Stationsarbeit und erster, vorsichtiger Rückblick

Stationsarbeit.

Nicht besonders erquicklich in der letzten Woche.
Zuerst mal viel Streit darum, mit viel Auslastung die Station aktuell gefahren werden darf. „Keine Neuaufnahmen“, war zu Anfang der Woche der Tenor, der nicht haltbar war. Die Menschen werden einfach krank – ob nun mit oder ohne Corona.
Aber deshalb hatten wir kaum Personal. Weil krank, im Mutterschutz, gekündigt oder abgezogen. Am Ende haben ein Kollege und ich die Station zu zwei gemacht. Mit… - 80 % Auslastung.Wenn alle Kollegen da wären, wären wir zu sechst.

Schwierige Fälle. Die bewegen. Mehr als früher. Irgendwie.

Da wäre der ältere Herr, der wegen Schmerzen in der Schulter und im Arm zu mir kam. Er hatte einen Zettel vom Orthopäden dabei, auf dem aufgelistet war, wie oft er seit Jahresbeginn dort war und was alles gemacht wurde. Ein MRT der Schulter hatte eine Rotatorenmanschettenruptur gezeigt, die für das Übel verantwortlich gemacht wurde. Von einer OP hatte man abgeraten, aber Krankengymnastik und Schmerztabletten, selbst Infiltrationen des Schultergelenks, verbesserten die Beschwerden nicht. Zur Sicherheit hatte man mal noch ein Röntgen der Halswirbelsäule gemacht – das war im Sommer – auf dem man auch keine Ursache der Beschwerden erkennen konnte.
Und jetzt kam er zu uns. Zur weiteren Abklärung. Weil die Möglichkeiten des ambulanten Settings am Ende waren. Die Sprache sei seit einem halben Jahr ganz leicht verwaschen, erzählte der Patient, was ich nur diskret heraus hören konnte. Was ich aber wahrnahm, waren leichte Wortfindungsstörungen. Auch der Gang sei etwas wackeliger geworden, er brauche nun einen Rollator. Aber naja… - man werde ja nicht jünger, erklärte er und immerhin habe er ja schon eine Hüft – TEP und das Knie mache auch nicht mehr wirklich mit.
Nachdem der Patient mir erzählt hatte, dass die Schmerzen zunehmend beide Arme betreffen, habe ich die Ursache doch eher in der Halswirbelsäule vermutet und daher ein MRT der Halswirbelsäule angemeldet. Und nur zur Sicherheit, wegen der etwas verwaschenen Sprache – ein CT des Kopfes. Nur, damit es nicht peinlich für die Neurologie wird.
Irgendwann riefen mich die Radiologen hat. Wegen dieses Patienten. Da sei eine riesen große Raumforderung im Gehirn zu sehen mit beginnender, oberer Einklemmung. Bitte was… ? Ich laufe schnell zum PC und öffne das Programm mit den CT – Bildern. Wahnsinn… - dass er davon so wenig Symptomatik hat. Mein erstes Telefonat galt dann wiederrum den Neurochirurgen. Chillen, haben sie gesagt. Keine akute Gefahr der Einklemmung, weil chronischer Prozess. Aber weitere Diagnostik.
Also habe ich ein CT des Halses, der Brust und des Bauches angemeldet. Der Radiologe kam im Anschluss extra rüber, sodass ich quasi eine private Röntgenbesprechung hatte. Multiple Raumforderungen. In allen möglichen Organen. Metastasiertes Tumorleiden. Palliative Situation. Und… - eine Fraktur der Halswirbelsäule. Mit Hinterkantenbeteiligung. Deshalb die Schmerzen in beiden Armen.

Der Oberarzt und ich gehen gemeinsam zum Patienten. Vermitteln die Befunde in Häppchen. Er kommt nicht mit so schnell. Immer wieder gehe ich im Verlauf der Woche in dieses Zimmer, in dem der Patient mir mittlerweile mit Halskrause gegenüber sitzt, um die Halswirbelsäule zu stabilisieren. Ziehe mir einen Stuhl ans Bett. Beantworte Fragen. Teilweise nicht nur Medizinische. Sondern sinniere mit ihm über die großen Fragen des Lebens. Habe seine Hand in meiner liegen. Von diesem Menschen, der so verunsichert ist, was er jetzt machen soll. Der so viel Angst hat.

Die Neurochirurgen haben angeboten – unabhängig vom weiteren Procedere – erstmal die Halswirbelsäule zu stabilisieren und vielleicht die Metastase aus dem Gehirn zu holen. „Meinen Sie, dass das sinnvoll ist?“, frage ich den Neurochirurgen. „Also… - was ist ethisch richtig…? So eine OP ist eine riesen Belastung…?“ „Mondkind, wir werden den nicht mehr heilen. Und wir können nur versuchen, dass was jetzt gerade die größten Probleme macht und am lebensbedrohlichsten ist zu behandeln, um ihm noch ein bisschen mehr Zeit auf diesem Planeten zu geben. Das ist unser Angebot von der medizinischen Seite her an ihn. Ob er das macht, ist seine Entscheidung…“

Er hadert. Und ich hadere auch. Bin froh, dass ich das nicht entscheiden muss.
Aber ich spüre das Leid so viel deutlicher als vorher. Das des kranken Menschen, aber auch das der Familie, mit der ich auch mehrmals telefoniere. Diese Gewissheit, dass da nicht mehr viel Zeit ist. Dass eigentlich jetzt schon die Trauer anfängt um diesen Menschen, der gerade noch da ist, aber dessen Zeit hier jetzt so endlich ist.
Das hat mich sehr beschäftigt diese Woche.

Mein zweiter Fall, der mich täglich stundenlang beschäftigt hat, war ein älterer Herr nach einer Bypass – OP. Einen Parkinson hatte er auch, deshalb kam er kurz nach der OP zur Neueinstellung des Parkinsons nach OP zu uns. Sein größeres Problem war allerdings das immer noch recht schwache Herz und die Niere, die seitdem auch nicht mehr wirklich auf Touren kam. Internistische Großbaustelle, durch den Parkinson kaum in der Lage sich selbst zu bewegen.
Ich habe mich bemüht und bemüht, aber wirklich besser wurde er nicht. Am Ende habe ich für ihn einen Platz in der Akutgeriatrie organisiert. Ihm versprochen, dass er gern wieder kommen darf, wenn es ihm besser geht. Aber so hatte das einfach keinen Sinn.
„Ich danke Ihnen mehr, als Worte es ausdrücken können“, sagte er zu mir am letzten Abend, als ich ihm versprechen musste, am Morgen vor der Verlegung nochmal nach ihm zu schauen.

Und als letztes wäre da noch die stockdemente ältere Dame, die ich gerade noch auf der Station habe. Sie trägt noch die „alten Zeiten“ in sich, wenn sie jeden Morgen mit Hilfe des Pflegepersonals in eine hübsche Bluse gekleidet, frisiert und mit Hut auf dem Kopf orientierungslos auf der Station steht.
Sie packt ihre Koffer und packt sie wieder aus. Erscheint damit an der Rezeption, möchte nach Hause und muss wieder eingesammelt werden. Das Pflegepersonal ist non-stop mit ihr beschäftigt, während ich mit dem Sozialdienst mit Hochdruck auf der Suche nach einem geschlossenen Heimplatz bin.
Eine Schwester von ihr ruft mich überbesorgt fast täglich an. Sie lebt unweit meiner alten Studienstadt entfernt. Komisches Gefühl.

Ein ganzes Potpourri so vieler verschiedener Menschen. Die alle ihre Geschichten in sich tragen. In die ich gerade involviert bin. In die ich einen Blick werfen darf. Die ich – soweit es möglich ist – wieder in die Spur bringen soll. Es sind so viele Anforderungen. Ich versuche menschlich zu sein. Eine gute Ärztin zu sein, trotz all des Stresses, aufgrund dessen ich täglich den Ein oder Anderen an die Wand klatschen könnte. Aber Wunder kann ich auch nicht vollbringen. Die ältere Frau mit der Demenz wird nicht mehr als ihre alten Erinnerungen im Kopf tragen, mit denen sie im Jetzt beinahe deplatziert wirkt. Der Tumorpatient wird nicht mehr gesund; wir können nur das Leid lindern und – wenn gewünscht – die Lebenszeit verlängern. Und wie es dem Herrn in seiner geriatrischen Reha geht… ? Ich hoffe, er kommt auf die Füße. Im wahrsten Sinn des Wortes.
12 Stunden täglich waren auf dieser Station letzte Woche kaum ausreichend. Um für jeden wenigstens ein bisschen da zu sein.

 


***

Ansonsten hat mich der Blick auf das Ende des Jahres glaube ich ordentlich bewegt.
Noch ist es ein bisschen früh, die ersten Zeilen des Jahresrückblickes zu verfassen, aber wenn ich mir überlege, wie mein Leben zu Beginn des Jahres aussah…. - und dass ich seitdem eigentlich nur verloren habe...
Wenn es die berühmten Glaskugeln gäbe, ich mich Ende des letzten Jahres davor gesetzt hätte und sehen würde, dass ich jeden Morgen und jeden Abend die Kerze auf dem Tisch neben dem Bild des Freundes brennen lasse, mit dem ich damals noch jeden Tag Kontakt hatte – ich weiß nicht, ob ich das für Realität hätte halten können. Wenn ich gesehen hätte, dass eine recht kurze und intensive Freundschaft – sie hat nur acht Monate gehalten, aber was wir in der Zeit gemeinsam erlebt haben war erstaunlich – mit dem größten Vertrauensbruch endet, den es geben kann... (und ich daraus definitiv gelernt habe, Dinge langsam anzugehen…) Wenn ich gesehen hätte, dass der nächste Klinikaufenthalt hinter mir liegt und es mir seitdem eigentlich noch schlechter geht…

Ich gehe so manches Mal schon die Tagebucheinträge durch. Sehe, dass da kaum – eigentlich keine – Menschen sind, auf die ich mich hätte verlassen können.
„Mondkind, was hast Du eigentlich am Wochenende so vor?“ War mal ein Satz der potentiellen Bezugsperson, kurz bevor die Freundin sich eingemischt hat und man heute von Glück reden kann, dass die potentielle Bezugsperson und ich überhaupt noch Kontakt haben.
„Versprichst Du mir, dass Du Dich morgen meldest?“, muss einer der letzten Sätze an den Freund gewesen sein. Hat er versprochen. Während ich am nächsten Tag durch die Notaufnahme gehüpft bin, er sich nicht gemeldet hat und die Katastrophe passiert ist.
„Gibt es irgendein Thema, über das ich nicht informiert bin?“, hat der Herr Kliniktherapeut in der ersten Stunde, die wir in der Klinik gemeinsam hatten, gefragt. Dieser Satz war wie eine verbale Umarmung. Dass Jemand über das Leben einer Mondkind aus ehrlichem und aufrichtigem Interesse so sehr Bescheid wusste, hat ein Strom der Wärme von den Haarspitzen bis zu den Zehenspitzen durch mich hindurch ziehen lassen. Nach acht Wochen, in denen die räumliche Nähe dennoch nur Distanz zwischen uns gebracht hat, hat er der „kleinen Mondkind“ erklärt, dass seine Hand immer noch ausgestreckt sei und die „kleine Mondkind“ nur danach greifen müsse. Nur um ein paar Wochen später am Telefon verlauten zu lassen, dass das alles nicht mehr machbar ist. Eine letzte Mail bis heute unbeantwortet geblieben ist.
„Ich glaube, ich bin die stabilste therapeutische Beziehung, die Frau Mondkind je hatte“, erklärte Herr Kliniktherapeut damals im Sommer dem aufnehmenden Arzt in der Notaufnahme. Krass, wie so etwas dennoch so schnell vor die Wand fahren kann. Und genau das ist dieser Punkt, vor dem ich immer Angst habe. Und was jeden noch so großen Vertrauensbeweis immer mit einer kleinen Unsicherheit zurück lässt. Er wollte die Last durch diese Unsicherheiten über die therapeutischen Beziehungen, die glaube ich immer dazu geführt hat, dass ich mich nie ganz fallen lassen konnte in diesen Menschen, zwischendurch so gern von mir weg nehmen. Und hat am Ende nur bewiesen, dass es so gut ist, dass sie geblieben ist.

Die Ziele sind heute andere, als im Frühling.
Im Frühling noch war das Ziel in jedem Urlaub zurück in die Studienstadt zu fahren. Den Freund zu besuchen, bei der Freundin vorbei zu schauen, alte Kommilitonen zu besuchen. Ein bisschen therapeutischen Rückhalt zu spüren, war ich doch jedes Mal bei Frau Therapeutin und – seitdem ich ihn kannte – auch bei Herrn Therapeuten. Er konnte das so wunderbar gut, allein mit Worten zu tragen.
Heute zieht mich nichts mehr zurück dorthin. Wann man genau Urlaub hat, ist ehrlichweise relativ egal. All die Energie, die damals noch in den sozialen Bereich investiert werden konnte, brauche ich heute auch zum Überleben. Ich war noch nie über Monate hinweg so erschöpft. Und habe es trotzdem irgendwie versucht, obwohl gefühlt nichts Fachliches mehr in meinem Kopf ist. „Du musst Dich auch immer selbst ein bisschen fortbilden“, sagte eine Kollegin letztens vorwurfsvoll. Ich bin froh, wenn ich jeden Morgen auf der Arbeit erscheine. Dafür ist die Station, bei der beinahe jeder Patient ein zu lösendes diagnostisches und therapeutisches Rätsel ist, natürlich eigentlich völlig ungeeignet.

Zukunftsperspektiven gibt es nicht mehr. Den Status so lange wie möglich aufrecht zu erhalten. Denn wie sagte es der Seelsorger irgendwann mal so schön: „Sie haben kein Sicherungsnetz mehr unter sich. Wenn Sie fallen, fallen Sie. Und wo Sie aufschlagen und ob Sie dann noch leben, weiß keiner.“
Das mit dem Sterben ist nicht mehr so einfach wie früher. „Ich wäre sehr betroffen“, sagte die potentielle Bezugsperson mal. Die zu wenig ist, um wirklich Rückhalt zu sein, aber zu viel, um einfach loszulassen.

Dieses Jahr hat eigentlich alle Ängste, alle Sorgen nur bestätigt. „Wer nichts hat, kann nichts verlieren.“ War sehr lange mein Lebensmotto. Bis ich mich endlich mal ein bisschen getraut habe, wieder Menschen in meinem Leben zu haben, mich auf zwischenmenschliche Verbindungen zu stützen, von denen ich gehofft habe, dass beide Seiten an dieser Verbindung festhalten.
Ich konnte viel verlieren. Und ich habe fast alles verloren, was mir zu Anfang des Jahres als so wichtig erschien.

Es wird nicht mehr das, was es mal war. Die Stadt kann die alten Sicherheiten nicht mehr halten.


 

 

Mondkind

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