Von Patienten und Ideen der Helfer


Krankenhaus.
Schicksale.
Die hoffentlich nie normal werden.
Auch, wenn sie anstrengend sind. Mittragen eine schwierige Aufgabe wird.

Während ich am Mittwoch beim Seelsorger sitze und über meine palliative Patientin spreche, stirbt sie auf der Station. „Sie war so eine liebe Omi“, sinniere ich vor mich hin. „Mit ihren fast 98 Jahren total fit im Kopf.“ Manchmal frage ich mich, was sich solche Menschen so denken, wenn ich mit meinen 26 Jahren daher gehüpft komme und versuche, sie medizinisch sinnvoll zu behandeln.
„Das ist das Problem“, erklärt der Herr Seelsorger. „Sie haben in der kurzen Zeit eine Beziehung zu ihr aufgebaut. Und jetzt sind sie traurig, dass sie es nicht schafft…“
Vielleicht. Vielleicht habe ich auch immer noch ein bisschen Sorge, dass ich hätte etwas anders machen müssen und sie damit retten können, obwohl mir jeder sagt, dass ich nichts hätte anders machen können. Schon, dass sie in ihrem Alter 10 Jahre Dialyse überlebt hat, ist ein kleines Wunder – und irgendwann reicht dann eben ein Sturz mit ein paar Knochenbrüchen, um eine Situation dekompensieren zu lassen.

Kaum, dass ich dazu kam den einen Fall gedanklich zu verarbeiten, kommt der Nächste. Eine Dame, die seit Ende 2016 mit dem Krebs kämpft. Zwischendurch sah es mal gut aus, aber dann gab es doch Metastasen und irgendwann Mitte des letzten Jahres wurde die Therapie auf ein palliatives Konzept umgestellt. Jetzt liegt sie bei uns. Mit Hirnmetastasen. Das ist das Organ, das den meisten Menschen die größte Angst macht. Denn das bedeutet Kontrollverlust. Plötzlich gehorcht der Körper nicht mehr. Man kann sich nicht mehr bewegen, die Sprache leidet, die Konzentration und Orientierung und irgendwann verändert sich vielleicht das Wesen der Menschen. Keiner kann den Verlauf vorhersehen.
Ich muss mit ihr besprechen, wie es weiter geht. Es wird ein längeres Gespräch – das ist mir schon vorher klar. Also nehme ich einen Stuhl mit und setze mich neben das Bett. „Sitze und horche“, empfahl die Ärztin der Palliativstation mal. Also höre ich mir die ganze Geschichte, die ich zuvor schon in den unzähligen Briefen durchgearbeitet habe, nochmal aus ihrer Sicht an.
Ich höre viel Verzweiflung. „Eigentlich wäre es doch auch ein bisschen inkonsequent, wenn ich jetzt die Metastasen behandeln lasse und der ganze Rattenschwanz dann wieder von vorne los geht…“
Ich biete ihr die Möglichkeiten an, die wir haben und auch, die neurochirurgischen Kollegen mit ins Boot zu holen, oder sie zurück auf eine onkologische Station zu verlegen. Erkläre, dass man die Dinge invasiv und weniger invasiv angehen kann und sicher auch über eine palliative Bestrahlung sprechen kann, wenn man das neurochirurgische Programm nicht mehr möchte.
„Was soll ich jetzt machen?“, fragt sie und schaut mich an. „Naja…“, beginne ich. „Die Entscheidung müssen Sie letzten Endes selbst treffen.“ In dem Moment, in dem ich es sage, kommt es mir unglaublich hart vor. Denn irgendwie kann ich sie hundert prozentig verstehen und fühle mich sehr an mich selbst erinnert. Und dann füllen sich ihre Augen wieder mit Tränen. „Ich kann Ihnen verschiedene Lösungsmöglichkeiten anbieten, mit Ihnen die Vor- und Nachteile durchgehen, aber ich habe nicht das erlebt, das Sie in den letzten Jahren durchgemacht haben. Wenn Sie sagen, dass Ihnen schon beim Wort „Chemotherapie“ übel wird, dann ist das Ihre Realität, die berücksichtigt werden muss. Aber genau deswegen kann ich auch die Entscheidung nicht für Sie treffen. Was ich Ihnen aber raten würde ist, dass Sie das vielleicht auch mit den Angehörigen besprechen, die in den letzten Jahren ganz nah an Ihnen dran waren. Und was wir hier für Sie tun können ist, dass wir Sie noch bis nächste Woche da behalten, sodass Sie bei uns über das Wochenende etwas zur Ruhe kommen können, ärztliche Ansprechpartner haben, sicher auch Jemanden finden, wenn Sie Redebedarf haben und die ganze Situation für sich  vielleicht ein bisschen klären können.“
Das entspannt die Situation sichtlich. Ich hoffe, ich habe in dieser schwierigen Lage etwas Gutes getan… 

Auf einem Spaziergang durch den Park letzte Woche...


Mittlerweile ist es noch eine Woche, bis es März wird. Die Kollegen machen mir nicht gerade Mut für die Notaufnahme. Gestern durfte der Arzt in der Notaufnahme nicht für eine Mittagspause vom Spätdienst abgelöst werden, obwohl wir die Kapazitäten dafür gehabt hätten. „Der muss das lernen, unter Stress zu arbeiten. Im Dienst kannst Du manchmal auch keine Pause zwischendurch machen…“ Es ist aber kein Dienst. Wieso muss man da Jemanden so hängen lassen? 12 Stunden ohne einen Fuß aus dieser Notaufnahme zu setzen, ist schon echt hart. Wie es ihm dort so geht weiß ich nicht, aber bei mir hat die Angst schon nach zwei Stunden die Energiereserven so gefressen, dass scharf sehen eine Herausforderung wurde.
„Mondkind, da siehst Du ja, was auf Dich zukommt…“, erklären die Kollegen. Ich lächle nur noch müde und sage gar nichts dazu. In der zweiten Woche ist es Oberarzt der Notaufnahme dann direkt erstmal nicht da. „Ich habe also eine Woche, um Dich fit zu bekommen“, erklärt er mir. Na super… - das wird ja definitiv funktionieren… - nicht.

Ich habe im Verlauf der letzten Tage nochmal das Helfersystem aktiviert. Es scheint allerdings so zu sein, dass ich an den Helfern scheitere, die wiederrum an mir und im Endeffekt wir alle aneinander.
Klinik oder nicht – darum drehen sich seit Wochen hauptsächlich die Bemühungen. Dass ich selbst Ärztin bin, bringt an der Stelle leider gar nichts. Auch wenn ich versuche mich von meinem Umfeld abzugrenzen, komme ich - glaube ich - nicht von der Auffassung los, dass wieder in die Klinik zu gehen, eventuell allgemein als ein Ausdruck von Faulheit gesehen wird. Meine Familie hat mir das gern unterstellt – deshalb war die Klinik auch jedes Mal ein Versteckspiel mit der Familie. Und obwohl ich mich wehre, diese  Ansicht zu übernehmen, ist die Angst, dass es so sein könnte, doch irgendwo in mir verankert. Und wenn Mondkind Eines nicht ist, dann ist sie nicht faul.
Bei den Diskussionen über die Klinik schießt die Frau Therapeutin immer den Vogel ab. Wenn ich das wollen würde, dann könnte sie ja vielleicht mit der Station telefonieren. Könnten wir bitte noch mehr Konjunktive in den Satz einbauen, um es noch komplizierter zu machen? Damit es noch ein bisschen mehr klingt wie: „Naja, eine Notwendigkeit besteht jetzt nicht so richtig, aber wenn Sie das unbedingt wollen und mal eine Pause von der Arbeit brauchen, dann könnten wir da schon noch einen Weg finden…“
Wahrscheinlich meint Keiner von denen das so. Vermutlich ist es eine Mischung aus missverständlicher Kommunikation, weil einige Annahmen nie laut geäußert werden und einem rechtlichen Problem. Die können mich nicht zwingen – das ist schon so.
Nächste Woche bin ich nochmal mit dem Seelsorger verabredet – so allmählich gibt es allerdings tatsächlich nichts mehr zu reden. Wir drehen uns im Kreis. Und werden da vermutlich nicht mehr rechtzeitig raus kommen.

Mittlerweile tut auf der Stroke Unit zu sitzen quasi schon durchgehend weh. Zerreißt mir ein bisschen das Herz
Und irgendwie… - bin ich auch viel in vergangenen Zeiten unterwegs. Letztens habe ich ein bisschen auf meinem mp3 – Player gekramt und einige Lieder schmeißen mich zurück in den Sommer 2018.
Jeden Morgen gehe ich an dem Haus vorbei, in dem ich im PJ gewohnt habe. In letzter Zeit erinnert es mich häufig an die wenigen hellen Tage, die ich hier verbracht habe.
Max Giesinger – Legenden. War eines meiner Lieder dieses Sommers gewesen. Diesen wenigen Wochen, die gut liefen. Und das Lied passt auch vom Text so gut. „Da draußen ist so viel, das wir noch nicht kennen. So viel, das wir sein können – wir müssen nur beginnen…“  
Damals habe ich noch auf der Inneren gearbeitet, hatte mir eine gute Stellung im Team erarbeitet und war auf der Neuro häufig zu Besuch. Der Mensch, der Bezugsperson werden sollte, übernahm – so kam es mir vor – diese Aufgabe immer mehr. Irgendetwas über das PJ zu erzählen gab es immer in diesen heißen Sommertagen da unten in seinem Büro im Keller. Ich auf dem grünen Stuhl, er übereck. Auch die Familie schien zumindest in Teilen wieder zusammen zu wachsen. Meine Schwester war oft zu Besuch; wir waren ständig im Umland unterwegs. So viel Sommer hatte es seit Jahren nicht gegeben. Und ja… - die Welt hatte doch tatsächlich viel zu bieten, wenn man die Kapazitäten hatte, sie mit offenen Augen zu betrachten.
Lange hielt das alles nicht. In der Neuro hat man schon immer extrem viel erwartet – ob der Mitarbeiter erst wenige Wochen oder schon viele Jahre da ist, macht keinen gewaltigen Unterschied. Im PJ auf der Neuro endlich angekommen, war da immer die Angst zu scheitern - am Ende bin ich durch eine von deren Prüfungen des PJs auch tatsächlich durchgefallen. Und mit der Angst, wurden auch die Kapazitäten für Ausflüge am Wochenende, weniger. Mit meiner Schwester muss man vorsichtig sein – ein dezenter Hinweis zwischen den Besuchen doch mal etwas mehr Zeit zu lassen, hat sie als persönliche Ablehnung aufgefasst und kam dann einfach überhaupt nicht mehr.
So schnell war der Sommer vorbei.

Der Seelsorger hat letztens aber noch etwas sehr Interessantes gesagt. Was ich denn alles so vom Ort in der Ferne erwartet habe – das war die Frage gewesen. „Naja… - im Prinzip war das ja alles nicht mehr meine Idee“, habe ich zurückgegeben. „Der Oberarzt kannte ja die Geschichte und irgendwann hat er mir dann erklärt, dass es noch eine schwierige Zeit werden würde, bis ich endlich das Examen habe, aber dann könnte ich ja hierher kommen. Erstmal hier anfangen zu arbeiten, erstmals in einem Umfeld sein, in dem sich nicht mehr laufend alles ändert, an einem Ort nach den ganzen Umzügen der letzten Jahre endlich mal ankommen, was nicht so schwer werden dürfte in diesem kleinen Kaff hier. Eine eigene Wohnung haben, geregelte Arbeitszeiten, nebenbei ganz viel Therapie machen und dann nach und nach zur Ruhe kommen. Und er sei ja auch noch da…  
Und – eben weil ein Ort wie dieser ja nicht unbedingt den Idealen eines jungen Menschen entspricht – müsse ich ja hier nicht fest wachsen. Erst mal stabiler werden, irgendetwas in Richtung „gesund werden“ und dann – wenn ich mich ein Stück gefunden habe – wieder raus in die weite Welt.“
Ich mache eine Pause. „Und im Prinzip war das zu dem Zeitpunkt genau das, was ich hören wollte. Das Einzige, was ich brauchte, war ein Ort, an dem ich sein darf, der ein zu Hause werden kann und eine Bezugsperson, die ganz nah dran ist. Und das Gute daran war – es war nicht mehr meine eigene, verrückte und völlig unrealistische Hoffnung, dass irgendwann mal irgendetwas besser werden kann. Da hat Jemand die Situation mitgetragen. Ohne Aufforderung und ganz freiwillig. Da gab es Jemanden, der noch an eine Zukunft glaubte. Als ich diese Hoffnung längst verloren hatte.“
Und dann erklärt der Herr Seelsorger, dass ich jetzt wahrscheinlich an jedem Menschen kleben würde, der mir so etwas vermittelt hätte. Es ist nicht die Abhängigkeit von dieser Person, sondern die Abhängigkeit von dieser Idee. Und das entlastet etwas. Weil ich doch nie wieder von Menschen abhängig sein wollte.

Und jetzt… - wie machen wir es jetzt? Eine Woche Zeit gibt es, um das Problem zu lösen. Oder einfach weiter zu machen…
Irgendwie bin ich erstaunlich ruhig dafür, dass die Bedrohung quasi vor meiner Nase klebt. Vielleicht, weil ich – trotz allem – irgendwo auch dankbar bin. Dafür, dass ich es noch erreicht habe, hierher zu kommen. Zwar war die Situation durch die Erwartungen des Chefs ständig angespannt, aber es gab gelegentlich – ganz unvorbereitet – winzig kleine Situationen, für die ich doch dankbar bin, die erlebt zu haben. Auch, wenn das große, ganze Konzept am Ende doch nicht funktioniert und der Ort in der Ferne mich auch nicht gerettet hat, gab es doch zumindest Augenblicke mit ganz viel Farbe. Für die es sich vielleicht gelohnt hat.

So… - das Wochenende wird kurz. Morgen muss ich arbeiten – demzufolge stehen Einkaufen, Haushalt und Wäsche machen heute auf dem Programm, die Sozialkontakte müssen ein bisschen gepflegt werden und wenn ich noch Gelegenheit dazu habe, sollte ich mich ein wenig ausruhen.

Mondkind


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