Magic week


Diese Woche ist nicht nur „magic Monday“, sondern gleich mal „magic week“. Das war allerdings vorherzusehen, wenn man sich am Ende der letzten Woche die Stationsverteilung für diese Woche angeschaut hat.
Und lässt sich auch eine personell schwierige Situation auch immer noch für einige Zeit ganz gut rocken, folgt die Erkenntnis, dass es doch nicht so toll war, wie man glaubte, zumeist auf dem Fuße. Nämlich genau dann, wenn der Oberarzt das Arztzimmer mit einer Akte unter dem Arm betritt, sich wortlos einen Stuhl ran zieht, darauf Platz nimmt und neben einem die Akte aufschlägt. Und dann ist auch meist kein Schimpfen notwendig, damit eine Mondkind sich dafür zerfleischt, wie sie Dieses oder Jenes übersehen konnte. Obwohl mehr kaum machbar war, wenn auch eine Mondkind jetzt einen „12 – Stunden – Halbtagsjob“ hat.

Aber der Reihe nach.
Montag.
Am Wochenende muss High life in der Notaufnahme gewesen sein. Jeder Patient, der einigermaßen stabil war, wurde auf die periphere Station verlegt und alle Patienten die wir haben, sind neu. Ich kenne keinen Einzigen. „Nicht stressen Mondkind – alles gut“, versuche ich mir zu sagen, während ich versuche bis zur Visite, die Patienten der halben Station ausgearbeitet zu haben. Um kurz nach 10 Uhr rufe ich den Oberarzt an, um ihn etwas zu fragen. „Mondkind, ich sitze schon im Arztzimmer – kommst Du Bilder schauen? Wir müssen los legen, sonst werden wir nie fertig…“ Rein formal geht die Visite um 10 Uhr los. Allerdings haben wir in der ganzen letzten Woche nie eher als kurz vor 11 angefangen und ich hatte stillschweigend angenommen, dass er uns etwas Zeit lässt, wenn er um die knappe Besetzung weiß. Zu dem Zeitpunkt habe ich nicht mal alle Patienten gesehen.
Öfter als es mir lieb ist, muss ich in der Visite „Ich weiß es nicht“ sagen. Das ist aber immer noch besser, als  etwas anzunehmen und dann stellt sich heraus, dass die Annahme falsch ist.
„Mondkind komm rein“, zitiert mich der Oberarzt heran, als ich nach der Visite am Arztzimmer vorbei rase. „Für die Umstände habt Ihr das sehr gut gemacht“, sagt der Oberarzt zum Kollegen und mir.
Na wenigstens etwas.

Im Lauf des Nachmittags kommt der Oberarzt der Notaufnahme vorbei. Er knallt mir ein EEG – Buch auf dem Tisch. „So Mondkind, das kannst Du jetzt mal lesen…“ Mein Oberarzt hatte ihm eine Mail geschrieben und gefragt, ob er mir mal kurz das EEG – Programm erläutern könnte. „Und dann kannst Du ja mal ein wenig mit dem Programm herum spielen…“, erklärt er.
Ich verstehe ja nicht, wieso keiner mal 20 Minuten Zeit hat. Abends um 20 Uhr ist meine Motivation für Spielereien mit dem EEG – Programm eben auch nicht mehr so hoch.

Dienstag.
Es geht schon blöd los. Die Kette meines Fahrrades ist wieder mal etwas schwergängig und gerade als ich mit einem kräftigen Pedalentritt die Straße vor einem Auto überqueren möchte, springt die Kette raus. Das Auto muss ziemlich scharf bremsen und ich muss mich bemühen, nicht vom Fahrrad zu fallen. Diesmal wird es schwierig, das zu reparieren. Die Kette ist hinten vom innersten Blatt gefallen und hat sich so verhakt, dass ich sie nicht mehr lösen kann. Eine Bekannte schlug vor, das Fahrrad umzudrehen und es dann nochmal zu versuchen, aber dazu werde ich frühestens am Wochenende kommen. Also muss ich jetzt mal wieder zur Arbeit laufen und bin auch sonst gerade ziemlich immobil. Der Weg zum Standard – Supermarkt ist zu Fuß zu weit. Hier ist zwar auch einer um die Ecke, aber der ist sehr teuer und da die Küche diesen Monat alle verfügbaren Ressourcen gefuttert hat…

Natürlich bin ich viel zu spät auf der Station. Und gerade, als ich zur Morgenbesprechung rasen möchte, kommt ein neuer Patient. Er braucht eine Untersuchung mit Kontrastmittel, hat aber eine Allergie. Zwar kenne ich den Cocktail den wir verabreichen, aber nicht die Dosierungen. Es muss schnell gehen und alle Kollegen sind eben gerade in der Frühbesprechung. Die Schwestern können mir auch nicht weiter helfen, also bleibt nur, sich durch die Beipackzettel zu lesen und zu hoffen, dass man es dann richtig macht.

Und als ich mich an diesem Morgen endlich mal auf meinen Bürostuhl fallen lassen möchte, klingelt das Telefon schon wieder. Ein Patient ist gestürzt. „Mondkind, Du musst kommen – der ist völlig blutüberströmt und hat eine Kopfplatzwunde…“
Es sieht wirklich übel aus. Obwohl solche Platzwunden häufig schlimmer aussehen, als sie es sind. Ich telefoniere zig Mal mit der Unfallchirurgie, weil die sich auch nicht einig sind, ob sie kommen wollen, oder ob wir die Patientin bringen sollen und ordne mit etwas zeitlichen Verzug ein CT an.

Und dann ist es kurz vor zehn Uhr – also kurz vor der Chefarztvisite – und ich habe genau nichts vorbereitet. Schnellstmöglich lese ich mich durch die Befunde und bin darauf vorbereitet, dass die Visite eine komplette Katastrophe wird. Aber wie immer wir das auch schaffen – der Chef wird nicht laut unterwegs.

Am Nachmittag ist eigentlich Fortbildung – die schwänzen wir, ebenso wie die Mittagspause. Und dann wird bis in die Abendstunden gearbeitet. Station zu zwei rocken… - geht doch irgendwie.
Auch wenn ich mehrmals mit Tränen in den Augen vor dem PC sitze und gefühlt kurz vor der Dekompensation bin.

Es geht. Bis Mittwoch.
Dann steht der Oberarzt in der Tür. Mit Akte unter dem Arm. Setzt sich erst zur Kollegin, was mich schon innerlich aufatmen lässt. Dann hat er bei mir wohl keinen Fehler gefunden. Aber statt den Raum zu verlassen, kommt er im Anschluss zu mir.
Auch die Visite läuft heute holpriger. Die Ressourcen sind so langsam verbraucht. Die Briefe stapeln sich. Ein bisschen Desillusion. „Ich bin Euch nicht böse – ich weiß ja, wie die Personalsituation ist und dass Ihr tut, was ich könnt“, erklärt der Oberarzt. Aber das macht es auch nur bedingt besser. Ich würde gern alles richtig machen.

Mehr als ein Feldbett bräuchte es eigentlich nicht – ich komme nicht mal dazu, die Wohnung kurz durchzusaugen. Nur einen Tee, kurz etwas zwischen die Zähne schieben, den Tag etwas sacken lassen. Mehr wird am Abend nicht mehr.

***

„Also Frau Mondkind – das muss Ihnen klar sein, dass ich dann auch die Rollen wechseln muss, wenn Sie mir so etwas sagen. Wenn es Probleme gibt, kann ich Ihnen gern therapeutisch zur Seite stehen, aber dann ist das nicht mehr mein Job. Dann muss ich die Polizei informieren. Ist Ihnen das klar?“
Die Therapeutin in der Leitung. Ein festes „Ja“, das seltsam weh tut.
Es geht darum, wie sich die Situation seit der letzten Woche entwickelt hat. Und darum, dass ich erläutere, dass ich hoffe, es bis zum Jahreswechsel zu schaffen und es danach eher kritisch sehe mit dem Leben und mir. Aber es dadurch jetzt gerade ein bisschen entspannter ist.
Es war ein ehrliches Statement. Ein bisschen zu ehrlich. Manchmal frage ich mich, was Frau Therapeutin sich so denkt. Ob es mir wohl besser geht, wenn man weiteren Erläuterungen einen Riegel vorschiebt? Schon verstanden – darüber ist nicht mehr zu reden. Wie auch immer es ausgeht… - leise auf jeden Fall.

Es ist schwierig. Sehr schwierig. Und an diesem Punkt zu sein, an dem man nicht mehr darüber reden darf, hat es noch nie besser gemacht.
Im Prinzip ist ja mittlerweile Dauer – Krise. Es darf auch zur Verzweiflung führen. Es darf weh tun, sagt Frau Therapeutin. Weil jeder gehofft hat, dass es anders läuft. Dass ich wirklich mal irgendwo ankomme, eine Heimat finde, einen Ort, der mir Halt und Sicherheit und einen Grund zum Leben gibt. Und zu erleben, dass es nicht so kommt und zudem neu im Job zu sein, darf schwierig sein. Ich glaube, ich muss erstmal aufhören, mich dafür zu verurteilen.

Und dennoch frage ich mich manchmal, wie ich heute über das Leben denken würde, wenn diese wenigen hellen Tage aus dem letzten Sommer, sich gelegentlich wiederholen würden. Wenn das Hin und Wieder meine Realität sein würde. Als ich meinem ehemaligen Psychiater geschrieben habe, dass man es kaum glauben mag, aber dass es sich am Ende gelohnt hat. Ich habe mich bedankt, dass er mich durch die dunklen Zeiten begleitet hat und habe noch ein paar Tipps für dieses „neue Leben“ bekommen.

Es ist nicht so, dass ich irgendwen von den Personen, die darüber wissen, nerven möchte. Jedes Reden über dieses Thema ist eine riesige Überwindung. Weil ich doch nicht so viel Hilfe und Aufmerksamkeit brauchen darf. Ganz bestimmt möchte ich niemanden zu sehr einspannen.
Ich komme nur nicht vorwärts und ich nicht rückwärts und verzweifle so sehr an der Situation – aber das langsam nicht mehr kommunizieren zu dürfen, macht es eben absolut nicht besser. Weil es eben keine Show ist. Weil meine Realität ist.

„Ich glaube Mondkind, Du spürst mittlerweile so wenig, dass Du das zwischendurch brauchst, in dieses Loch zu fallen. Diese Ende zu sehen. Denn dann spürst Du plötzlich Todesangst. Dann merkst Du plötzlich: „Da ist ja noch etwas. Und das bin ja ich…“ Und dann siehst Du in diesen Momenten Dich selbst…“
Keine Ahnung, ob das Sinn macht.
Auf jeden Fall darf dieses dauerpräsente Thema jetzt langsam gern mal die Pausentaste drücken. Ich kann das langsam wirklich nicht mehr. Allmählich brauche ich mal wieder das Leben im meinem Kopf.

Der Seelsorger hatte übrigens auch einige… - interessante Ideen. Vielleicht berichte ich darüber, wenn ich dazu irgendeine Einstellung entwickelt habe. Es wäre eine erste Idee, wie man eine Mondkind über den Jahreswechsel retten kann.
Eher ungünstig war auf jeden Fall, dass ich – als wir aus der Kapelle kamen – direkt dem Chef in die Arme gelaufen bin. „Mondkind, was machst Du denn mit unserem Pfarrer…?“ Kopf --> Tischplatte. Keine weiteren Fragen. Bitte.

Mondkind

Bildquelle: Pixabay


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