Ein Abschied und ein Bürogespräch
Es kommt keine Ruhe mehr in die Situation.
Als ich auf die Arbeit komme sehe ich, dass der Herr Kliniktherapeut
noch einmal geschrieben hat – er wollte sich ja nochmal melden. Ich
hatte eher gehofft, wir reden nochmal… Ich glaube, man kann jetzt
wirklich davon ausgehen, dass das die letzte Mail war.
Dass ich nicht mehr umhin komme einzusehen, dass sich da ein Kapitel
schließt.
„Ich glaube, ich bin die stabilste therapeutische Beziehung, die Frau
Mondkind je hatte.“ Das war ein gewagtes Kommentar, letztes Jahr in der
Notaufnahme der Psychiatrie. Das das Herz ganz seltsam berührt hat. Ich
glaube, er hatte Recht – das war er wirklich.
Und entgegen aller rationalen Warnungen, die einem der Verstand
entgegen schreit, sich auf solche Leute zu stützen, mache ich das
trotzdem. Weil er das Herz ein bisschen getragen hat. Eine solche
Beziehung ist natürlich der Inbegriff von Vertikalität. Er steuert
es. Er kann gehen, wann er will. Er muss dabei auch keine Rücksicht
nehmen, wie es mir geht. Ich glaube, er hat selbst gerade ein bisschen
Stress im Privatleben und der Verstand sagt, dass es okay ist. Es war
ein Segen, ihn zu kennen. Mit ihm habe ich viel
überstanden, das ich alleine sicher nicht geschafft hätte. Es ist gut
zu wissen, dass er atmet und lebt, irgendwo 400 Kilometer weit weg und
trotzdem war diese Mail ein Stich ins Herz.
Bei ihm hatte ich manchmal fast das Gefühl gläsern zu sein. Dass er mich nur anschauen musste, um auf den Boden meiner Seele zu blicken. Mich dort eingesammelt hat, wo ich eben war. Er war der erste Mensch, der die „kleine Mondkind“ gesehen hat, ohne sie zu verurteilen. Wann immer sie sonst zum Vorschein kam, war und ist das unangebracht. Auch die potentielle Bezugsperson mag keine „kleine Mondkind“ und deswegen versuche ich seit dem Sommer auch in den fragilsten Situationen stark und erwachsen zu wirken. Für die „kleine Mondkind“ wird der Herr Therapeut immer eine ganz besondere Person bleiben, ein imaginativer Verbündeter im Kampf gegen „die Großen“.
„Und freue mich, dass sich potenziell ein weiteres Standbein ergibt,
dass Sie tragen kann.“ Dieser Satz des Herrn Therapeuten bezieht sich
auf den sozialpsychiatrischen Dienst. Das hatte ich ihm die Tage noch
erzählt, dass ich da einen Termin habe. Manchmal
komme ich mir bei ihm auch nicht gläsern vor. Er kennt mich seit über
anderthalb Jahren. Hat mich in absoluten Krisensituationen unterstützt,
bewiesen, dass ich mich auf ihn auch stützen kann. Dass er natürlich
nicht immer da sein kann, wenn ich ihn brauche,
aber wenn es darum geht, dass alles bricht und nichts bleibt, wie es
war – dann schon. Ein sozialpsychiatrischer Dienst mit 45 Minuten Zeit
alle zwei Wochen, mit einer völlig neuen Person, die mich überhaupt
nicht kennt, zählt nicht als Standbein. Noch nicht.
Noch lange nicht.
Aber was soll er anderes schreiben?
Sie werden unvergessen bleiben, diese Momente, die die „kleine Mondkind“
mit ihm erlebt hat. In denen der Schmerz weniger war, in denen das
Licht einmal ganz kurz auf allen Achsen leuchtete und sich ein Gefühl
von ganz tiefem Frieden breit gemacht hat.
Jetzt ist all das ein Fall für die Schatztruhe der wertvollen Erinnerungen.
Ich verlasse gerade das Büro und laufe über dem Flur, spüre das Stechen
und die Schwere im Herz, als mir der Chef entgegen kommt. „Hi Mondkind.
Alles klar? Geht es Dir gut?“ Es ist seine Standardfrage und man hat
darauf stets zu antworten: Alles okay, Danke…“
Noch ein Stich. Fassadenmondkind funktioniert vorbildlich.
Später am Tag werde ich vom Chef noch erfahren, dass er sich mit der Personalabteilung auseinander gesetzt hat hinsichtlich meines Arbeitsvertrages, der im Herbst nach zwei Berufsjahren ausläuft. Ich bekomme eine Verlängerung bis zum Ende meiner regulären Weiterbildungszeit. Na das ist doch mal was in all dem Chaos. Das Wichtigste, das es zu schützen gilt – den Beruf als Grundlage der weiteren Unabhängigkeit – ist mir gelungen, zu verteidigen. Ich bin wirklich dankbar, dass mir die Psychiatrie in der Hinsicht nicht das Genick gebrochen hat.
Am Abend sitze ich bei der potentiellen Bezugsperson.
Ab und an zerfleddert er schon noch die Mails – wie damals im Sommer.
Heute diejenige, die ich ihm anlässlich des Termins beim
sozialpsychiatrischen Dienst geschrieben habe. Nur, um von Zeit zu Zeit
klar zu machen, dass er sich keinen Zentimeter auf mich zubewegen
wird. Er ist weiterhin der Meinung, dass die Beziehung nicht wertvoll
genug war, um so sehr darum zu trauern. Dass es das Leid ist, das ich
mir ausgesucht hätte, in dem ich mich bewege. Dass ich anders handeln
könnte und ein glücklicher Mensch sein könnte,
wenn ich es denn nur wollte.
Und dann frage ich mich manchmal, wie Antwort – Mails aussehen würden.
Heute. Ob sich seit dem Sommer viel geändert hätte, wenn er wüsste, dass
400 Kilometer zwischen uns liegen und er der Auffassung ist, dass ich
mich in einem Umfeld aufhalte, in dem er seine
Meinung in aller Schärfe mitteilen darf.
Ich sehe das anders. Ich habe den Freund nicht gebeten, zu sterben. Ich
habe um viele – um die meisten Dinge – die mir passiert sind, nicht
gebeten. Egal, ob es dabei um die Familie, um den beruflichen Weg, um
Freunde geht. Aber ich habe immer versucht, das
Beste draus zu machen. Meistens zumindest das flackende Licht der
Hoffnung geschützt. Gehofft, dass es irgendwann einen Sinn haben wird,
sich durch die schwierigen Zeiten zu bewegen.
Ich weiß nicht. Ob er das wirklich selbst glaubt, was er da sagt. Die
Frage wird er mir auch nicht beantworten. Oder, ob es nur zu schwierig
ist, diesen schweren Schicksalsschlag einer Person, die man vielleicht
eigentlich sogar irgendwie mag mitzutragen und
es einfacher ist, mir die Schuld für mein Erleben zurück zu geben.
Und manchmal, wenn ich in diesem Büro sitze, dann würde ich mir wünschen
– während er mit seinen Worten und seinem Unverständnis mir gegenüber
das Herz so sehr verletzt, bis es physisch weh tut –dass einfach mal
irgendwer eine Mondkind in den Arm nimmt. Und
versichert, dass er bleibt. Dass ich mich darauf verlassen kann.
Manchmal wünsche ich mir sehr, dass man diesen Krater, den der Tod des Freundes zwischen den Menschen um mich herum und mir gerissen hat, irgendwie kitten kann. Dass wir uns irgendwann mal wieder erreichen. Dass ich irgendwann mal wieder dazu gehöre. Nicht nur als Fassadenmondkind. Sondern als Mensch.
Mondkind
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