Vom Studieren, Verantwortung und Therapieplanung

„Okay, wir kommen runter neben die Kirche…“
Mit einer Handbewegung deutet mir mein Gegenüber an, die Notizen und das Neuro – Buch von seinem Tisch zu nehmen, dann machen wir uns – er noch am Telefon – auf den Weg durch den Campus.

Wenig später sitzen die Frau vom Qualitätsmanagement, der Oberarzt und ich in einem kleinen Büro neben der Kirche und versuchen mit meinen Skizzen das Programm zu füttern, sodass mein Flowchart vom Papier nach und nach ins System kommt. Das Telefon des Oberarztes klingelt ununterbrochen. „Ich muss los. Ruft mich an, wenn Ihr fertig seid…“
Knapp zwei Stunden später steckt er mit einem Kaffee für uns bewaffnet wieder den Kopf zur Tür herein. Ich bin gerade noch dabei eine Quelle einzufügen. „Das findet der Chef sehr wichtig mit den Quellen…“, werde ich belehrt. „Naja, die Studie ist von Mai 2020, das wird ihn erfreuen…“, entgegne ich und gratuliere mir insgeheim, so viele Studien gelesen zu haben in den letzten beiden Tagen.

Wenig später muss ich noch meine restlichen Sachen aus dem Büro des Oberarztes holen. Er ist auf dem Sprung nach Hause. „Mondkind, willst Du noch eine Aufgabe fürs Wochenende…?“ Naja…. – ich könnte auch lesen und malen am Wochenende. Und schreiben. Aber er hat das alles echt ein bisschen verplant mit den Dokumenten. „Ja… - wenn es nicht zu viel ist…“, entgegne ich. Den letzten Teilsatz hat er wohl überhört…
Ich muss mich gleich dran setzen – bis jetzt ist heute nur Haushalt und Einkaufen geworden; aber es ist auch erst 15 Uhr. 

Erinnert fast ein bisschen an Studentenzeiten...

All das lenkt aber nur kurz vom Flattern in mir ab. Unaufhörlich.
Grüne und rote Tage. Dazwischen noch tiefrot oder orange. Das ist die Schablone, die sich über den Dienstplan und damit über meine Tage legt, wenn ich ihn sehe. „Schwarz – weiß – Denken“, nannte Frau Therapeutin das früher. Na gut… - ich hab zumindest drei Farben.
Dass ich im Februar nicht, wie mit der Kollegin verabredet, eine Woche in den Spätdienst eingetragen wurde, lässt Böses erahnen. Zwar sind Spätdienste im allgemeinen orange Tage, aber dort im Februar nicht zu stehen heißt, dass man mich auch in die Notaufnahme schicken könnte, was sehr viele rote Tage hintereinander wären und früher ein Grund für akute Suizidalität. Vielleicht nicht mal unbedingt aus Angst vor Fehlern – wie gesagt, schlimmer als dass man für den Tod des besten Freundes mehr oder weniger verantwortlich ist, kann es jetzt auch nicht mehr werden – sondern vor der Erschöpfung. Vor drei- oder vier – Stunden – Nächten nach einem ersten Dienst und dann am nächsten Tag 8 – 9 Stunden Notaufnahme, was ohne Pause Senden, Empfangen und Funktionieren auf höchstem Niveau gleichzeitig ist. Diese Zeit wird wieder kommen – das hat der Oberarzt ja indirekt Weihnachten angekündigt – und wir erinnern uns alle, wie schnell mich die Zeit kaputt gemacht hat. Wie ich im Mai – noch vor dem Tod des Freundes – wie ein Schatten meiner Selbst mit einer damaligen Freundin am Fluss saß und man in mir kaum noch die Mondkind gesehen hat, die ich mal war.

Solange wie ich den Kopf immer auf mindestens zwei Themen gleichzeitig fokussiert habe, wird das schwierig, wenn so viel Hochgeschwindigkeit, wie in der Notaufnahme gefragt ist.
Aktuelles Thema: Verantwortung. Großes Thema.       
Erinnerungen. Klinik. Dachterrasse. Damals mit einem Mitpatienten. „Ich hätte ihm die Polizei auf den Hals hetzen müssen. Dieses eine Mal hätte ich es tun müssen. Das war verantwortungsloses Handeln. Ich habe einfach zu sehr gehofft. Dass es gut geht…“        
„Du hast menschlich verantwortungsvoll gehandelt. Du hast ihn und seine Entscheidung respektiert. Lass mal die Ärztin raus…“

Verantwortung… - wo hört die eigene Verantwortung auf? Und wo fängt die des anderen an? Wie verantwortlich war ich für ihn in der Situation, in der er war und von der ich wusste? Und kann Verantwortung auf verschiedenen Ebenen zu verschiedenen Resultaten führen?       
Und wie geht man eigentlich verantwortlich mit sich selbst um? Früher habe ich immer geglaubt, die Menschen nehmen die Verantwortung vielleicht, wenn ich sie nicht mehr tragen kann. Aber sollte ich nicht vielleicht wenigstens darum bitten? Vielleicht hat der Freund geglaubt, dass ich die Verantwortung einfach übernehme und ihn da raus rette in den sechs Tagen, von denen ich nicht weiß, ob er da gelebt hat oder nicht. Hätte ich das wissen sollen? Und wie oft habe umgekehrt ich da gesessen und gehofft, dass man sieht, dass ich das nicht mehr tragen kann? Aber wie hätten die Menschen das wissen sollen? Und wie viel kann man Menschen zumuten? Und für welchen Zeitraum? Und wer ist dann verantwortlich, wenn es nicht klappt?  

„Du hast Dir da zu viel Verantwortung aufgeladen…“ Das hat auch mal jemand gesagt.
Vielleicht hätte man die Verantwortung auch genauer abgrenzen sollen. Vielleicht hätte ich sagen können: „Ich helfe Dir, wo ich kann. Du kannst mich immer anrufen, Du kannst auch Deine Sachen packen und erstmal her kommen, damit Du nicht alleine bist – ich glaube, das ist das Wichtigste in der Situation. Ich versuche Dir zu helfen, die Schwere ein bisschen weniger schwer, ein bisschen erträglicher zu machen. Aber dafür, dass Du lebst – dafür bist Du verantwortlich. Und wenn Du das nicht sein kannst, dann kann ich es auch nicht sein. Dann muss die Psychiatrie das übernehmen. Wenn Du das willst.“ 
Andererseits kann man Abgrenzungen in Situationen, in denen man das Gefühl hat zu zerfallen, auch nur schwer ertragen.                

„Wie hast Du das eigentlich so lange ohne Therapie ausgehalten?“, fragte eine ehemalige Mitpatientin letztens. Tja, weiß ich auch nicht, ehrlich gesagt. Hatte ich eine Wahl? Nein.
„Manchmal glaube ich, mit Hoffnung geht alles. Du darfst nur dieses Licht nicht verlieren. Und die Bezugsperson habe ich ja schon auch noch…“, habe ich entgegnet.
Und man hofft ja fleißig. Vielleicht hat das ja in wenigen Tagen ein Ende. Vielleicht gibt es ja in wenigen Tagen ein Konzept. Hoffen auf irgendetwas. Das kann die Mondkind gut. Tut sie seit Jahren. Der ehemalige Herr Kliniktherapeut wollte sich ja noch mal melden. Deshalb schaue ich auch jeden Tag nach der Arbeit als erstes in die Mails. „Im neuen Jahr“, hatte er gesagt. Das ist wohl dehnbar. (Überhaupt – so manchmal gehe ich ja gedanklich nochmal die Therapiegespräche und Notizen durch und im Abschlussgespräch behauptete er allen Ernstes, dass wir schematherapeutisch ja alles besprochen hätten und ich das Gelernte jetzt auf alle Situationen anwenden könnte. Mh… - dafür, dass ich das Gefühl habe, dass man mir in den ersten Tagen des Julis im letzten Jahr gefühlt ein komplett neues Betriebssystem ins Gehirn gespielt hat, in dem sich bis in die Grundeinstellungen sehr Vieles verändert hat, fand ich das überhaupt nicht ausreichend. Über die Trauer und alle damit verbundenen Themen haben wir… - eine Stunde geredet, glaube ich).
Aber vielleicht… - vielleicht ist der Lockdown irgendwann vorbei, vielleicht habe ich irgendwann ein Auto, vielleicht lässt sich der Therapeutensuchkreis erweitern, vielleicht habe ich dann einfach einmal Glück und muss nicht noch Monate warten. Vielleicht hat ja auch die Bezugsperson noch Beziehungen, die sie ja auch nochmal aktivieren wollte, auch darauf warten wir noch. Und nächste Woche gibt es auch einen interessanten Termin – ich bin gespannt, ob das irgendetwas gibt; darüber schreibe ich dann, wenn es Sinn hatte. Da kann der Oberarzt sich dann auch gleich Gedanken machen, wie er mir vor 16 Uhr demnächst Zeit verschaffen will. Bin ja jetzt auf seiner Station; das muss ja auch Vorteile haben.

Allerdings… - würde mir Jemand sagen, dass – egal was klappen oder auch nicht klappen wird, das eher noch Monate, als alles andere dauern wird, bis ein Mondkind – Kopfchaos in sicheren Händen ist, die mithelfen aufzuräumen und daraus ein Bündel zu schnüren, das ich tragen kann – vermutlich würde ich dann gar nicht mehr aufhören zu weinen.

Flattern. Das ist immer da. So unterschwellig. Bahnt sich manchmal den Weg nach oben. Dann wird es wieder ein Fall für viele Taschentücher.
Das neue Betriebssystem lässt viel Raum für Somatisierung. Für ein zu schnell schlagendes Herz, für durchwachte Nächte und einen schmerzenden Magen. Tiefrote Tage bedeuten Ohnmacht und Angst. Aber kein Ende mehr. Das Leben ist nicht cooler geworden im letzten Jahr. Aber ich muss jetzt uns beide tragen. Er tanzt bei den Sternen, ich tanze auf der Erde. Es geht nicht mehr nur um mein Leben und mein Sterben. Es geht darum, dass er nur ein Stück weit auf dieser Erde bleiben kann, wenn diejenigen die ihn kannten über ihn reden, Kerzen anzünden, seine Erscheinung in einem Fotorahmen herum tragen. Das ist alles, was wir noch tun können.

Was mein Umfeld als große Erleichterung empfinden mag, empfinde ich als große Strafe. Das Leben war nie einsamer, verlorener und sinnloser, aber der Zwang trotzdem bleiben zu müssen, noch nie so hoch. Tiefrote Tage sind mein persönliches Elend, nicht mehr etwas, um das die anderen sich sorgen müssen. Deshalb hat auch keiner mehr ein Problem mit tiefroten Tagen einer Mondkind.

 

Mondkind

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