Patientenschicksale und Worte des Klinik - Therapeuten
Samstag, 15.02.2020
Samstagmittag. Ich habe mein Rad aus dem Keller geholt und bin mit dem
Rucksack auf dem Rücken zum Supermarkt geradelt. Gerade stelle ich das Fahrrad
in den Fahrradständer, als Jemand über den Parkplatz ruft „Hallo Frau Doktor…!“
Dorf eben. Auch am Wochenende kommt man nicht aus seinem Job raus.
Innerhalb von Sekunden schalte ich auf dem Arbeitsmodus und schaue mich um, wer
mich da gerufen hat. Die Angehörige eines Patienten, den ich lange Zeit betreut
habe.
„Ich weiß gar nicht, ob Sie sich noch erinnern…“, legt sie los. „Natürlich
erinnere ich mich“, unterbreche ich sie. „Ihr Mann lag doch bestimmt bald drei
Wochen bei mir…“ Ich erinnere mich an den Fall, der mich sämtliche Nerven
gekostet hat. Der Schlaganfall war nur das Symptom eines ganz anderen Problems.
Je mehr Diagnostik wir gemacht haben, desto mehr haben wir gefunden. Da war der
Schlaganfall, eine schmerzhafte Schwellung am Nacken und ein Tumor mit aufgelagertem
Thrombus im Herzen. Meine Aufgabe war es, den Patienten nach abgeschlossener
neurologischer Behandlung irgendwohin zu verkaufen, was alles andere als
einfach war. Die HNO – Ärzte haben gesagt, dass er ja auch noch etwas am Herz
hat und dann wohl dort besser aufgehoben wäre. Die Kardiologen haben gesagt,
dass er ja schließlich auch noch ein HNO – ärztliches Problem hat und dann doch
besser in der HNO aufgehoben wäre.
Wo ich ihn am Ende hin verlegt habe, weiß ich gar nicht mehr. „Wissen
Sie was es war?“, fragt mich die Frau. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es
wissen möchte. Es sah alles irgendwie schlecht aus. „Krebs", sagt sie,
ohne meine Antwort abzuwarten. „Er war dann nochmal einen halben Monat im
Krankenhaus, aber das hatte keinen Sinn mehr. Am Ende ist er bei Euch auf der
Palliativstation verstorben… Aber er wollte am Ende auch wirklich nicht mehr…“ „Das
tut mir sehr leid“, sage ich und in dem Moment trifft es mich wirklich. Er war
ein sehr geduldiger, sehr lieber, und nach seinem Schlaganfall stockdepressiver
Patient. Ich habe oft lange an seinem Bett gesessen und mit ihm gesprochen.
„Aber was ich noch sagen wollte…“, reißt mich die Frau aus meinen
Gedanken, „Sie haben wirklich einen sehr guten Job gemacht und sich sehr viel
Mühe gegeben. Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar. Halten Sie an Ihren Idealen
fest – ich glaube, das ist das Wichtigste…“
Danach gehe ich völlig verwirrt durch den Supermarkt. So schön und so
traurig zugleich.
Montag, 17. Februar 2020
Erster Tag seit der Fortbildung. Ich kenne keinen Patienten auf
Station und um den anderen Kollegen nicht ihre ihnen bekannten Patienten wegzunehmen,
muss ich warten, bis wir die Stationsverteilung gemacht haben. Normalerweise
fange ich ja viel früher an, als die anderen, um bis zur Visite alles auf dem
Schirm zu haben.
Die Morgenbesprechung dauert ewig, viel Zeit um die Patienten kennen
zu lernen, bleibt nicht. Dementsprechend holprig läuft die Visite. Der Oberarzt
schimpft zwar nicht (das tut er ja fast nie), aber er ist extrem genervt. „Mondkind,
was war das denn?“, fragt er am Nachmittag. Ich versuche mich zu erklären und
er versteht es wohl zumindest zum Teil. „Dann ist es in Ordnung“, sagt er. „Aber
sieh zu, dass Du morgen Deine Patienten kennst und macht heute schon Eure
Stationsverteilung für morgen. Da sind wir sehr viel schlechter besetzt…“
Später am Abend. „Sag mal Mondkind – hattest Du nicht um 19 Uhr einen
Termin? Wolltest Du nicht bis dahin zu Hause sein?“, fragt der Kollege. „Ich
kann auch von hier telefonieren“, entgegne ich. „Soll ich Dich schnell nach
Hause bringen…?“ Na gut, kann man auch machen. Sehr lieb.
Um 19 Uhr stehe ich mit einer Punktlandung in der Tür und wenig später
klingelt das Telefon. Der Herr Kliniktherapeut ist in der Leitung. Ich sitze
auf dem Sofa. 400 Kilometer Distanz zwischen uns. Ich höre, wie er mit den
Schlüsseln klappert. Und kann mir vorstellen, wie er vor seinem Büro steht,
gerade die Tür abschließt und der Gang der Tagesklinik ansonsten schon
verlassen ist.
Das Gespräch beginnt – wie so oft – etwas holprig. Denn was kann man
noch sagen? Wir reden darüber, dass das Helfersystem auseinander brechen wird.
Sowohl der Seelsorger, als auch die Therapeutin werden weg fallen, wenn ich in
die Notaufnahme rotiere. Aber ändern kann er es auch nicht. Genauso wenig, wie
mir irgendjemand die eng aufeinander folgenden Krisen abnehmen kann. „Was kann
ich denn jetzt noch akut für Sie tun?“ Die Frage höre ich öfter in der Stunde.
Ich weiß es nicht. Ich weiß, dass das so nicht mehr ewig weiter geht. Dass ich
nicht mal weiß, ob es mit der Notaufnahme irgendwie gehen wird, wenn mich schon
die Station an den Rand bringt.
Und dann wird es doch noch emotional und ich erkläre, dass mir
manchmal bewusst wird, wie viele Möglichkeiten es auf dieser Welt gibt und dass
bei mir alles so eng ist, weil ich erstmal ein zu Hause finden muss und im
Moment glaube, dass ich es hier zumindest bis zum Ende versuchen muss. Denn
wenn ich die Idee jetzt aufgebe – was bleibt dann noch übrig von mir? Wer bin
ich dann noch? Wo orientiere ich mich dann, wenn ich wieder alle Möglichkeiten
habe? Und wann darf man Projekte überhaupt für gescheitert erklären? Wann darf
man aus der Situation fliehen, weil sie so unaushaltbar ist? Und wie werde ich
die Frage ertragen, ob es sich nicht doch noch zum Guten hätte wenden können,
hätte ich es noch ein bisschen länger ausgehalten.
Der Herr Therapeut sagt, dass er mir die Entscheidung nicht abnehmen
wird. Aber ich hätte ja einen Ort, an dem ich erstmal sicher wäre. Die Klinik.
Und dann entlockt er mir, dass ich doch eigentlich schon nochmal gern dorthin
gehen würde. Ein bisschen Abstand gewinnen. Ein bisschen die Alternativen
sortieren. Ein bisschen nachdenken, ob das hier überhaupt noch klappen kann.
Aber wie soll ich die Entscheidung treffen, wenn ich emotional so sehr da drin
hänge? Wenn ich jeden Tag auf den Durchbruch hoffe?
Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht. Schon die Therapeutin
hatte irgendwann mal gesagt, dass ich die Entscheidung zurück in die Klinik zu
gehen treffen muss, bevor es zu akut wird und ich dann hier in die Psychiatrie
muss. Aber wann ist der richtige Zeitpunkt, um die Reißleine zu ziehen? Wird
man das wissen?
„Sie melden sich“, erklärt Herr Therapeut am Ende des Telefonats
„Mh…“, erwidere ich.
„Okay – dann haben wir jetzt eine Vereinbarung“, sagt er. (Spätestens
das ist der Tränenmoment).
„Wann soll das denn ungefähr sein?“, frage ich.
„Das werden Sie schon wissen“, antwortet er.
Ich wüsste nicht, wo ich ohne diesen Therapeuten heute wäre. Egal was
auch passiert. Er bleibt. Irgendwie. Trotz der Distanz. Trotz der
Destruktivität.
Dienstag, 18.02.2020
Oha ja… - heute sind wir unterbesetzt. Zur Chefarztvisite.
Zwar bin ich schon um sieben Uhr da und bereite meine Patienten vor –
aber in Anbetracht, dass die Frühbesprechung heute eine Ewigkeit dauert, ist
das trotzdem knapp geplant. Und dann habe ich heute auch noch viele neue Patienten.
Eine davon kam hyperglykämisch entgleist mit neurologischen Ausfällen zu uns
und nach einer Normalisierung des Blutzuckers war – oh Wunder – die Symptomatik
verschwunden. Zwar hätte sie damit trotzdem in die Innere gehört und nicht als „Stroke
mimic“ zu uns, aber das kann passieren. Was den Chef allerdings auf die Palme
bringen wird ist, dass es bisher nicht mal einen Langzeitblutzucker und kein
diabetisches Konsil gibt. Ich leite das alles noch schnell in die Wege, damit ich
auf der Visite zumindest vermelden kann, mich gekümmert zu haben.
Es läuft dann auch erstaunlich gut.
„Heute war es wieder besser…“, kommentiert der Oberarzt meine Leistung
am Nachmittag. „Naja, heute kannte ich dann ja auch meine Patienten mal…“, gebe ich zurück. „Gestern habe ich mich wirklich gewundert, was mit Dir los
war Mondkind…“, sagt er. „Muss man das so heraus kehren?“, frage ich. „Ich
hatte halt gestern einfach keine Zeit, die Patienten kennen zu lernen…“ „Ich
bin einfach anderes von Dir gewohnt Mondkind – da fällt das schon auf“,
entgegnet er.
Was allerdings nicht auffällt ist wohl, dass ich dafür jeden Tag 12
Stunden in der Klinik sitze. Es ist ein sich selbst verstärkender Prozess.
Diesen Standard, den ich jetzt abliefere, werde ich nie wieder „rückgängig“
machen können. Das ist jetzt meine „Baseline“. Und es eskaliert immer mehr.
Beim Mittagessen ruft mein zukünftiger Vorgesetzter, mit dem ich auf
der Fortbildung war, eine Kollegin an. Sie soll, weil ich ja erst im Mai komme,
bis Mai die Epilepsie – Station machen. Ich hoffe sehr, sie wächst dann da
nicht fest. Ich hätte schon Lust auf Epilepsie – zumindest jetzt noch. Zeitlich
gesehen nehmen diese Patienten extrem viel Zeit in Anspruch und es wurde schon
gesagt, dass dann ja klar ist, wer da abends um 19 Uhr noch die Video – EEGs auswertet…
16:15 Uhr. Eigentlich wollte ich früher nach Hause. Die Pflege ruft
an. Einer Patienten geht es schlecht. Sehr schlecht. Sie ist fast 100 Jahre
alt, hat eine dialysepflichtige Niereninsuffizienz und ist nach einem Sturz mit
minimaler Hirnblutung bei uns. Wir machen nochmal Diagnostik. Nehmen nochmal
Labor ab, machen nochmal ein Bild vom Kopf – aber wirkliche Katastrophen, die
wir behandeln können, finden wir nicht.
Ich rufe nochmal den Oberarzt an. „Mondkind ich bin in der Notaufnahme
– komm mal rum…“ Und dann sitzen wir da. „Ich weiß nicht, was ich mit der Frau
noch machen soll“, erkläre ich. „Ich habe nichts, das ich behandeln kann…“ „Mondkind,
Du sollst mit ihr nichts machen. Du sollst mit den Angehörigen reden und sie
sterben lassen. Ich bitte Dich – sie ist schwer vorerkrankt und fast 100 Jahre
alt…“ Ich schaue ihn an. „Mondkind, Du hast nichts falsch gemacht. Aber Du bist
Ärztin und Du musst das jetzt regeln. Der Tod gehört zum Leben dazu. Vor allem
in dem Alter. Es ist alles okay…“
Die Familie wird zusammen getrommelt und dann stehe ich abends um 19
Uhr am Bett. Erkläre, dass wir gemeinsam überlegen müssen, was wir Ärzte machen
sollen, wenn es ihr noch schlechter geht. Ob wir sie auf die Intensivstation
verlegen, oder reanimieren sollen. Die Angehörigen entscheiden sich dagegen.
Sie soll nicht leiden. Aber sich auch nicht mehr quälen müssen.
Ich dokumentiere alles in der Patientenakte. Und frage mich, ob ich
sie morgen früh noch sehen werde.
Mondkind
P.S.
Morgen wird es sicher keinen Blogpost geben, aber morgen wird der Blog
drei Jahre alt.
Ich verzichte auf einen sentimentalen Rückblick. Aber es ist
unglaublich, was seitdem alles passiert ist. 620 Blogposts später und mehr als 83.000 Aufrufe später...
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