Zwischen Flowcharts, Studien und Rezertifizierung

Ich glaube, am besten ist Du kommst vorbei…
Scheiß einfach mal drauf was die Leute denken!
Aber bitte bring mir eine Mango mit…

Okay, mache ich... (- ist das die neue Form von Beschäftigungstherapie... ? ;) )
Kann sein, dass es morgen später als heute wird, ich klingel durch, wenn ich da bin oder klopfe, je nachdem wo Sie herum turnen...


Dienstagabend.
Mails zwischen der Bezugsperson und mir. Ich kann echt nicht mehr. Ich weiß nicht, wie das gehen soll. Ich weine nur hier zu Hause, da sind nur Katastrophenszenarien in meinem Kopf; alle Angehörigen werden sterben und ich bin die schlechteste Tochter auf diesem Planeten. Keine Ahnung, was mich hier so umgehauen hat. Aber diese Situation ohne professionelles Helfersystem im Hintergrund hat es noch nie gegeben.

Mittwochmorgen.
Nachdem es mit dem Schlafen überhaupt nicht geklappt hat, wache ich ziemlich spät auf. Aber ich lasse mich auf die Bezugsperson ein – der  weiß schon, was er macht. Kaffee schlurfen, anziehen und erstmal zum Supermarkt. Und zwar nicht zu irgendeinem. Es gibt am Ende der Stadt einen Laden, der sich auf ziemlich exotisches Obst und Gemüse spezialisiert hat. Er möchte, dass ich dorthin fahre. Also schaue ich gleich noch in meinem neuen Kochbuch nach, was ich heute Abend essen kann und finde ein Rezept von Spinatrösti mit Gorgonzola – Dip. Das kommt auch noch auf den Einkaufszettel und dann düse ich los, während es draußen schon wieder schneit.

Wieder zu Hause stelle ich fest, dass die Post mir ein Paket vor die Tür gestellt hat. Darin ist mein EKG – Lineal, das ich bei einem der vielen Umzüge über die Stationen in den letzten Monaten verlegt habe, sowie ein neues Mandala – Buch und ein Roman. In dem geht es mal wieder ums Fehlen, Loslassen und Weiterleben. In diesen Themen finde ich mich im Moment am Ehesten, manchmal auf rein sachlicher Ebene, manchmal – so wie in diesem Buch – verpackt in die Kunst der Worte.

Der nächste Weg führt mich hoch zum Campus. Ich komme von hinten auf die Station, damit der Chef mich möglichst nicht sieht. Es muss keiner wissen, dass ich so wenig zurecht komme zu Hause, dass ich lieber arbeite. Die Stroke – Unit – Rezertifizierung steht an und dafür müssen bis nächste Woche noch eine ganze Menge Dokumente überarbeitet werden. Der Oberarzt sucht zwei Themen raus und schickt mich ins kleine Arztzimmer.
Es dauert eine Weile, bis ich ins Thema komme. Ich habe schon Sorge, dass ich den Kopf einfach nicht auf die Neurologie fokussieren kann, aber irgendwann geht es doch. Das alte Neuro – Fieber packt mich und dann arbeite ich mich durch Leitlinien, Studien und Empfehlungen, lege sie nebeneinander, arbeite ein Konzept aus und versuche das auf das schon vorhandene Flow – Chart anzupassen, was gar nicht so einfach ist.

Kurz vor Dienstschluss klopfe ich wieder beim Oberarzt, schlüpfe herein und ziehe mir einen Stuhl neben ihn.
„Mondkind – was soll dieser Punkt in den alten Flow – Charts? Verstehst Du das…?“ „Nein, das habe ich mich auch gefragt. Das hat doch gar nichts mit dem Thema zu tun. Ich dachte, vielleicht durchschaue ich es nicht und da wollte ich Sie fragen, was das soll.“ Er nimmt mir den Kuli aus der Hand und streicht es durch. „Mondkind, wir müssen das komplett neu machen…“, seufzt er.
„Mondkind, Du musst morgen zu Hause arbeiten. Also die erste Sache ist: Wir können da nicht mit den Empfehlungen der Kardiologen mitgehen und die LDL – Werte bei unseren Schlaganfallpatienten zu stark senken. Das erhöht nämlich das Blutungsrisiko…“, erklärt er. Das wusste ich gar nicht, aber ich tue mal so, als wäre ich nicht so dumm, wie ich mich fühle. „Mondkind, kannst Du bitte morgen nochmal nach Studien zu dem Thema schauen…?“ „Ich kann ja mal in PubMed nachschauen…“, schlage ich vor. Er schaut mich an, wie die Kuh wenn es donnert. Naja… - ich habe auch mal eine Doktorarbeit geschrieben… - vor langer Zeit. "Nicht älter als 2018 Mondkind", sagt er.

Zusammen kritzeln wir noch ein paar Skizzen auf, mit denen er mich dann nach Hause schickt. Bis Freitag ausarbeiten… Und Freitag unbedingt wieder auf der Matte stehen. Mit Ergebnissen. 


 

Es artet fast ein bisschen in Stress aus. Aber ich habe etwas Sinnvolles zu tun, kann nicht so viel über den Freund und die Familie nachdenken und habe einen Menschen, an den ich mich ein bisschen anlehnen kann. Manchmal glaube ich… - er ist ja kein Psychiater oder so… Aber er hat schon eine gute Intuition, was helfen kann. Und auch, wenn ich ihn gelegentlich dafür im ersten Moment an die Wand klatschen möchte, weil ich mir manchmal jemanden wünsche, der den Igel – Modus unterstützt, was er nie tun wird, geht sein Konzept – das muss man ihm lassen – oft irgendwie auf. Das erfordert nur eine Menge Vertrauen, mich ein bisschen von ihm aus dem Tal leiten zu lassen, wenn er den Fokus vom Thema, das mich beschäftigt weg nimmt, weil er glaubt, dass uns das nicht mehr weiter bringt. Da muss man mitgehen können und das fällt mir meist sehr schwer.

Und während ich am Abend meine Spinat – Rösti vorbereite, kommt mir in den Sinn: Das klingt doch ein bisschen nach einem Mondkind – Leben. Mandalas ausmalen, Bücher lesen und Neuro. Könnte fast ein bisschen „ich“ sein.

Hoffen wir, dass ich auf einem guten Weg bin…

 

Mondkind

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