Ein Briefchen...
Hey Du,
na, wie geht es Dir so, am Rand der Sterne?
Es hat geschneit bei uns. Nicht ganz so viel, wie woanders, aber die
Welt ist weiß.
Eigentlich bin ich heute sehr müde und die Ausarbeitungen der
Flowcharts kosten eine Menge Energie. Und da all diese Dokumente noch dem Chef
vorgelegt werden müssen und wir natürlich nicht dazu sagen, dass ich die
Flowcharts geschrieben habe, wäre das ziemlich peinlich, wenn da Fehler drin
sind. Also muss ich mir heute trotz Müdigkeit und Gedankenschleifen überall,
außer beim Thema, auf dem sie liegen sollten, viel Mühe geben.
Und da die Welt ja nun nicht so oft weiß ist, habe ich mich aufgerafft
und war eine Runde draußen. Es war sogar ganz nett, mein Spaziergang um die
Burgmauer. Es ist richtig kalt, also liegt auch kein Schneematsch auf dem Boden
– es knarrt so richtig schön unter den Winterschuhen, wenn der Schnee zusammen
gedrückt wird. Das hat irgendwie ein bisschen etwas Beruhigendes und fast
Friedliches, in dieser unruhigen Zeit. Die Natur macht so ihr Ding. Unabhängig
von allem anderen.
Und weißt Du was… - ich komme jedes Mal am städtischen Friedhof
vorbei. Ich habe meine Runde nicht geändert, ich kam da auch schon früher immer
dran vorbei; einfach, weil er direkt neben der Burg ist. Manchmal finde ich,
man könnte so eine Stelle auf dem Friedhof einrichten, wo man Menschen gedenken
kann, die vielleicht ganz weit weg beerdigt sind, so wie Du.
Ich lese manchmal in einer stillen Stunde, oder wenn ich nachts nicht
schlafen kann, die alten Blogeinträge. Lese davon, wie dieser Weg, dieses „neue
Leben“ angefangen hat. Lese von all den Fragen, von der Suche nach Antworten,
von der Hoffnung, in der Klinik Halt zu finden. Und stelle fest, dass all das
nicht weniger geworden ist. Ich habe immer noch genauso viele Fragen und
genauso wenig Antworten und laufe auf denselben Kreisen, immer wieder daran
vorbei.
Ich empfinde es heute immer noch schmerzlich, die Bäume im Wind wippen
zu sehen und zeitgleich zu wissen, dass Du das nicht mehr siehst. Und ich frage
mich, was Du siehst. Ich kann mir immer noch nur in sehr ruhigen Zeiten, wenn
ich weiß, dass ich hinterher stundenlang Zeit habe vorstellen, wie das war,
wenn wir uns in den Arm genommen haben, weil es viel zu sehr weh tut. All die
Blogeinträge, die täglich entstanden sind und die ich durchnummeriert habe,
haben genau dieselbe Aktualität wie damals. Und manchmal glaube ich sogar immer
noch, dass Du doch bald mal anrufen müsstest. Nichts ist seitdem besser
geworden oder irgendwie zur Ruhe zu kommen. Man ist nur gezwungen zu lernen,
trotzdem weiter zu machen.
Wenn ich es heute betrachte, war da viel Zwang dahinter. Es war genau
klar, ab wann ich wieder funktionieren muss und es war genau klar, dass das
klappen muss, wenn ich nicht unter der Brücke landen will. Langfristig. Oder –
weniger drastisch ausgedrückt – wenn ich nicht einen Großteil meiner jahrelang
erarbeiteten Unabhängigkeit verlieren will.
Ich beschäftige mich immer noch viel mit dem Thema Suizid. Wenn man es
googelt, dann findet man mittlerweile auch Artikel und Studien über Corona –
Suizide. Das, was damals noch „neu“ war, rückt über die Zeit doch ein bisschen
ins Bewusstsein. Hauptsächlich betrifft das natürlich all die Menschen, deren
Leben sich seitdem radikal auf den Kopf gestellt hat. Aber Du warst auch so
Jemand. Deine Hauptbeschäftigung war es damals, Selbsthilfegruppen zu
repräsentieren, sei das nun im Rahmen von Internetauftritten oder
Veranstaltungen – auch, um die Finanzierung dieser wichtigen Hilfe und
Aufklärung zu gewährleisten. Das war eine sehr sinnvolle Tätigkeit, die Dir
Halt gegeben hat, die plötzlich weg fiel. Und klar ist Corona nicht der einzige
Grund für einen Suizid, aber bei zuvor schon belasteten Menschen… ? Ich weiß
nicht, was passieren würde, wenn ich nichts Sinnvolles mehr zu tun hätte.
Und dann… - weißt Du, mir geht es heute auch so, wie Dir damals.
Glaube ich zumindest. Also ein bisschen so, vielleicht. Man weiß – so notwendig
wie die Maßnahmen auch alle sein mögen – nie, was der Politik einfällt. Es gibt
Menschen, die haben noch sich gegenseitig. Und auch mit der Familie, mit
unmittelbarer Verwandtschaft, hat sich auch im tiefsten Lockdown immer ein Weg
gefunden, sich zu sehen. Weihnachten ist da das beste Beispiel gewesen. Aber… -
und das hat Weihnachten auch repräsentiert: Was ist mit Leuten wie uns? Die
nicht verheiratet sind, keine Kinder haben – rechtlich gesehen nur zwei völlig
verschiedene Menschen sind?
Dafür gibt es im Zweifel keine Lösungen mehr. Und mir macht das heute
auch sehr viel Angst nicht zu wissen, ob die Bezugsperson und ich sich immer
sehen können. Das hat ohnehin Seltenheitswert. Aber er ist so ziemlich der
einzige, reale Kontakt den ich aktuell habe und natürlich macht es Angst, dass
auch der noch wegfallen könnte.
Und Dir hat es damals Angst gemacht, dass ich so weit weg war. Und wir
hatten ja nicht so richtig Jemanden – außer uns…
Und auch sonst… - wenn ich früher frei hatte, konnte ich in der Ambulanz mal einen Termin bekommen. Selbst in Zeiten, in denen ich schon längst hier war ganz selten mal in diesem Wartezimmer in der Studienstadt sitzen, in dem sich immer eine eigenartige Ruhe über mich gelegt hat. Wegpunkt erreicht. Gleich mal eine Stunde Zeit, nur für die Mondkind. Das war immer so dieses Signal.
Das gibt es alles nicht mehr. Es gibt Dich nicht mehr und unsere
stundenlange Telefonate, unsere gegenseitige Sicherheit. Die Ambulanz, Termine
bei Frau Therapeutin oder bei Herrn Therapeuten. Alle Sicherheiten, die mich
vor einem Jahr noch getragen haben, sind weg.
Weißt Du… - hätte mir das jemand vor einem Jahr erzählt… - ich hätte
nicht für möglich gehalten, dass man das überleben kann.
Aber, um nochmal auf die Suizide zurück zu kommen; ich habe da letztens nochmal einen Vortrag gesehen. Da hieß es vom Vortragenden: „Dann kommt die Handlungsphase, wo wirklich die Handlung durchgeführt wird und dann kommt das Aufwachen. Es gibt eine Studie von der USA, von der Golden Gate Bridge, wo Menschen befragt worden sind, die von der Brücke gesprungen sind und das überlebt haben. Das sind etwa 0,2 %. Und die haben – das waren nicht sehr viele – alle - berichtet, dass sie während der Sprungs bereut haben, gesprungen zu sein. Und das ist das Aufwachen.“
Und dann kam einer dieser Überlebenden zur Sprache.
„In that moment I just thought:
Nobody cares. The realitiy was, that everybody cared, I just couldn’t see it. I
ran forward and using my two hands, I catapulted myself in the free fall. What
I’m about to say is the exact same thing that
99% percent of the Golden Gate jumpsurvivors also said: The milliseconds
my hand lost the railing, there was an instant regret. And I remember thinking:
Noone is gonna know, that I didn’t want to die.
[…]
I remember both of our immediate
reaction was guilt. Guilt, that didn’t belong there.
[…]
To the people, who live with the
loss: They didn’t do that to hurt you or to destroy your life. They took their
lifes, because they were dealing with a great amount of emotional and mental
pain. Suicide, mental illness and addiction are the only diseases, that we
blame the person for. But people die from suicide just like they die from any
other organic diseases.“
Mh… - Du kannst Dir denken, was ich mir jetzt für Fragen stelle. Hast
Du auch geglaubt, dass es keinen interessiert, wie es Dir geht? Habe ich das in
unserem letzten Telefonat nicht deutlich genug gemacht? Das war irgendwann Ende Mai; ich war damals selbst sehr müde von der Notaufnahme. Konnte ich
vermitteln, was ich sagen wollte? Habe ich mich klar ausgedrückt? Habe ich
vergessen Dinge zu sagen, die wichtig sind? Hast Du es mir übel genommen, dass
wir uns damals, als ich das letzte Mal in der Studienstadt war, nicht gesehen
haben? Hast Du deswegen gelaubt, dass es mich nicht interessiert, wie es Dir
geht?
Und hattest Du das auch, diese Phase, in der Du das bereut hast, aber
nichts mehr tun konntest? Und hättest Du mir vielleicht am Ende sagen wollen,
dass Du eigentlich nicht sterben wolltest? Und wie ist das mit dem Thema
Schuld? Wie siehst Du denn das?
Oh… - und noch was: Ich gebe Dir nicht die Schuld daran. Da brauchst
Du keine Sorgen zu haben. Einfacher wird es deswegen aber nicht.
Leben ist ein Überleben geworden. Vielleicht war das über die Jahre der Punkt, vor dem ich am meisten Angst hatte. Was ist, wenn nur noch das Existieren übrig bleibt?
So mein Lieber… - ich muss die Dokumente fertig kriegen. Irgendwie. Langsam sollte ich echt mal meine Konzentration einsammeln.
Ganz viel Liebe
Mondkind
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