Brücken bauen im Büro

Was für eine Woche…

Auf der Station hatten wir nicht viele Patienten, aber diejenigen die wir hatten… - die hatten es in sich. Bei einem hat sich heraus gestellt, dass er neben seinem neurologischen noch ein kardiales Problem hat. In der einen Nacht hatte ich so viel Angst, dass er stirbt, dass ich einfach gar nicht geschlafen habe (und er ganz viel, weil ich natürlich alles nicht dramatisiert und erklärt habe, dass wir auf ihn aufpassen).
Der zweite Patient hat vermutlich eine schizoaffektive Psychose. Irgendwann konnte ich ihn nicht mehr händeln und habe den Oberarzt angerufen, dass er mit mir nochmal hingeht. „Und manche kriegen dann, wenn sie so viel Angst haben, dumme Gedanken. Dass Sie nicht mehr leben wollen oder so. Sagst Du uns dann Bescheid…?“, hat er dem Patienten gefragt. „Was nützt das… - im Zweifel?“, frage ich, als wir wieder auf dem Flur stehen. „Hat das einen anderen Sinn, als dass jeder irgendwie sein Gewissen beruhigt, um rechtlich und moralisch den Kopf auf der Schlinge zu ziehen…?“ Er schaut mich an. Legt die Hand auf meine Schulter. „Mondkind…“, seufzt er. „Es tut mir leid…“, sage ich. 
 

Freitagabend. Ich sitze im Büro des Oberarztes, der potentiellen Bezugsperson.
„Ich muss nicht viel sagen zu den letzten beiden Wochen, oder?“, frage ich und schaue auf meine Hände. Ich habe ihn… - bombardiert mit Mails. So… - jede Woche drei… - im Schnitt. "Mondkind, was ist denn los?", fragt er.

Wir tanzen umeinander, loten unsere Grenzen aus, nach so langer Zeit. Gehen ein Stück vor, spüren nach, ob der Boden noch trägt, ob der andere mitgeht. Halten inne, schauen den anderen an, hören zu, urteilen nicht zu schnell. Wählen die Worte mit Bedacht.
Wir versuchen einen Boden zu basteln, obwohl kaum noch etwas da ist, das trägt, nach all der Zeit.

Klinik.
„Wie es scheint Mondkind, hast Du da ja nur verbrannte Erde zurück gelassen“, sagt mein Gegenüber. Ich erzähle. Dass mir dieses Klinikthema täglich im Kopf herum geistert. Die Frage, wie das so schief gehen konnte. Wo ich die falschen Abzweige genommen habe, wo ich die falschen Dinge gesagt habe, wie das sein konnte, dass ich so missverstanden wurde.
Ich folge seinen Worte heute mehr als früher. Um bloß nicht wieder zu hören „Mondkind, die Opferrolle…“ Er zwingt mich, den Blick umzudrehen. „Naja, also ich kann mir schon vorstellen, dass das für reichlich Irritation gesorgt hat…“, denke ich laut vor mich hin. „Da kam die Mondkind nach einem Jahr zurück in die Klinik und plötzlich ging es darum, dass ein Freund gestorben ist, der jahrelang an meiner Seite war und von dem keiner etwas wusste. Eigentlich kann ich es denen nicht verübeln, dass die sich ihre eigene Geschichte gesponnen haben und mich wahrscheinlich für hochgradig manipulativ gehalten haben… Vielleicht haben sie nicht mal geglaubt, dass dieser Freund existiert hat – ich weiß es nicht…“
Das Resultat am Ende ist: Es konnte nicht gut werden. Vermutlich nie. Ich war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Dass ich als erstes nach der Katastrophe den Therapeuten eingeweiht habe, der zu dem Zeitpunkt mein Fels in der Brandung war, ist auch verständlich. Dass ich mir damit das Helfersystem zerschieße und ihn verliere – soweit konnte ich damals nicht mehr denken.

„Warum wusste niemand etwas von dem Freund?“, fragt mein Gegenüber.
„Die wichtigsten Beziehungen muss man schützen. Immer“, entgegne ich. „Und das geht am Besten, wenn niemand davon weiß.“
Wieso man das müsse, fragt er. Ein altes Muster. Wahrscheinlich. Wer nichts hat, kann nichts verlieren. Heute ist es mein eigenes Leben. Meine Entscheidungen. Das war lange anders. Aber ich habe das trotzdem nie öffentlich gemacht, mit welchen Menschen ich mich treffe. Niemandem gegenüber. Eine Welt, von der niemand etwas weiß, kann nicht zerstört werden, wenn wieder mal jemandem etwas nicht passt, das ich getan habe. Erfahrung, Herr Oberarzt. Erfahrung. Mag sein, dass Zeiten sich ändern. Aber manches Misstrauen bleibt. „Ich war mir so sicher, dass nichts und niemand uns trennen kann“, sage ich ganz leise. „Und dann… - fiel plötzlich wieder alles zusammen… - etwas, dass ich glaubte, das so sicher ist.“

Die Sache mit der Therapeutensuche, merkt er an. Wie weit das sei. Nicht so weit, Herr Oberarzt. Ich weiß auch nicht, ob ich das noch mal will. Und noch mal kann. „Mondkind, das ist alternativlos“, merkt er an. Obwohl ich insgeheim immer ein bisschen froh bin, wenn es wieder nicht funktioniert. Ich will nicht nochmal einem Menschen so sehr vertrauen, der mir dann durch die Finger gleitet, ohne dass ich wenigstens fragen kann, ob er nicht bleiben mag.

„Und Mondkind, als ich gesehen habe wie viele Urlaubstage Du im Dezember hast… - einem Monat, der für Dich voller Steine wird…“ „Es tut mir leid, ich weiß um die schlechte Besetzung“, erkläre ich. (Ich hätte das überhaupt nicht erwähnt mit den Urlaubstagen, ich habe genug gefehlt dieses Jahr, aber es war aufgefallen...) „Mondkind, darum geht es nicht. Ich mache mir nur Sorgen, wie wir Dich durch diesen Monat bringen…“ Er hat eine Menge Ideen. Ich muss mich um Fahrstunden kümmern, um ein Auto, nochmal Therapeuten abtelefonieren, wenn man endlich den Kreis erweitern kann. Und für die Stroke Unit gäbe es auch noch eine Menge zu erledigen, da könnte ich ihm behilflich sein. „Also Mondkind, ich weiß schon, dass ich Dich da ein bisschen ausnutze…“ Ich sehe mich schon am Schreibtisch sitzen, mit Leitlinien und Studien, um daraus dann wieder einen individualisierten Leitfaden für die Stroke Unit zu basteln. Ich schaue ihn an. Das wird ja zum Spießrutenlauf, eine astreine Stroke – Ausarbeitung für den Oberarzt zu erstellen. Denn für ihn muss sie astrein sein. „Mondkind ich weiß immer noch, dass Du wirklich leistungsfähig bist…“
Und so viel Arbeit, wie es auch wird… - es ist das Einzige, das er machen kann. Er kann nicht an meiner Seite sein. Nicht hier mit mir in meiner Wohnung sitzen und mich einfach mal festhalten. Aber er kann seine Form wählen von: „Mondkind, ich weiß, wie schwer das für Dich ist und ich helfe Dir dadurch. Und wir haben nur die Möglichkeit die Brücke der Arbeit zu wählen. Aber wenn wir in engem Mailkontakt wegen dieser Ausarbeitungen stehen, dann kann ich kontrollieren, dass Du keinen Mist machst.“

Am Ende geht es noch um das Thema Suizidalität. Von ihm aus. Nicht von mir.
„Mondkind, ich habe das mit dem Freund am Anfang auch belächelt. Mittlerweile mache ich das nicht mehr. Das ist eine ernste Situation…“
„Es ist einfach so verdammt unfair…“, sage ich. Und kann das mit den Tränen doch nicht mehr verbergen. „Was ist unfair…?“, fragt er. „Dass ich noch lebe und er nicht“, entgegne ich. „Und wenn ich mir jetzt vorstelle, dass er irgendwo vermodert…“ Stille. Lange. „Bist Du wütend?“, fragt er. „Ja…“, sage ich nach langer Zeit. „Ich würde einfach so gern noch ein allerletztes Mal seine Arme auf meinem Rücken fühlen und wissen, dass das jetzt gerade für ein ganzes Leben reichen muss…“ „Und deshalb habe ich manchmal Sorge Mondkind, dass Du ihm dann einfach hinterher gehst…“, entgegnet der Oberdoc. „Naja… - ich glaube ich bin nicht mehr so suizidgefährdet wie früher. Ich hätte im Leben nicht gedacht, was das für diejenigen, die am nächsten dran sind, los tritt. Ich habe schon darüber nachgedacht, aber ich wusste es einfach nicht. Das möchte ich keinem antun… Also… - ich denke nicht nur Müll. Manchmal ist dazwischen auch etwas Konstruktives.“ „Aber Mondkind, wenn einen dieser Schmerz überrennt, dann können die anderen in den Hintergrund treten…“, merkt er an.

Bevor ich gehe, schauen wir nochmal auf die Dienstpläne. Das wird ein komischer Dezember. Viel frei, viel Privates zu erledigen (obwohl ich mir irgendwie überlegen muss, wie ich das alles hinkriege, weil ich das so viel schwerer finde mal etwas für mich zu tun, statt für meine Patienten da zu sein) und dazwischen eingestreut immer wieder ein paar Dienste.
„Was machst Du Weihnachten, Mondkind?“, fragt er. „Ich bin auf der Stroke. Dann bin ich gut untergebracht, habe ich mir gedacht…“, entgegne ich. Und ganz still frage ich mich, ob man irgendwann wieder ein Weihnachtsfest in Gesellschaft verleben wird. Ob es irgendwo irgendwann nochmal einen Platz für mich unter einem Weihnachtsbaum geben wird.

Heimweg.
Er trägt anders, als vor unserer persönlichen Katastrophe. Von der ich glaubte, dass wir uns nicht mehr erholen können. Aber wir loten die Grenzen aus. Vorsichtig. Säuberlich. Jeder bemüht sich, nicht drüber zu trampeln. Und ich hoffe, wir können ganz vorsichtig wieder Brücken bauen.

Da ist immer noch viel Misstrauen. Ganz viel. Aber ich bin so dankbar, dass er da ist. Sich Gedanken macht. Dass wir die Grenzen aufeinander zuschieben und beide hoffen, dass das reicht. Keine Ahnung, was ich gerade ohne ihn machen würde. Man kann das sicher alles grenzwertig finden was wir da treiben und wie ich meine freie Zeit verbringe. "Aber es geht ja auch ein bisschen ums Leben bei Dir...", merkte er an.

Mondkind

 

P.S.

Ich habe noch eine Textpassage mitgebracht. Von 13. Juli 2018. Da war er auch mal auf dem Blog erwähnt. Ich kann mich genau an diesen Abend erinnern. Von denen es in der Summe so einige gab.

"In der nächstgrößeren Stadt auf dem Hauptbahnhof. Warten, bis um 23 Uhr endlich der Bus in die Studienstadt fährt. Und irgendwann sehr furchteinflößende Gestalten. „Haben Sie zufällig noch ein Bahnticket über?“, ist eine der netten Fragen. Klar doch – weil ich ja auch immer zwei Stück kaufe.

Die Busse fahren ein wenig entfernt ab. Nur wenige Menschen stehen um diese Uhrzeit noch herum. Ich bin froh, dass ich noch einen Freund an der Strippe habe. Schon komisch, dass es keine zwölf Stunden dauert, bis wir uns endlich wieder sehen würden. 

 [...]

Altbekannte Wege durch die Uni. Dort treffe ich erstmal den Freund, mit dem ich am Vorabend noch telefoniert habe. Und wie wir so durch die Uni gehen fühlt es sich ein bisschen an, als sei ich nie weg gewesen. Das PJ ist plötzlich in so weiter Ferne, dieser ganze Ort. Und ich weiß schon jetzt, dass ich am Sonntag Angst haben werde, zurück zu fahren. Ein Leben zwischen den Welten.

Wir gehen Kaffee trinken und ich esse ein Müsli dazu. Wahrscheinlich wird es eines der letzten Male sein, dass wir in der Uni zusammen Kaffee trinken. Er zieht jetzt um, ganz in meine Nähe. Bis Ende des Jahres ist es gut, danach wird es wieder schwierig, dass wir uns sehen können.

Er begleitet mich noch bis zum Anatomiegebäude. Das altbekannte Klicken der Schlüsselkarte."

 

Nachdem ich das gelesen habe, habe ich erstmal zwei Stunden geweint. Ein bisschen scheint es, als seien zusammen mit dem Freund auch viele Kapitel geschlossen worden. Nicht nur diejenigen mit einigen anderen Bekannten, dem Herrn Therapeuten, der Institution der Psychiatrie, mit der ich lange verbunden war, sondern auch die Uni. Ein bisschen. Die Uni und er… - gehörten irgendwie auch zusammen. In den Examenszeiten haben wir uns so oft dort getroffen.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Drittes Staatsexamen - ein Erfahrungsbericht

Reise - Tagebuch #2

Von einem Gespräch mit dem Kardiochirurgen