Über die Bedeutung der Hoffnung


So I found a reason to stay alive
Try a little harder see the other side
Talking to myself
Too many sleepless nights
Trying to find a meaning to this stupid life 


(Melanie C - First Day of my life)


Was es mit diesem Lied auf sich hat – dazu kommen wir gleich noch.
Nur erstmal vorweg… - ist heute nicht der positivste Blogeintrag. Also wer da gerade nicht so die Kapazitäten für hat, liest es einfach nicht. 

***

Samstagmorgen.
Ich stehe im Wintergarten. Barfuß. Draußen hängt der Frost in jedem Winkel  - dementsprechend kalt ist es. In der Hand der erste Kaffee des Tages.
Atmen. Versuchen, ein bisschen zur Ruhe zu kommen.
Immer noch Tränen in den Augen. Wie schon die ganze Nacht.
Das geht einfach nicht mehr.

Ehrlicherweise muss ich sagen, dass der Spätdienst gestern vom Arbeitsaufkommen her gar nicht so hoch war. Ich musste – das erste Mal in meiner Spätdienstkarriere – nicht mal in die Notaufnahme (das hätte ich auch nicht geschafft gestern) und war stattdessen mit einer Epilepsiepatientin auf Station gut beschäftigt. Wir hatten einen sehr kompetenten und erfahrenen ersten Dienst, der nicht nur Neurologie, sondern auch Intensivmedizin gemacht hat und Notarzt fährt. Er läuft mit einer erstaunlichen Gelassenheit über die Flure.
Der Oberarzt war ziemlich genervt von mir, weil ich es innerhalb von vier Tagen nicht geschafft habe, eine Stellungnahme von einem vielbeschäftigten, kardiologischen Oberarzt über einen Herzultraschallbefund zu bekommen. Ich habe den Kardiologen eine Mail geschrieben, seine Sekretärin angerufen, ihn persönlich angerufen (da hatte er natürlich keine Zeit und nachgefragt, wie ich überhaupt auf die Idee käme, ihn dafür anzurufen, wo ich doch auch ein Konsil machen könnte…) – was kann man da noch machen? Das lässt der Neuro – Oberarzt natürlich alles nicht gelten; da ist es egal, wie sehr man sich bemüht hat. Es zählt das Ergebnis und sonst nichts.

Als ich meine abendliche Visite mache, von Zimmer zu Zimmer laufe, die Patienten nochmal kurz untersuche, die Scores eintrage und sie frage, ob ich an diesem Abend von ärztlicher Seite noch etwas für sie tun kann, läuft in einem Zimmer von Melanie C „First Day of my life“. Wer kennt das noch? Ich bin immer so ein „Phasenhörer“. Manche Lieder habe ich monatelang am Stück jeden Tag gehört und dann gar nicht mehr. Das war so Eines. Es lief genau in der Zeit bei mir hoch und runter, als unser Vater einen „Töchter – Nachmittag“ eingeführt hat. Jeden Freitag hat er uns von der Schule abgeholt, hat jede Woche etwas zu essen gekocht, das es vorher noch nie gab (und manchmal ist es fürchterlich schief gegangen) und danach haben wir gemeinsam den Wochenend – Einkauf gemacht.
Es waren nur wenige Wochen in denen das so lief und in denen der Freitag als Ausgleich gedacht war, weil Papa so oft auf Geschäftsreise war.
Kurz vor der Trennung unserer Eltern war das. Und am Ende hat sich heraus gestellt, dass er nicht auf Geschäftsreise, sondern bei seiner Freundin war – und vermutlich uns gegenüber einige Gewissensbisse hatte. Aber bevor ich den Verdacht geschöpft hatte, dass da etwas nicht stimmt, war das eine echt schöne Zeit.
Und da dieses Lied mir dann gestern Abend schon die Tränen in die Augen getrieben hat, brauchte ich erstmal meine Zeit im Arztzimmer, um mich wieder zu beruhigen. 



Überhaupt bin ich im Moment viel in der Vergangenheit unterwegs. Gehe viele Stationen nochmal durch. Es ist ein Jahr und ein paar Tage her, dass ich diese Worte geschrieben habe…
„Kopfsprung. So lange habe ich Angst davor gehabt, wie die Gewässer aussehen, in die ich hinein springe. […]Ich hatte keine Wahl. Wer das Ziel erreichen will, muss diesen Sprung wagen. […]Viel mehr als Überleben konnte nicht der Plan sein. Immer wieder habe ich mit den Armen rudernd versucht die Wasseroberfläche zu erreichen. Nach Luft zu schnappen. Kurz zu überblicken, wo auf dem Ozean ich bin. Es gelang nicht. Und die Luft in den Lungen wurde jede Woche knapper.“
(22.02.19: „Ende der A - Chirurgie und Therapie – Erkenntnisse“)
Ein Eintrag über meine Zeit in der Allgemeinchirurgie, die sich vor einem Jahr auch schon in zwei Wochen dem Ende neigte. Man erkennt deutlich, wie ich das durchgehalten habe: Mit Hoffnung.
Es war eine schreckliche Zeit und wir PJler wurden nicht wie Menschen behandelt, untereinander herrscht viel Rivalität, weil jeder irgendwie versucht hat, den eigenen Kopf zu retten und ich – die mein erstes Tertial dort gemacht hat – war die Aussenseiterin.
Die Idee war, dass ich nicht mehr weit davon entfernt bin, einen Ort zu finden, an dem ich bleiben darf. Ein Ort, der ein zu Hause werden kann. Mit Hoffnung geht viel. Sehr viel.
Und manchmal schaue ich mir diese Mondkind an, die sich damals so tapfer durch die Tage gekämpft hat. Und bin heilfroh, dass sie damals nicht wusste, dass es nicht besser werden wird. Dass es das, wofür sie gerade kämpft, nie geben wird. Und manchmal… - würde ich ihr gern sagen, dass sie sich noch ein bisschen Zeit nehmen soll. Sich nicht ganz so verbissen hinter das Examen klemmen soll. Damals wollte ich lieber heute als morgen in die Ferne. Endlich ein Stück zu Hause finden. Nicht durchs Examen fallen. Nicht noch ein halbes Jahr warten müssen.  Heute weiß ich, dass durchs Examen zu fallen, kein Drama gewesen wäre – zumindest nicht in Bezug darauf, ein Stück Heimat zu finden.

Kapelle. Mit dem Seelsorger.
Wir haben es doch noch geschafft, einen Termin zu finden. Am Freitagmorgen. Vor dem Spätdienst.
Es gibt hin und wieder einen Zeitpunkt, in dem man selbst so weit weg von der Bereitschaft für Lösungen ist, dass man dem Gegenüber unmöglich klar machen kann, wie es aussieht – gestern war so ein Tag.
Der Seelsorger hat sich Mühe gegeben – das muss ich ihm schon zugestehen. Auch, wenn er die Grenzen manchmal dezent überschreitet. Ich hatte mich im Verlauf der letzten Woche schon gewundert, warum der Chef von der Reha mich darüber ausgefragt hat, wie es denn so läuft in der Akutneuro. Und dann erzählt mit der Herr Seelsorger, dass er mit dem Reha – Chef geredet hat. Dass es da so eine junge Ärztin gebe, die vor rund vier Monaten angefangen hat und in der Akutneuro überfordert ist. Ob das nicht möglich wäre, mich in die Reha zu holen. Könnte er machen – auf die Frühreha, hat er gesagt. (So viele Neulinge gab es nicht in den letzten Monaten – der Reha . Chef wird sehr genau wissen, wer gemeint ist. Und dann hat er mich auch noch gefragt, wie viele Monate ich denn genau schon arbeite…)
Es wäre doch schon ein Stück Versagen, erkläre ich dem Seelsorger. Das würden auch alle anderen so sehen. Wer von der Akutneuro in die Reha wechselt, hat es nicht gepackt. Normalerweise funktioniert der Weg nämlich andersherum. Jetzt in die Reha zu wechseln, wäre außerdem eine Einbahnstraße. Solange der Chef der Akut – Neuro da ist, werde ich nie wieder zurück dürfen. Ob man das nicht überlegen könnte, sich auch mal etwas zu „versagen“, regt der Seelsorger an. Immerhin bin ich eben einfach psychisch krank und wie der „alte Psychiatrie – Oberarzt“ in der Studienstadt im Sommer gesagt hatte, war ihm ja nicht so klar, ob ich es allein schaffen werde, das Studium zu beenden. Das habe ich geschafft und sogar die ersten vier Monate Akutneuro hinter mir. Wenige meiner Kollegen werden mit so vielen Ängsten und so viel Chaos im Kopf die Arbeit bewältigen. Darf ich dann nicht auch ein bisschen auf den Mensch Mondkind hören und es mir ein bisschen einfacher machen? Ein bisschen Rücksicht darauf nehmen, dass ich eben vielleicht einfach ein bisschen anders bin, als die anderen. Dass eine chronische Erkrankung Zeit braucht, die ich ihr geben muss. Vor allen Dingen dann, wenn ich bedenke, wo mich die 12 – 14 – Stunden Tage in den letzten Monaten hingebracht haben. 



Der Herr Seelsorger hat nicht Unrecht. Nur würde ein Abweichen von diesem Weg in der Akutneuro viel mehr, als nur ein Versagen – wie auch immer man das dann betrachtet – auf beruflicher Ebene bedeuten. Mit dem Oberarzt als Bezugsperson – das hat sowieso nicht funktioniert. Und das wird es auch nicht mehr, in den wenigen Tagen, die uns noch bleiben. Wenn ich der Akutneuro den Rücken kehre, dann wird es dennoch ein Schlussstrich sein – er wird das nicht verstehen können. Und egal, wie klein der Funken Hoffnung mittlerweile ist, dass es noch etwas werden kann – aber dieser Schritt würde ihn begraben. Und dann stehe ich wieder da und weiß nicht, woher dieses Herz endlich mal das bekommen kann, das es braucht.
Ich glaube, solange der Oberarzt und ich uns noch täglich sehen, wird das – so vernünftig wie es wäre – ein Schritt sein, den ich nicht gehen kann. Vielleicht könnte ich das beschließen, wenn ich mal ein paar Tage raus wäre. Die emotionale Komponente dabei nicht ganz so hoch wäre.

Der Herr Klinik – Therapeut hat letztens etwas am Rand erwähnt, das für mich jetzt irgendwie wichtig ist. Er sagte, dass es nicht nur allein meine Verantwortung ist, dass ich jetzt in dieser Situation bin. Denn irgendwie wurden da seitens des Oberarztes auch immer wieder ambivalente Botschaften vermittelt. Natürlich hätte man die Sache von Anfang an mit mehr Sinn für Realität sehen können. Natürlich hätte ich von Anfang an sagen können: „Hey Mondkind – das kann doch in der Konstellation nicht funktionieren…“ Aber wenn man so sehr wie ich auf der Suche nach Halt und Bezugspersonen ist, das Gegenüber davon weiß und - ohne es je zu sagen, aber durch die Blume vermittelt ein bisschen auf mich aufzupassen - dann ist es okay, sich nicht ausreichend davon abgegrenzt zu haben.
Natürlich ist es dann immer noch hauptsächlich meine Schuld, aber ich muss mich nicht dafür zerfleischen, mich in diese Situation gebracht zu haben.

Der Seelsorger und ich diskutieren eine Weile. Rationale Argumente habe ich irgendwann nicht mehr.
Der Seelsorger könnte sich auf den Kopf stellen. Das wird alles nichts mehr bringen, wenn ich nicht dazu bereit bin, nochmal alles über den Haufen zu schmeißen. Wenn ich nicht einsehe, dass diese Idee von einem zu Hause nicht funktioniert hat.
Es geht um Hoffnung. Man kann immer irgendwo die Hoffnung her nehmen. Es gibt immer irgendetwas. Irgendein „vielleicht“. Nur, wenn man das schon mehr als 10 Jahre lang macht und keines der „vielleichts“ je Realität geworden ist? Was macht man dann? Ich kann keine „vielleichts“ mehr akzeptieren.

„Es hört sich nach einem Ende an“, sagt der Seelsorger irgendwann.
Vielleicht wird es eins. Ich weiß nur noch nicht, auf welcher Ebene.

Ich denke an die nächste Woche. Montag muss ich die Notaufnahme machen. Nach dem letzten Freitag die Horrorvorstellung schlechthin. Am Dienstag bin ich wieder auf Station. Chefarztvisite. Da ich dann vom Montag keinen einzigen Patienten kenne, ist das ungünstig. Ich kann mir also aussuchen, mich am Dienstag vom Chef falten zu lassen (weil eine Stunde Vorbereitungszeit für 8 Patienten nicht ausreicht, wenn der Chef die Befunde von vor 10 Jahren wissen will), oder mich Montagabend, nachdem die Notaufnahme fertig ist und die Ambulanzbriefe geschrieben sind, noch hinzusetzen und zu lesen. Und zu hoffen, dass ich wenigstens noch ein paar Stunden vor dem Dienstag ins Bett komme.
Dienstag muss ich früher fertig werden mit meiner Arbeit, weil wir um 17 Uhr schon los fahren wollen in Richtung Fortbildung. Aber wir haben am Dienstag auch noch eine klinikinterne Fortbildung und Therapiebesprechung. Das kann nicht funktionieren. Die eine Kollegin hat Urlaub, der Kollege mit dem ich fahre ist frei nach Dienst. Also hängt alles an mir, wann wir los fahren. Und dann geht es nach einem ultra – anstrengendem Montag und Dienstag auf diese Fortbildung, für die ich im Moment keinerlei Kapazitäten mehr habe.
Außerdem hat der Oberarzt mich gestern ermahnt, dass ich mich nächste Woche noch um die Kardiologen – Geschichte kümmern soll. Wann immer ich das zwischendurch noch tun soll.

Es ist viel. Zu viel. Mehr als die Schultern einer Mondkind tragen können.
Man muss sich ehrlicherweise fragen, ob man sich diese letzten Tage im Februar noch geben will, wenn man sowieso in spätestens zwei Wochen mit dem Rücken zur Wand steht. Zwei Monate Notaufnahme sind nicht machbar. Die Idee von einem zu Hause geht in dem Moment flöten, in dem ich auf einer anderen Station arbeite.
Muss ich mir dann nächste Woche die Chefarztvisite geben, auf der ich keine Ahnung haben werde, die mahnenden Worte des Oberarztes, warum ich den Kardiologen nicht an die Front kriege und die super anstrengende Fortbildung mit vielen neuen, unbekannten Menschen, Orten und Abläufen, was immer, wenn es mir nicht gut geht, der Horror ist? Muss das wirklich noch sein?
Aber was ist, wenn das Gehen nicht funktioniert, wie geplant? Und dann sowieso alles anders wird? Nur, vielleicht körperlich und geistig eingeschränkt? Und wenn man dann irgendwann auf den Trichter kommt: Die Veränderung hättest Du auch einfacher haben können. Wenn der Kopf nicht so festgefahren gewesen wäre.
Aber das ist er ja jetzt nun mal.

Und es bedeutet: Viel Kämpfen, das am Ende für umsonst war. Ein Leben, das seit Jahren emotional still steht und nicht mehr in den Takt gefunden hat. Das Hoffen auf etwas, das man am Ende doch nicht mehr erlebt hat.
Die Studienstadt, die ich nicht nochmal gesehen habe. Freunde, bei denen ich nicht nochmal vorbei geschaut habe.  
Die Welt, die nicht nochmal grün geworden ist, sondern die ich zuletzt im Frost erstarrt gesehen habe.

Es sind viele Tränen, die in den letzten Tagen um dieses Zipfelchen Leben geweint wurden. Denn eigentlich… - ist es noch nicht zu spät. Und auch, wenn alle immer behaupten, dass man selbst für das Leben verantwortlich ist, was man im Endeffekt ist – aber jetzt kann ich es gerade nicht mehr tragen. Nicht mehr allein schaffen. Jetzt bräuchte ich Menschen, die die Verantwortung übernehmen. Einen Ort, an dem ich mich zusammen rollen darf, bis wieder Kraft da ist und ein bisschen Mut, um auf wackeligen Beinen und mit viel Unterstützung vielleicht einen anderen Weg zu wählen, der vielleicht irgendwann dann doch mal ans Licht führt. Jetzt brauche ich gerade Jemanden, der die Hoffnung für mich trägt, wenn ich sie nicht mehr tragen kann.

Mondkind

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