Vom zweiten "ersten Dienst" und emotionalen Fragezeichen

Zweiter „Erster Dienst“. Noch einmal mit der Bezugsperson. Noch einmal Schonfrist.
Um 10 Uhr nehme ich das gefürchtete Diensttelefon an mich und lasse es in der Kitteltasche versinken.
Der erste Anruf lässt schon mal nicht viel Gutes für die Station verlauten. Ein ZVK, der aus Versehen in der Arterie, statt in der Vene gelandet ist. Das könnte auch der Grund dafür sein, dass die Gerinnungswerte der Patientin, die am Heparinperfusor hängt, irgendwie so gar nicht gut zu händeln sind.

Der Oberarzt verschwindet mit dem Visitendienst in Richtung Stroke Unit, ich habe sofort mein erstes Konsil bei den Kardiologen. Ein multimorbider Patient, der jetzt eine Hemiparese haben soll. Es stellt sich heraus: Der Patient ist schwerhörig, reagiert auf alles etwas verzögert; ich bin mir nicht mal sicher, ob er meine Aufforderungen versteht. Aber wenn ich seine Arme nach vorne halte und sie los lasse, sinkt ein Arm schnell ab, während er den anderen noch in der Luft hält. Man kann ihm auch eine Fazialisparese andichten. Und ich, als Neuro – Küken bin mindestens genauso aufgelöst, wie der Kardiologe. Also erstmal CT machen. Da gibt es schon mal nichts zu sehen. Lyse ist aus verschiedenen Gründen sowieso raus. Aber einen Gefäßultraschall brauchen wir noch. Als ich mit dem Patienten dort angekommen bin, kommt der Oberarzt schnell dazu. Und wie das immer so ist: Bis dahin hat sich die Symptomatik vollständig zurück gebildet. Also TIA. Oder einfach Exsikkose. Oder sein insgesamt sehr schwacher Zustand. Oder von allem ein bisschen.
Es wird aber auch noch ein bisschen neurologischer im Tagesverlauf. Zwei Patienten kommen mit dem Stroke Angel, allerdings ist zu dem Zeitpunkt schon klar, dass sie mit ihrer Symptomatik außerhalb von jeglichem Lysezeitfenster sind und darüber hinaus nicht schwer betroffen, sodass das Thema im Prinzip direkt vom Tisch ist. Und mit solchen Patienten kann ich in der Notaufnahme mittlerweile eigentlich recht entspannt umgehen. Eine Dame kommt mit einer diskreten armbetonten Halbseitenschwäche, sowie einer Dysarthrie seit dem Vorabend des Aufnahmetages. Ein anderer Patient kommt mit rezidivierenden Sensibilitätsstörungen und mehreren kurzzeitigen Wortfindungsstörungen. Bei beiden dasselbe Procedere: Klinische Untersuchung, Bildgebung, Labor, Ultraschall, noch ein paar fallspezifische Feinheiten und dann zur weiteren Abklärung ab auf die Station.
Der Schnee lockt die Menschen ins Freie und manche davon landen bei waghalsigen Manövern mit dem Kopf voran im Schnee: Schädel - Hirn – Traumata haben schon in den letzten Tagen Hochsaison, habe ich gehört.
Ach ja… - und mein persönliches Hass – Symptom in der Notaufnahme: Schwindel. Insbesondere dann, wenn es unspezifisch ist und die klinische und apparative Untersuchung absolut nichts liefert.
Dazwischen melden sich immer mal die neurologischen Stationen. Hier eine Nadel, da ein Bedarfsmedikament und manchmal wird es auch ein bisschen hektisch, wenn ein Patient Druck auf der Brust und ein Taubheitsgefühl des linken Arms angibt – schließlich kann man auch gerne mal Läuse und Flöhe haben.
Fast 14 Stunden rase ich hin und her. Zwischen Notfällen, Stationsvisite, Funktionsdiagnostik, anderen Fachabteilungen und der daneben anfallenden Stationsarbeit.
Mein Oberarzt ist sehr lange da geblieben, wofür ich ihm einfach unfassbar dankbar bin. Das ist schon viel Sicherheit, wenn man weiß, dass er im Notfall in einer Minute da ist. In meinem nächsten Dienst wird die Oberärztin allerspätestens Mittag zu Hause sein. Und da der Herr Oberarzt wohl wusste, dass ich nicht zum Essen komme, hat er irgendwann einfach etwas mit in die Notaufnahme gebracht. Das fand ich schon sehr lieb, muss ich sagen…

Kurz vor Mitternacht war ich raus. Habe weit jenseits der Ausgangssperre den Weg nach Hause genossen, bei dem die Flocken um mich herum tanzten. Und war einfach nur froh, es geschafft zu haben. Und vielleicht… - ein minibisschen stolz auf mich…
Obwohl mein Oberarzt befand, dass es ein sehr ruhiger Dienst war…Ein bisschen Recht hat er. Es gibt Dienste, mit doppelt so vielen Aufnahmen. Wie ich das schaffen sollte… - weiß ich nicht. Und die kurze Nacht, bis es in den ganz normalen Tagdienst geht, ist auch gewöhnungsbedürftig...


 


Stroke Unit.

Ich glaube, ich habe mich nicht getraut, die Zeit dort zu sehr zu vermissen. Aber ich habe sie vermisst. Sehr sogar. Und vielleicht kommt mit den „alten Zeiten“ auch ein bisschen „altes Leben“ zurück.“

Das Klima hat sich aber schon ein bisschen geändert dort. Dass man einfach – ohne, dass mal darüber gesprochen worden wäre – in Spätdienste eingetragen wird, und dann auch noch eine ganze Woche, finde ich nicht so fair. Und allgemein kann ich mich mit diesem ganzen Nörgeln auf der Station nur schwer anfreunden. Manchmal gehe ich schon los und mache für die Kollegin ihre Aufklärungen, damit sie mal eine Weile still ist.

Altes Leben. Das war weniger die Belastung durch die Masse an Arbeit, sondern mehr die emotionale Belastung. Das war ein Vermissen, obwohl die Person, die einem die Wertschätzung entgegen gebracht hat, die man normalerweise von den Eltern erwartet, direkt neben einem gestanden hat. Das war täglicher, sogar für eine Mondkind fast schon übertriebener Perfektionismus, um möglichst wenig falsch zu machen. Das war eine zwischenmenschliche Wärme, ein winziges Stück Unbeschwertheit, ein kleines Bisschen Sein in dem Moment, in dem man ist.
Und irgendwann die Erkenntnis, dass das alles ein riesengroßes Kartenhaus ist.

Die Zeiten haben sich geändert, auch wenn sie in gewissen Grenzen zurück sind. Die Pläne auch.
Der Freund war eine reale Option. Auf einer ganz anderen Ebene, als die Bezugsperson. Auf einer „Die – Mondkind – wird – erwachsen – und – braucht – einen – Freund – Ebene.“
Und die Bezugsperson als ein winziger Zipfel einer Familie, die ich mir immer so sehr gewünscht habe und nie gehabt habe.

Ob irgendetwas davon Realität werden kann… ?
Der Freund schon mal nicht. Manchmal gehe ich abends nach Hause und kann plötzlich kaum noch atmen. Jetzt hätten wir es doch geschafft. Ich bewältige irgendwie die lang gefürchteten – und immer noch gefürchteten – Dienste. Er hätte längst hier sein sollen. Die Wohnung hätte längst so aussehen sollen, wie wir sie uns vorgestellt haben. Wir hätten so „normal“ sein können. Das Leben hätte so viel mehr sein können, als die erdrückende Leere, wenn ich nach Hause komme.
Seine Mum und ich haben dieselben Fühler. Ich habe ihr letztens ein Bild geschickt, auf dem eine männliche hell leuchtende Gestalt aus Licht eine Frau in den Arm nimmt. (Ich weiß nicht, ob ich es hier Copyright – bedingt veröffentlichen darf). Das hat uns beide zutiefst berührt. Er ist noch da. Das Licht, der Wind, das Schicksal, was auch immer. Aber er ist noch da. Sein Platz hier ist besetzt, obwohl die Wohnung so unendlich leer ist.
Und ob ich diesen Verlust jemals therapeutisch aufarbeiten kann… - ich weiß es nicht; ich fürchte nicht. Die Bezugsperson wollte sich ja nochmal schlau machen, aber ich will da nicht immer nerven, zumal ich es zeitlich ohnehin nicht schaffe.

Und die Bezugsperson selbst… ? Er ist wirklich sehr, sehr lieb geworden. Kümmert sich manchmal ganz rührend. Nimmt mich manchmal auf den Arm, bringt mich zwischendurch mal zum Lachen und hat trotzdem noch sein offenes Ohr für mich. Wir stehen uns ja aktuell auch näher, als wir uns jemals waren. Und dennoch frage ich mich ganz still, wofür er das alles macht. Was sein Ziel ist. Wie lange ich bleiben darf? Wie nah ich sein darf? Und wie lange das Bestand haben kann, wenn das was uns verbindet die Arbeit ist und auch wieder Dinge schief laufen werden – auch wenn ich mir die allergrößte Mühe gebe, das zu vermeiden. Aber wir haben heute beim Mittagessen festgestellt: Ich bin immer noch die mit der wenigsten Berufserfahrung im Team und während einige Kollegen ihre Approbation gemacht haben, habe ich noch die Schulbank gedrückt und fleißig am Abitur gebastelt.
Vielleicht ist es auch nur all die emotionale Instabilität, die ich jahrelang in der eigenen Familie erlebt habe, die mich dieses tiefe Misstrauen in meine Mitmenschen nicht überwinden lässt. Vielleicht erwartet er gar nicht so viel. Ihn ein Stück weit bei mir zu haben, ist für mich aber wie ein Roulette – Spiel. Heute kann er da sein, morgen kann er weg sein. Und dann ist alles was bleibt, nur noch die Erinnerung. Damit leben zu müssen, ist auch eine Herausforderung.

Mondkind

 

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