Von Fragen und Plänen

Der gestrige Samstag war eine Katastrophe.
Ich weiß nicht, wie viele Taschentuchpackungen ich gebraucht habe. Einkaufen, Wäsche, Haushalt habe ich alles nicht geschafft. Und irgendwann lag ich mit einem beinahe explodierenden Hirn auf dem Sofa, konnte kaum noch etwas sehen, mir war kotzübel und irgendwann zu später Stunde habe ich es nur noch geschafft, das Hirn vom Sofa ins Bett zu bewegen.

Jetzt wieder eine Woche zu Hause sitzen zu müssen, nur zuschauen zu können, wie die Zeit vergeht ohne dass man im Lockdown nennenswert etwas erreichen könnte, hat mich wahnsinnig gemacht. Die Zeit als größter Gegner… Ich weiß, die potentielle Bezugsperson hat gesagt, dass Zeit da nicht so die Rolle spielt, aber für mich tut sie das. Und langsam komme ich mir auch wie eine ultimativ schlechte Freundin vor, die es einfach nicht geschafft hat, mal zeitnah auf dem Friedhof zu erscheinen. Aber 250 Kilometer ohne Auto, mitten im Lockdown und ohne Übernachtungsmöglichkeiten… - es ist schwierig…

Noch eine Woche Kopfkino.
Ich weiß nicht wann und ob ich mir aufhören werde, täglich dieselben Fragen zu stellen, dieselben Antworten zu suchen, dieselben Erinnerungen im Kopf zu haben. Ich weiß nicht, wann und ob es nochmal so einen Menschen geben wird, der so nah dran ist, der so viel versteht und fühlt von dem, was ich erzähle. Ob und wann es nochmal eine Beziehung geben kann, die so tief, so horizontal ist, so sehr von gegenseitigem Vertrauen geprägt ist.              
Ich weiß nicht, wann und ob ich jemals ernsthaft damit leben kann, dass ich nur noch lebe, weil er gestorben ist. Ich hätte dieses Jahr nicht mehr erleben sollen. Ich weiß nicht, wie er damit zurecht gekommen wäre, wenn es umgedreht passiert wäre. Wenn er noch leben würde und ich nicht.            
Ich weiß nicht, wann und ob es mal wieder ein Stück Unbeschwertheit und Sicherheit im Leben gibt, das auch bleiben kann. Länger als ganz kurz, bis die Illusion in sich zusammen fällt.
Ich weiß nicht, ob ich irgendwann mal einen Therapeuten finden werde – so lange bis der Lockdown vorbei ist, ich mal Zeit (also Urlaub) hatte, um Fahrstunden zu nehmen – sicher nicht. Und wenn wir jetzt unseren Urlaub eben schon verbrauchen müssen, dann wird das noch Monate dauern. Nach der Arbeit schaffe ich es eben kraftmäßig nicht. Aktuell wären schon Wochen an Wartezeit grenzwertig… 
Und dann weiß ich auch nicht, ob es das bringen wird. In der Klinik konnte man mir einfach absolut nicht helfen mit dem Thema – aber da hat das eben auch keiner so ernst genommen. Jetzt ist nur die Frage: Warum nicht? Weil einfach keiner verstanden hat, was das für ein Drama war, oder weil man der Meinung war, dass man mir mit dieser Baustelle eben nicht helfen kann?
Hat die liebe Leserschaft Erfahrungen?
Manchmal kommt mir das so vor, als würden diese ganzen Hoffnungen irgendwie verpuffen, weil es sich weder organisatorisch, noch zeitlich ausgeht und ich darüber hinaus auch gar nicht weiß, ob diese Idee einer therapeutischen Aufarbeitung es überhaupt bringt.

Ansonsten… - versuche ich mich die Woche über ein bisschen abzulenken. Ich glaube, Fachbücher zu lesen, probiere ich diesmal gar nicht erst; dafür reicht die Konzentration nicht; damit habe ich mich schon den halben Dezember ohne nennenswerten Erfolg gestresst. Ich hoffe nur, das Gewissen wird irgendwann nicht so schlecht wegen Unproduktivität, dass ich mich doch wieder tagelang versuche zu zwingen.

In der Klinik hat Malen manchmal ganz gut funktioniert. Das ist eine relativ stupide Tätigkeit, da kann ich nebenbei noch ein bisschen Musik hören, die Gedanken ein bisschen durch den Kopf ziehen lassen – es eskaliert aber nicht ganz so sehr. Leider habe ich die Malsachen in der Klinik vergessen – nach der Ankündigung mich auf die Geschlossene zu verlegen, hatte ich irgendwie anderes im Kopf, als die noch im Aufenthaltsraum liegenden Malsachen einzusammeln. Obwohl das ein echt schönes Malbuch war. Jetzt habe ich mal ein Neues besorgt, das nicht ganz so schön ist, aber es erfüllt seinen Zweck.
Ein bisschen Kochen wollte ich auch – ich habe zu Weihnachten ein Kochbuch  geschenkt bekommen; Zeit dafür habe ich ja jetzt.
Und vielleicht kann ich ein bisschen Keyboard spielen. „Blinde Passagiere“ von Johannes Oerding geht eigentlich weit über meine Keyboard – Künste hinaus und ich weiß nicht, ob das Projekt nicht ein bisschen groß ist. Aber dieses Lied ist irgendwie über den letzten Sommer meine Hymne geworden – das würde ich gern spielen können.
Ein paar organisatorische Dinge muss ich noch erledigen, vielleicht werde ich doch mal in der Neuro vorbei gehen und joa… - vielleicht wird der Blog auch den ein oder anderen Eintrag bekommen.

Da habe ich noch ein bisschen zu tun...

 

Ich habe die Bezugsperson auch nochmal ein bisschen genervt. Ich frage mich schon bei jeder Mail, ob ich da nicht wieder den Bogen überspanne und bin einfach super unruhig, bis ich eine Antwort habe, aber ohne Beziehungen läuft hier therapiemäßig eben nichts. Die habe ich nicht; er aber schon.
Und da sich so langsam wieder sehr negative Gedanken einschleichen…
Ich glaube, die Schwelle liegt jetzt weit höher als früher, weil ich mir der Verantwortung für uns beide schon bewusst bin. Ich bin eine der ganz Wenigen, die den Freund noch im Jetzt halten kann. Aber so manchmal werde ich mit diesem Kopf eben wahnsinnig. Und es ist kein Ende in Sicht; das ist das Schlimme. Es ist absolut nicht absehbar, wie es hier weiter geht. Ob und wann ich Unterstützung bekomme, wann es besser werden kann. Manchmal würde ich so gern glauben, dass es hier absehbar ist, aber das ist es nicht. Und gerade, wenn mir das bewusst wird und wie wenig schon ausreichend ist, um mich wieder völlig aus dem Gleichgewicht zu schmeißen (wie zum Beispiel eine ungeplante Urlaubswoche), dann ist da doch sehr viel Ohnmacht.
Ich weiß auch, dass der Arbeitgeber das nicht nochmal mit macht. Das Wichtigste ist, arbeitsfähig zu bleiben. Und – so schwer wie es auch zu akzeptieren ist – alles was danach kommt, ist auf unabsehbare Zeit erstmal egal. Wenn ich nicht alles, was ich mir über die Jahre in mühevoller Arbeit aufgebaut habe vor die Wand fahren will, muss ich jetzt funktionieren. Und… - ganz vielleicht kann es irgendwann wieder ein Stück Leben geben. Ein bisschen Helligkeit, ein bisschen Unbeschwertheit, ein bisschen Glück. Aber das hat gerade keine Priorität. Und nachdem wir letztes Jahr bevor er gestorben ist so nah dran waren – ich hätte „nur“ noch die ersten Dienste im wahrsten Sinne des Wortes überleben müssen – ist das an manchen Tagen unglaublich hart zu akzeptieren, dass es jetzt wieder jahrelang dauern kann. Und obwohl ich sehr dankbar bin, dass die Bezugsperson ja nun doch irgendwie noch da ist und aktuell auch sehr lieb ist (auch, wenn ich dem Frieden oft auch nicht mehr so richtig trauen kann; wer weiß, was da für eine Diskrepanz ist zwischen dem was er denkt und dem, was er sagt – ihm den letzten Sommer zu verzeihen ist schon sehr schwer), wird mir doch auch klar, wie viel ich verloren habe, wenn ich die alten Tagebuch- und Blogeinträge lese.

Ich glaube das Problem an dieser Krise jetzt gerade ist ein bisschen, dass die keiner auf dem Schirm hatte. Dass der Dezember schwierig wird, war im Vorhinein klar und das haben wir ganz gut gelöst, aber dass das jetzt einfach weiter geht... - das war nicht so klar. Meine Energiereserven sind einfach am Ende. Und die Angst, dass ich das Ding vor die Wand fahre, ist sehr groß.

Mondkind

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