Über Bonustag, Dienstplanung und ganz viel Mut
Heute ist ein „geschenkter Tag“. Ein geschenkter Tag in einer geschenkten Zeit.
Ich freue mich heute wie ein Schneekönig, die Sonne genießen zu dürfen, mal wieder Zeit zum Lesen meines Buches bei einem Kaffee zu finden, ein bisschen die letzten Wochen und Monate reflektieren zu können.
Ein bisschen was muss ich auch für die Arbeit machen – heute Morgen bin ich nochmal die Richtlinien der Transfusion durchgegangen und die wichtigsten Transfusionsreaktionen, ein paar Artikel zum Thema Epilepsie wollen gelesen werden und die neue Leitlinie zum Thema Schlaganfall, die 125 Seiten lang ist und hier ausgedruckt liegt – die schaut mich auch mit vorwurfsvollen Augen an. Nur, wenn ich nachher noch Zeit und Lust habe. Der Kollege hat mir den Tag ja nicht frei gegeben, damit ich am Ende doch arbeite…
Ich habe gestern Nachmittag eine sehr, sehr lange Mail geschrieben – indirekt zum Thema Dienste. Mich lange gefragt, ob man das so schreiben und schicken kann. Und während ich geschrieben habe, habe ich selbst so sehr geweint. Ich kann wenig für die Ereignisse der letzten Monate und kann nur das Beste draus machen, aber irgendwie berühren mich meine eigenen Worte so sehr. Ich wollte Euch das mal nicht vorenthalten… - aber „nur“ Ausschnitte.
"[…]
Und dann kam jener Tag Anfang Juli. Als ich wusste, dass der Freund
gestorben ist. Und wie er gestorben ist.
Am Anfang dachte ich, das sei irgendein schlechter Scherz. Dass irgendwer doch
heraus bekommen hatte, wie es mir in der Zeit ging. Wie konnte das bitte
passieren, dass sich weniger als 30 Tage vor dem Ende die Welten verdrehen? Was
bezogen auf all die Zeit, die wir gemeinsam hatten, ein Wimpernschlag ist. Wie
konnte das sein, dass er weniger als einen Monat vor mir diesen unumkehrbaren
Schritt gegangen ist und mir damit wenige Tage zuvor gekommen ist? Warum musste
ich so kurz vorher noch begreifen wie das ist, so etwas aus der „falschen
Perspektive“ zu erleben?
Der Tod des Freundes hat die Mauern gesprengt, denen ich nicht mehr geglaubt
habe entfliehen zu können. Von daher war dieser Vorwurf des Umfeldes, dass ich
den Tod des Freundes gnadenlos ausnutze, besonders schwer zu ertragen. Dass ich
heute lebe, weil er gestorben ist, ist mit großer Sicherheit eine Tatsache.
Aber es wäre das Allerletzte gewesen, das ich gewollt hätte.
Ich war nicht nur aufgrund des Schocks und der Trauer so unfähig, einfach
weiter zu machen. Sondern genau deswegen. Weil sich innerhalb von Sekunden die
Prioritäten verschoben haben. Weil ich wusste, dass ich da fortan eine Last mit
mir herum trage, die kaum tragbar ist. Weil die Nummer mit der Suizidalität
nicht nur sorglos kommuniziertes, sondern tatsächlich erlebtes und gelebtes
Leid ist.
Wie oft habe ich in der Psychiatrie gesessen und gehofft, dass ich morgens
einfach nicht mehr aufwache, weil ich nicht damit leben kann, dass nur diese
dramatischen Umstände dazu geführt haben, dass heute jeder Tag den ich lebe, im
Prinzip „Bonus“ ist. Und dass ich diesen Bonus nicht auf dem Rücken eines
verstorbenen Menschen leben möchte.
Und wie oft habe ich mich schon gefragt, wie er damit umgegangen wäre, wenn es
wirklich andersherum passiert wäre…?
Gestern dann also Dienstplan. Und nachdem Sie ja letztens gesagt haben, dass
ich den ersten Dienst dieses Jahr nicht mehr zu fürchten brauche, war ich doch
erstmal ein bisschen geschockt. Habe wieder diese Ohnmacht von damals gefühlt.
Habe den Tag auf der Station echt wenig geschafft (was auch nicht so schlimm
war, weil wir aktuell ja nicht so viele Patienten haben), bis mir klar geworden
ist: Ich möchte auch nicht weiterhin wie eine Schlange sein, die sich ungesehen
durchs Dickicht schlängelt und hofft, dass keiner aktiv merkt, dass ich nicht
den Dienstplan ziere. Ich möchte mich nicht mehr fragen müssen, was die
Menschen wohl hinter meinem Rücken reden. Ich möchte nicht weiterhin Angst
haben, dass ich eine Ärztin bin, die es zwar an sich ganz gut macht
(vielleicht…), aber nie eine „richtige Ärztin“ werden kann, weil sie das mit
den Diensten nicht packt – von diesen Menschen gibt es gar nicht so wenige,
sagte mir mal ausgerechnet ein Neurologe in der Psychiatrie. Ich möchte mir
nicht weiterhin vorwerfen müssen, den Tod des Freundes auszunutzen. Ich möchte
mal wieder die „alte [Mondkind]“ sein, die wenigstens Einsatz zeigen konnte.
Und irgendwie sehne ich mich auch mal wieder nach einem Leben, das nicht
unbedingt mehr ein Limit von wenigen Monaten trägt. Ich hoffe, wenn ich alle
Hürden dann mal übersprungen habe, wird es ruhiger. Dann lebe ich halt so vor
mich hin, sehe ganz vielleicht auch mal wieder die guten Seiten, die Sonne, die
Farben. Aber das geht nur, wenn ich die Angst überwinde. Und das macht man nun
mal nicht, mit vor sich her schieben. Das macht es am Ende nur schlimmer.
Und irgendwie… - soll alles das, was in den letzten Monaten passiert ist,
irgendeinen Sinn gehabt haben. Zumindest einen Mini – Sinn. Und nicht nur den
Sinn, dass es für mich eben ein paar Monate mehr geworden sind.
Und irgendwann, am sechsten Dezember sehr spät abends, wenn ich noch kurz mit
einem Tee an meinem Tisch sitzen werde, es hoffentlich einigermaßen bewältigt
habe, bevor ich hoffentlich noch ein paar Stunden Schlaf vor dem üblichen
„magic Monday“ erhasche, werde ich die Kerze, die auf meinem Tisch neben seinem
Bild steht anzünden und ihm sagen, dass ich es endlich geschafft habe. Diese allergrößte, letzte Hürde. Dann können wir das zwar nicht mehr gemeinsam feiern,
aber ich hoffe, dass es trotzdem irgendwie beim ihm ankommt. Es war nicht alles
für umsonst. Vieles, aber nicht alles.
Und irgendwie… - sorry, dass es so lang geworden ist und ich hoffe, dass das
nicht zu unpassend ist, aber es musste jetzt einfach mal raus. Und man muss
sich jetzt keine Sorgen mehr machen. Der Sommer ist vorüber, seit jenem Tag im
Juli hat sich viel geändert. Viel zum Negativen. Die meisten Menschen, die
vorher in meinem Leben waren, sind es jetzt nicht mehr. Ich habe nicht nur den
Freund verloren, sondern sehr viel mehr gleich mit, vielleicht zum Teil auch
mich selbst. Aber manche Dinge sind heute halt auch positiv anders. Es kann
nicht mehr schlimmer werden, als es aktuell ist. Das relativiert Vieles.
Schafft neue Sichtweisen und Möglichkeiten. Und das eben Gesagte ist eine davon.“
Es kam übrigens eine sehr liebe Mail zurück von der potentiellen Bezugsperson. Dass man das mit dem Dienst schon noch ändern und irgendwie mit der Situation begründen könnte. Aber dass da zwischen all der Angst auch ganz viel Mut ist, dass wir das jetzt zusammen durchziehen – er als mein Hintergrund, den ich 700 Mal anrufen darf - und es dann hoffentlich leichter wird.
Herbst in meinem Lieblingspark... 🍁🍂 |
Es sind übrigens Worte wie diese, die ein bisschen diesen Sommer relativieren. Ein paar ehrliche Gespräche, die zwischen all den Mails, die so verletzend waren, stattgefunden haben. Ein bisschen stellvertretend auch für das Personal in der Klinik, mit dem ich die Missverständnisse nicht mehr so offen klären konnte. Die mir die Zeit und die Möglichkeiten und die therapeutische Begleitung, die ich so dringend gebraucht hätte – und nach wie vor eigentlich brauche – zwar auch nicht wieder geben, aber die zumindest ein bisschen Frieden schaffen.
Wir waren alle überfordert. Alle. Weil kaum Einem klar war, wie knapp
ich dem Tod von der Schippe gesprungen war. Weil ich nicht mal wusste, ob ich
das jetzt gut finden sollte. Weil ich darin keinen Bonus sehen konnte und
wollte, habe ich mich doch so schuldig gefühlt.
Weil mir diese Beziehung zum Freund genauso wenig klar war, wie allen
anderen. Wir haben viel über uns geredet. Aber meist nur darüber, wieso und
warum ich nie mit ihm intim geworden bin. Und was das jetzt über uns aussagt.
Aber nicht darüber, dass es so selbstverständlich war, dass wir uns hatten,
dass wir unser Leben gegenseitig mehr bereichert und getragen haben, als wir
das in Worte fassen konnten und dass es absolut unvorstellbar war, dass einer
irgendwann alleine weiter gehen würde.
Wie sollte ich den Menschen in der Klinik begreiflich machen, was wir
hatten, wenn ich es selbst nicht wusste? Wie sollte ich denen sagen, was ich in
der Situation brauche, wenn ich selbst so überfordert war, dass ich es nicht
benennen konnte? Wie sollte ich denen klar machen, dass wir hier und jetzt über
den Freund und nicht über den ganzen depressiven Kram reden müssen, wenn das
Helfersystem so früh beschlossen hatte, dass da kein Platz ist und ich glaubte,
mich dem fügen zu müssen, weil die wissen, was sie tun?
Heute kann ich ein bisschen für mich aufstehen. Kann sagen, dass mich
das für den Rest meines Lebens begleiten wird. Kann sagen, dass die Kerze neben
seinem Bild noch täglich lange brennen wird. Kann benennen, dass es meine
Aufgabe sein wird, einen Platz für ihn in mir zu finden, an dem er und die Situation
ruhen und ausruhen kann. Wo auch immer der sein wird. Er wird von seinem alten
Platz weichen müssen, aber ich werde ihn nicht im klassischen Sinn los lassen
oder vergessen, ich werde ihn nicht her geben. Er wird bei mir bleiben, nur
woanders.
Und jetzt… - weine ich schon wieder…
Mondkind
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