im Moment mehr Unruhe, als Ruhe in die Situation bringt. Ich berichte mal, wenn sich das alles wieder gelegt hat…
„Mondkind, nicht schon wieder abdrehen“, sagt der Oberarzt, als sei das Alltag bei mir. Innerlich schon, ja. Nach außen hin nie. Und dann klingelt sein Telefon und er verschwindet.

Ich dokumentiere noch fertig, spreche noch mit ein paar Angehörigen, kläre noch offene Fragen und versuche einen Patienten in eine andere Klinik und eine andere Fachabteilung zu verlegen. Das ist nicht so einfach und als ich von meinen vermeintlichen Erfolgen berichte, bezeichnet es der Herr Oberarzt als „Grad I der Ablehnung“. Die wollen sich morgen noch mal melden. Wenn sie das nicht tun – das wäre dann die unhöfliche Form der Ablehnung, darf ich weiter suchen. Solange, bis ich etwas gefunden habe. 



Und jetzt… - jetzt muss ich erstmal ins Bett. Schlafen. Das Hirn ausruhen. Damit es morgen einfach weiter geht.
„Warst Du mit dem Fahrrad schon im Fahrradladen?“, wurde ich heute gefragt. Nein… - wann hätte ich das tun sollen… ? Und ob es diesen Samstag klappt, wenn ich nach dem Spätdienst erstmal viel Schlaf brauche und dann noch Haushalt machen und einkaufen muss, wenn das Tempo samstags immer etwas langsamer ist, weiß ich auch noch nicht. Vermutlich nicht.

Mondkind

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