Sechs Monate und ein paar Neuigkeiten

Hey mein lieber Freund,
sechs Monate… - sechs Monate ist es her, dass mich die Nachricht erreichte, dass Du nicht mehr zurückkommst.
Sechs Monate, seitdem meine Welt sich aufgehört hat zu drehen. Wahnsinn, wie viel seitdem passiert ist. Was Du alles nicht mehr miterlebt hast. Was ich alles nicht mehr teilen konnte. Was Du nicht mal über drei Ecken mitbekommen hast.
Kreise schließen sich. Irgendwann. Immer. Vermutlich. Dazu gleich noch mehr.

Wie geht es Dir? Wie hast Du denn jetzt den Jahreswechsel erlebt? Hast Du das Leuchten am Himmel gesehen? Ausgerechnet dieses Jahr hätte ich so gern eine Rakete in den Himmel geschossen (ja ich weiß, Umwelt und Tiere und so…). Aber dieses eine Mal. Hätte ich Dir so gern etwas mitgegeben.
Über Europa war es aber wahrscheinlich ziemlich ruhig. COVID und so… - aber wir haben mittlerweile Impfungen. Ich weiß, wenn Du noch da wärst, Du hättest diese Impfungen mit mir zu Tode diskutiert. Ich kann es mir lebhaft vorstellen. (Und Deine Mum übrigens auch, da waren wir uns einig…)

Für mich war der Jahreswechsel irgendwie schwer. Lass mich mal zumindest einen Teil von dem Text zitieren, der kurz nach dem Jahreswechsel entstanden ist…

„In das neue Jahr zu gehen ist ein bisschen, als habe man vergessen sich den Mantel über das Kleid zu ziehen und würde nun barfuß nach draußen in den Schnee treten. Dort die ersten Pirouetten drehen, in der Ferne ein paar Raketen am Himmel sehen, die dieses Jahr nicht nur verboten sind, sondern sich auch seltsam deplatziert anfühlen. Als würde man hinter den hell erleuchteten Fensterscheiben ein Lachen hören, als würde man so viele Cartoons gesehen haben, in denen die Eins schadenfroh die Null von ihrem Platz kickt, was so viele Menschen jetzt gerade feiern, während man sich selbst so fühlt, als hätte irgendwer nochmal das eigene Herz auf den Boden geschlagen. Als würde diese Kerze, die man da gerade in der Hand trägt, irgendetwas retten. Als wäre das nicht nur eine Erinnerung, an eine Seele, die jetzt irgendwo zwischen Himmel und Erde schwebt.

[…] Er war der wichtigste Mensch in meinem Leben, das kann ich sagen. Es war ein Drehen umeinander, oft war er zu fern, aber dann war da auch die Angst vor zu viel Nähe, vor einer Wiederholung dessen, was man kennt. Ein bisschen von diesem Urmisstrauen ist vielleicht geblieben, ein bisschen von diesem: Er muss doch irgendetwas wollen; das kann ja nicht sein, dass mich jemand wegen mir in seinem Leben haben möchte.
Er war der Pirouetten – Partner im Schnee.

[…]Und während ich im Schnee einsam meine Pirouetten vor mich hin tanze und im Kopf die Raketen explodieren frage ich mich, ob das jetzige Wissen etwas geändert hätte? Was hätte ich tun können, damit wir noch zu zweit tanzen? Wie kann ich diese neue Zahl sehen, die sich frech dahin gesetzt hat, wo vorher die Null war, wo es noch ein Rest – Wir gegeben hat ohne, dass es weh tut?"


Deine Mum hat mir kürzlich nochmal geschrieben. Das macht sie irgendwie öfter. Und je nachdem was sie schreibt, werden die Löcher, die Fragezeichen größer oder kleiner.
Es gibt ein offizielles Sterbedatum. Knapp ein halbes Jahr danach weiß ich, wann es wirklich passiert sein soll. Laut Obduktionsbericht. Genau einen Monat nach Deinem Geburtstag. Soll uns das etwas sagen? Und stimmt dieses gerichtsmedizinisch bestimmte Sterbedatum überhaupt? Und was hast Du in der Zwischenzeit getrieben, nach unserem letzten Kontakt? Das hat mich wahnsinnig gemacht die letzten Tage. Die Antwort darauf hast nur Du und Du hast sie mitgenommen.

Zu mir: Es gibt News. Die sich schließenden Kreise. Die Bezugsperson. Hat mal meinen Urlaub ausgenutzt. Dass ich mich nicht wehren und nichts sagen konnte. Ich habe es noch genau im Ohr. In den ersten Tagen, als ich wieder zurück im Job war nach der Klinik. Dieses vorwurfsvolle: „Du hast Dich kürzlich aktiv für die periphere Station entschieden, aber wäre es okay, wenn ich Dich zurück auf die Stroke hole?“ Darauf habe ich ihm nie eine definitive Antwort gegeben. Damit ist es jetzt vorbei. Ein Blick in die Mails gestern hat die Ärzteliste für Januar zu Tage befördert. Und da stehe ich wieder auf der Stroke.
Ob ich das jetzt gut finden soll? Objektiv weniger Arbeit, aber wieder mehr Perfektionsdruck, weil im Bereich der Bezugsperson. Vermutlich raus aus dem Epilepsieprojekt. Und der Weg in die Notaufnahme ist auch nicht mehr weit. Aber ich glaube ihm ja, dass er mir helfen will. Und wenn er es für gut befindet – vielleicht ist es gut. (Ich kann fast sehen, wie Du die Augenbraue kritisch hochziehst…). Er kümmert sich wirklich gut. Ehrenwort. Ich bin gerade sehr froh, ihn zu haben. Und sehr dankbar, dass er einer der Einzigen ist, der am Ende doch geblieben ist. Er meinte, wir schauen nochmal, dass wir therapeutisch irgendetwas auf die Beine stellen können im neuen Jahr.

Und dann gibt es mal wieder Familienstreitigkeiten. Die mich an den Rand meiner nervlichen Kapazitäten bringen. Wenn Du noch da wärst – vermutlich hätten wir seit einer knappen Woche non – stop ausdiskutiert was zu tun ist. Ich erzähle Dir das mal in Ruhe. Abseits der Zuschauer der Wort – Pirouetten.

Oh – und noch was. Am 06.01. hab ich den nächsten – also zweiten – ersten Dienst. Geht da was? Kannst Du ein Auge drauf haben? Denn natürlich hat Hasenfuß – Mondkind Angst. Ein zweiter Dienst ohne einen Stroke Angel ist ja… - nicht so richtig denkbar, ehrlich gesagt. Ich hoffe, die Bezugsperson hat nicht viel vor und bleibt bis zum Nachmittag im Hintergrund vor Ort.

Dein Kerzchen brennt hier vor sich hin und ich denke heute ganz viel an Dich.
Ich hoffe, ich schaffe das bald mal, bei Dir vorbei zu schauen. Nach dem Lockdown brauche ich endlich mal ein Auto. Oder ich muss übernachten in dem Ort, an dem Du begraben liegst. Aber das geht auch erst nach dem Lockdown. Aber ich komme vorbei. Ganz, ganz fest versprochen.

Ganz viel Liebe
Mondkind

 

Bildquelle: Pixabay

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