Vier Monate

 

Heute vor vier Monaten.
Die letzten Minuten Normalität.
Bevor die Welt stand. Meine Welt. Und ich mich seitdem nie wieder im Takt mit ihr mit gedreht habe. Vier Monate… - das klingt mehr nach Normalität, als nach Ausnahme.
Dabei ist hier immer noch nichts normal. Du hast noch keinen Platz in mir gefunden, an dem Du jetzt ruhen kannst.
So oft kommt es mir vor, als sei es gestern gewesen. Dass der wichtigste Mensch in meinem Privatleben still und heimlich verschwunden ist. Und diese Abwesenheit wie ein Meteorit in meiner Welt eingeschlagen ist. Der bis heute jeglichen Kompass erschüttert.

***

Hey,

na, wie geht es Dir?
Vier Monate. Vier verdammte Monate. Aus dem Sommer ist ein Herbst geworden.
Die Blätter segeln von den Bäumen; fast ist die Zeit der Herbstspaziergänge, die ich so sehr liebe und dieses Jahr mit Dir teilen wollte, vorbei.
Wo bist Du jetzt? Was siehst Du jetzt?Was spürst Du?

Wir sind mittlerweile bei Lockdown 2.0.
Weißt Du… - ich kann mich noch erinnern, als sei es gestern, als ich neben [dem Bach] vor dem Haus entlang gelaufen bin, unter der Brücke hindurch, auf der die Hauptstraße des Dorfes verläuft. Die Bäume gerade grün geworden sind, wir beide wussten, dass wir uns monatelang nicht sehen werden und Du zu mir gesagt hast: „Ich habe Angst, dass die Welt nie wieder so wird, wie sie mal war.“

Ich glaube, wir hatten alle etwas Angst. Und haben immer noch ein beklemmendes Gefühl mit der Situation, auch wenn wir mittlerweile einige Monate mehr üben konnten. Ich weiß nicht mehr, was ich Dir damals geantwortet habe, ehrlich gesagt. Die Welt wird jedenfalls nie wieder so, wie sie mal war. Jetzt nicht mehr.
Ich glaube übrigens – und ich weiß nicht, ob ich mir ein unqualifiziertes Urteil mal erlauben darf – Corona fordert nicht nur Opfer in Form von Menschen, die mit Corona sterben oder deren Angehörigen – es gibt auch Menschen wie Dich. Die sicher auch nicht wegen Corona gestorben sind, aber die an der Einsamkeit verzweifelt sind; an der Angst. Denn plötzlich… - war die Distanz doch ein Problem zwischen uns. Wir konnten uns nicht mehr sehen. Es war verboten. All die Kilometer zwischen uns und die Grenzen der Bundeländer schienen immer überwindbar. Wenn es sein musste, sofort. Aber damals… - da nicht mehr.

Ich glaube, mittlerweile kann ich etwas mehr auf unsere Erinnerungen zugreifen. Der Schrecken wird nicht weniger, eher wird die Schwere jeden Tag ein bisschen mehr wenn ich daran denke, wie wertvoll und einzigartig dieses Band zwischen uns war.
Ich werde nie – das war noch ganz am Anfang – diesen Moment in der Bahn vergessen, in der wir uns getroffen hatten, nachdem wir einen Monat nicht mehr geschrieben hatte, sich jeder von uns still gefragt hat, was jetzt aus dieser kurzen Episode geworden ist, die mich gelehrt hat, wie schnell Menschen ein Herz innerhalb von Tagen vereinnahmen können. Und sich dennoch keiner getraut hat einen Pieps zu sagen aus Angst, den anderen zu nerven. Hach ja, zwei Hasenfüße auf einen Haufen, das wäre ja beinahe schief gegangen. Ich weiß noch, wie wir aufeinander zugegangen sind; Du hattest den Rucksack lässig über der Schulter. Wie mir fast die Tränen in den Augen standen, weil ich so glücklich war. Und seitdem haben wir uns nie wieder los gelassen.

Ich kann mich noch an das Erste unserer vielen Cafè – Dates erinnern. Wie crazy das war, dass Du mich am Bahnhof abgeholt hast und wir dann gegenüber des Bahnhofes in einem kleinen Café saßen und stundenlang geredet haben. Wie ich immer mal einen Blick auf die Züge geworfen habe, mich gefragt habe, was ich mir denken würde, wenn ich aus den Fenstern der Bahn mich selbst sehen würde. Vor ein paar Wochen oder Monaten noch. Hatte ich doch nie geglaubt, dass es so etwas für mich geben könnte. Mit Jemandem wir Dir in einem Café zu sitzen. Damals war das noch neu für mich. Nicht 24/7 etwas für die Uni zu machen. Ich hatte das gerade erst gelernt, dass man das machen darf. Und Du hast diese Unruhe in mir akzeptiert, so wahnsinnig liebe Worte gefunden, die mich immer wieder beruhigt haben. Einen ganzen Sommer sind wir danach durch die Cafés der Stadt gezogen. Du hast mir die Studienstadt gezeigt, obwohl Du dort auch nicht groß geworden bist. Du hast aus diesen Straßen, die für mich bis dahin fremd waren, eine Art „Übergangsheimat“ gemacht. Dass ich heute immer noch irgendwie an dieser Stadt festhänge liegt daran, dass Du mir die schönsten Winkel gezeigt hast.
Ich werde es auch nie vergessen… - da habe ich schon zwischen den Welten gelebt – wie ich Dich immer abends in der nächsten Großstadt auf dem Bahnhof stundenlang am Telefon hatte, wenn ich nachts in die Studienstadt gefahren bin. Ja ich wusste, wir würden uns am nächsten Tag sehen, in wenigen Stunden schon, aber wir konnten nicht mehr warten. Und Du musstest wissen, dass ich auf dem Bahnhof nicht geklaut werde.
So oft hast Du mich an der Uni zu diesem roten Gebäude begleitet, zur Ambulanz, wenn ich dort einen Therapietermin hatte. Insbesondere vor den schweren Terminen. So oft hast Du mich danach abgeholt und wir haben uns danach in die Uni ins Café gesetzt oder unweit davon entfernt und darüber gesprochen, was in der Therapie gelaufen war. 
 
Kein schönes Fotos... Aber es muss die letzte Tour zwischen den Welten gewesen sein, auf der ich Dich auf dem Bahnhof der nächsten größeren Stadt in der Leitung hatte...


 

Ich habe in der letzten Zeit nochmal viel reflektiert, ob ich genug an Dich gedacht habe. Und… - ich weiß es nicht. Ich kann mich erinnern, dass ich – bevor die Entscheidung für [den Ort in der Ferne] endgültig fiel – oft und lange mit [einer Freundin] auf ihrem Küchenfußboden gesessen habe. Und darüber sinniert habe, was ich gewinnen und was ich verlieren werde, wenn ich in die Ferne gehe. Und, ob ich sie als Freundin behalten werde. Und manchmal… - wenn wir zu frustriert von den Überlegungen waren, haben wir unsere regelmäßigen 23 – Uhr – Kuchenbackaktionen gestartet.
Mit Dir habe ich nie auf dem Küchenfußboden gesessen und darüber geredet. Warum nicht…?

Ich habe nochmal nachgedacht über die regelmäßigen Gespräche mit Dir über horizontale und vertikale Beziehungen. Du warst der erste Mensch, der jeden zwischenmenschlichen Kontakt dahingehend auseinander genommen hat.  Und… - Du warst die horizontalste Beziehung, die ich hatte. Das Wertvollste daran ist wahrscheinlich, dass die Menschen einfach mitgehen. Dass sicher ist, dass das Band zwischen zwei Menschen so stark ist, dass ich unabhängige Entscheidungen treffen konnte. Kein anderer Mensch um mich herum hätte akzeptiert, dass ich in die Ferne gehe, weil ich glaubte, das tun zu müssen und wäre trotzdem bei mir geblieben. Wir konnten uns loslassen dadurch, dass wir wussten, dass wir emotional so sehr verbunden waren, dass uns das Leben darüber nicht trennen konnte.

Während ich in den letzten Tagen so in Dunkelheit, Regen und dazwischen vom Wind hin und her gewehten Blättern nach Hause gegangen bin ist mir aufgefallen, dass alle Beziehungen, die jetzt geblieben sind, so anders sind. Vertikal eben. Nichts was die Menschen sagen, kann ich ihnen bis morgen glauben. Da fehlt die tiefe emotionale Verbindung, die ich mit Dir hatte. Bei vertikalen Beziehungen – da muss ich ständig fragen. Ob Zeit da ist, ob ich vorbei schauen kann, ob die Kapazitäten reichen, um sich mit mir zu treffen. Und keiner von denen möchte mich vermutlich aktiv aus dem Leben schmeißen, aber wenn sich deren Leben ändert, dann geben sie mir in diesem anderen Leben keinen Platz mehr. Also drehe ich mich entweder mit und verliere mich selbst, oder ich riskiere permanent diese Menschen zu verlieren.
Das fängt bei Herrn Kliniktherapeuten an, der vor Kurzem noch gesagt hat, dass zwischen uns immer ein Band bleibt, an dem ich nur ziehen muss und jetzt sieht das anders aus, weil sein Leben eine berufliche Wende genommen hat. Das hört bei der potentiellen Bezugsperson auf. Dem wichtigsten Mensch, der jetzt noch bleibt, auf den ich mich jetzt stütze. Aber wenn er sein Leben irgendwann mal von mir weg dreht, dann muss ich das akzeptieren. Dann reißen die oberflächlichen Bänder.

Die jetzt die Einzigen sind, die halten. Vertikale Beziehungen programmieren Verluste vor. Hast Du immer gesagt. Und das macht Angst. Gewaltige Angst. Nimmt jeder vertikalen Beziehung das Grundvertrauen.

Heute glaube ich, dass wir deswegen nie diese Diskussionen geführt haben. Weil klar war, dass wir uns erhalten bleiben. Wo immer wir auch hingehen. Dass einer von uns beiden geht und da ein Kontaktabbruch zu Stande kommt – diese Version gab es nicht.
Stillschweigend haben wir das glaube ich beide als selbstverständlich hingenommen. Ich habe mich lange gefragt, ob diese fehlende Diskussion mit Dir darüber ein Zeichen war, dass Du mir nicht wichtig bist. Aber so hat es sich nie angefühlt. Ich glaube es ist eher dieses grundlegende tiefe Vertrauen in uns gewesen, das uns nie darüber hat sprechen lassen. Vielleicht hätten wir das tun sollen. Nur, um uns dessen bewusst zu werden. Denn ich weiß nicht, wie Du das auffasst… - aufgefasst hast.

Manchmal frage ich mich, wie das jetzt so wäre. Hätte ich Dich heute hier bei mir. In unserer Planung hättest Du längst hier sein sollen. Ich frage mich, wie die Wohnung mittlerweile aussehen würde. Ob wir endlich mal dieses hässliche Sofa raus geschmissen hätten. Ob wir den Plan mit dem grauen Stoffsofa, der Holzablage dahinter, den lila Sofakissen realisiert hätten. Ob die Wände ihre Bilder bekommen hätten. Ob Du einen neuen Job hier gefunden hättest. Vielleicht im gleichen Konzern wie ich. Ob Du mich auch abends anrufen würdest und mich fragen würdest, wann ich denn gedenke fertig zu sein, wie das einigen Kollegen passiert.
Ich frage mich, ob das überhaupt gut funktioniert hätte – Du und ich in einer Wohnung. Und was am meisten schmerzt ist, dass wir die Chance das auszuprobieren nicht mehr nutzen konnten. Und, dass ich es nie wissen werde, ob ein Ende der Einsamkeit in dieser Wohnung nicht die beste Idee gewesen war, die ich hätte haben können.

Ich weiß, Du hättest nicht gewollt dass das was passiert ist, mein Leben so sehr ändert. Das ist auch der Satz, den die Menschen ständig sagen. Als könnte das irgendwie trösten. Es spricht mir allerhöchstens das Recht auf mein Erleben ab.
Ich frage mich nur manchmal was passiert wäre, wenn ich von Anfang an hätte klar stellen können, was das für eine Beziehung war, die wir da miteinander hatten und, dass es für mich die im privaten Rahmen gesehen Stabilste war, die ich hatte.

Die potentielle Bezugsperson hat da glaube ich letztens für sehr viele Menschen um mich herum gesprochen, als sie sagte: „Ich glaube, das konnte man damals einfach nicht sehen. Ich habe es ja auch nicht gesehen in den Mails, die ich geschrieben habe…“ Und danach kam erst vor wenigen Tagen: „fühl Dich einfach ganz fest gedrückt und gehalten. Ich glaube das bräuchtest Du jetzt am allermeisten.“
Ja das bräuchte ich. Keine großen therapeutischen Höchstleistungen. Einfach nur gehalten werden, durch diese Zeit geführt werden. Im geschützten Rahmen fallen dürfen. Nicht mehr kämpfen, nicht mehr rechtfertigen. Nicht mehr Angst haben, den geschützten Rahmen auch noch zu verlieren oder aktuell – ihn gar nicht so erst so richtig zu bekommen.
Das wäre auch das, was ich im Sommer gebraucht hätte. Einfach über Dich reden dürfen, um Dich weinen dürfen, einfach nur die Anwesenheit von Personen spüren, von einem Umfeld, das die Verzweiflung temporär mittragen kann, das immer wieder versichern kann, dass ich daran nicht zerbrechen werde, dass bessere Zeiten kommen. Menschen, die mir helfen, die Zeit nicht nur als Gegner zu interpretieren, die mich immer weiter von uns beiden entfernt. Sondern die mir helfen einen Ort zu suchen, an dem die Situation ruhen und ausruhen kann, einen Ort, an dem Zeit irgendwann keine Rolle mehr spielt.
Menschen, die dadurch helfen können, dass sie nicht 24 / 7 in diesem Mist stecken. Die abends nach Hause gehen können, sich mit anderen Dingen beschäftigen können, das Leben spüren und an mich heran tragen können, bis ich es selbst wieder fühle.

Und… - um den Bogen mal zurück zu schlagen und um den Text mal zusammen zu fassen: Im ersten Lockdown war ich froh nicht auf der peripheren Station, sondern in der Notaufnahme zu arbeiten. Und jetzt hoffe ich, dass die unsere Station nicht dicht machen. Oder wenn, dass sie uns umverteilen. Ich hoffe, ich werde nicht gezwungen zu Hause zu sitzen in einem Umfeld voller Unverbindlichkeiten, die ich im letzten Jahr immer vermieden habe, weil das Hirn dann zu gern auf blöde Gedanken kommt. Und, weil alle Menschen, die ein bisschen mittragen können und deren Wärme und zwischenmenschlichen Halt  ich ein bisschen aufsaugen kann, auf der Arbeit zu finden sind. Nur auf der Arbeit. Vertikale Beziehungen halt.

Ich hoffe, Du fühlst Dich sicher, wo auch immer Du gerade bist.

Ganz viel Liebe

Mondkind


Ich wünschte heute wäre irgendwer zu Festhalten da. Aber ich befürchte... - das wird nicht so sein.

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