Vom sozialpsychiatrischen Dienst und Notaufnahme - Plänen

Mittwochmorgen.
Ich sitze mit einem Kaffee und einer Mandarine am Frühstückstisch. Essen ist schon länger nicht mehr eine meine größten Stärken.

Termin beim sozialpsychiatrischen Dienst in der Stadt. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ob ich heute überhaupt so viel erzählen kann. Im Moment ist der Freund so nah dran, wie selten. Der Jahreswechsel war nicht gut. Seitdem habe ich irgendwie noch mehr das Gefühl als vorher, dass mir etwas zwischen den Fingern hindurch gleitet, das ich unbedingt festhalten möchte, aber das ich nicht festhalten kann – vielleicht umso weniger, je mehr ich mich bemühe.

Kurz vor 9 Uhr. Ich stehe vor der Tür, atme ein Mal tief ein und drücke auf die Klingel. Hinter der recht versteckten, altmodisch anmutenden Tür, verbergen sich doch weitläufige und freundliche Räumlichkeiten. Erstmal Hände desinfizieren und Temperatur messen; dann muss ich noch ganz kurz im Eingangsbereich warten, bis ich von einer Frau in einen der Räume geführt werde.
In der Ecke steht ein Schreibtisch, daneben sind drei im Kreis Stühle aufgestellt; in der Mitte ein kleiner Tisch. In einer anderen Ecke steht eine Palme.

Die Frau stellt sich kurz vor, stellt von vornherein klar, dass sie keine Psychologen dort haben, aber dass sie überbrückend und beratend Termine anbieten können, vielleicht alle 2 Wochen 45 Minuten, je nach zeitlichen Kapazitäten.
Dann bin ich dran. Wo fängt man an? Wenn man 45 Minuten Zeit hat?
Ich skizziere kurz die Umrisse eines Mondkind – Lebens. Berichte von einer gewissen Dunkelheit zwischen den Tagen, so lange wie ich denken kann. Dass ich mich damit einigermaßen arrangiert habe. Berichte von einer schwierigen Familienkonstellation, von einem nervenaufreibenden Studium. Auf die Frage, wie ich hierher kam, erzähle ich von einem Praktikum hier in  diesem riesigen Krankenhaus dieses winzigen Ortes, das für mich erstmals zumindest die Möglichkeit aufgezeigt hat, dass ich das Ellbogenprinzip eines Klinikalltags überleben kann. Berichte vom Freund, von unserem ersten Sommer, von seiner Rolle in meinem Leben. Davon, dass er im Verborgenen der wichtigste Mensch auf einer privaten Ebene war, den ich hatte. Ich berichte von einer Freundschaft, die bis zum Ende nicht ganz klar war. Von einer tiefen emotionalen Verbundenheit, davon, dass das umso wichtiger war, wenn die Familie nicht stützen konnte. Ich berichte von diesem Plan, den wir am Ende hatten, dass er erstmal zu mir zieht, dass er bleibt, dass wir uns hier – fern der Familie, von allen Wurzeln, die wir hatten – einen neuen Ort zum Leben einrichten wollten.
Und dann… - kam dieses schrecklich Ereignis dazwischen. Dass das Leben in ein „Davor“ und „Danach“ unterteilt. Dass es die Mondkind, die es vorher gab, nie wieder geben wird. Ich berichte von zwei Monaten Psychiatrie, die ungefähr Null gebracht haben – wenn sie nicht sogar kontraproduktiv waren. Berichte, dass ich seit Monaten irgendwie versuche zu funktionieren, aber eigentlich keine Ahnung habe, wie lange das noch geht. Ich berichte davon, dass ich mit Gedanken an den Freund aufstehe und ins Bett gehe, dass täglich die Kerze auf meinem Tisch brennt, dass ich fast täglich seine Stimme in Form alter whatsApp – Sprachnachrichten durch den Raum hallen lasse. Dass der Kampf gegen die Zeit der Schlimmste ist, dass ich immer mehr Angst habe, ihn zu verlieren, dass der Jahreswechsel unerträglich war und ist. Dass das Leben auf „Pause“ steht, weil er dieser Mensch war, der hätte – nach allem was wir beide erlebt haben – Zukunft werden sollen. Dass sein Platz nicht vakant, nicht ersetzbar ist. Dass ich – und allein der Gedanke daran ist fast sträflich – keine Ahnung habe, ob ich einen Menschen noch mal so nah an mich ran lassen kann, ob ich mir nochmal vorstellen kann, mit irgendwem meine Wohnung zu teilen – auch, wenn ich erst 27 Jahre alt bin. (Und das ist der Punkt, ab dem dann – trotz aller Bemühungen – Tränen fließen). Denn jeder Mensch, der auf diesen Platz sein könnte, kann es dort nur geben, weil es den Freund nicht mehr gibt.

Auf die Frage nach dem sozialen Umfeld berichte ich, dass aus dem „Davor“ fast nichts übrig geblieben ist.
Die wenigen Freunde haben sich rar gemacht, die alten Helfernetzwerke funktionieren nicht mehr so richtig. Und irgendwie war das auch eine schwierige Erfahrung. Der Einzige, der übrig geblieben ist, ist die Bezugsperson. Dafür bin ich unendlich dankbar – und auch das war zwischenzeitlich nicht so klar - aber das ist am Ende auch eine vertikale Beziehung, in der ich im Zweifel nichts zu melden habe.

Schwierig, höre ich. Ob ich denn versucht hätte, einen Therapeuten zu finden. Aber ja doch. Ich berichte, dass ich alles abtelefoniert habe, was mit dem Fahrrad erreichbar ist, dass auch Verbindungen des Oberarztes nicht zum Erfolg geführt haben. Ja, Corona sei dafür nicht günstig, höre ich. Viele der Menschen, die dort aktuell sind, hätten die gleichen Probleme.

45 Minuten später bin ich auf dem Weg nach Hause.
Habe zum Glück genügend Zeit gelassen, ehe ich auf die Arbeit muss.
Ich zünde die Kerze an auf dem Tisch, was mittlerweile so selbstverständlich geworden ist, wie den Schlüssel an den Haken zu hängen, wenn man die Wohnung betritt. Setze mich auf dem Boden. Kopfhörer. Musik ganz laut. Christina Grimmie. Ich werde auch mal eine schwerhörige Omi.

Weil es so schön war, noch ein paar Schnee - Bilder vom letzten Wochenende...
 

Dass ich irgendwann mal bei Beratungsstellen und Co wegen des Freundes sitze, hätte ich nie gedacht. Der Termin war nicht so schlecht, aber es ist eine tiefe Verzweiflung, die sich über mich legt. Wieso so kurz, bevor es hätte okay werden können? Und wäre es okay geworden? Oder ist das nachträgliches Wunschdenken? Und wie soll ich diese Geschichte bis ans Ende meiner Zeit mit mir herum schleppen?
Diese Termine machen deutlich: Ich kann die Geschichte noch 200 Mal erzählen – es gibt trotzdem Niemanden, der die Vergangenheit ungeschehen machen kann, der mir diesen Menschen zurück geben kann, die Möglichkeiten, die wir hatten und der dafür sorgen kann, dass man die Situation nochmal erleben kann, dass man anders handeln kann, damit es am Ende anders ausgeht.
Ich weiß nicht mehr wohin mit diesem Kopf, der so fast explodiert, mit diesem Schmerz, der nicht nachlassen will. Wohin mit der Traurigkeit darüber, dass selbst dieses winzige bisschen Leben verloren gegangen ist. Er und ich und diese Bahnhofssituationen, das war irgendwie ein Stück Normalität, ein bisschen von dem, was andere auch erleben.

Wenn man das alles so niederschreibt, dann erscheint es nicht so real, dass ich diejenige bin, von der da die Rede ist. Da war immer die Idee von: „Es kann besser werden und es wird besser, wenn das Studium, die erste Zeit im Job vorbei ist.“ Das hat Frau Therapeutin mantra – artig gepredigt; solange, bis ich es geglaubt habe. Und ich weiß rational, dass das alles nicht dadurch hinfällig ist, dass die Dinge so geschehen sind, wie sie geschehen sind. Aber das Gefühl ist ein anderes. Wir waren irgendwie naiv – der Freund und ich. Und haben uns gegenseitig eine Zukunft versprochen, von der wir nicht wussten, dass wir sie nicht mehr leben können. Dass die jeder in seiner eigenen Welt leben muss.

Ich habe heute Spätdienst und sitze ab 12:30 Uhr in einer explodierenden Notaufnahme. Und da haben wir wieder das alte Notaufnahme – Problem. Die Arbeit dort ist nicht absehbar. Man kann nicht mal fünf Minuten atmen zwischendurch, ganz kurz die Gedanken sortieren, sich mal kurz ausklinken vom Leid der anderen. Man muss da sein, präsent sein, richtige Entscheidungen treffen innerhalb kürzester Zeit.
Teilweise legen wir die Patienten zu den Internisten bis die sich melden und beklagen, dass sie jetzt auch keinen Platz mehr für unsere Patienten haben. 


Zwischendurch eröffnet mir der Oberarzt das, was ich von vornherein geahnt habe: Der Plan ist, mich langfristig wieder in die Notaufnahme zu holen. Weil ich heute sowieso so sehr in meinem Kopfschaos gefangen bin, muss ich mich schon arg bemühen nicht zu weinen und ich hoffe, er sieht das diskrete Glänzen in meinen Augen nicht. Ich weiß nicht, was diese Schieberei soll. Warum ausgerechnet ich im Abstand von wenigen Monaten über die Stationen gereicht werde, wo es andere gibt, die jahrelang auf einer Station an einem Schreibtisch hocken dürfen.
Ich weiß nicht, warum man mir nicht zugesteht, mit meinem Job einfach mal meine Kröten zu verdienen und sonst nichts. Ich brauche doch im Moment so sehr an irgendeiner Front mal Ruhe.
Und es wird ein Frühling, der wieder mal kein Frühling wird. Wie all die Jahre davor. Und diesmal wird es auch nicht möglich sein, am Ende dieser Zeit, als Schatten meiner selbst, bei Herrn Therapeuten zu sitzen und mich von ihm einfangen zu lassen. Das machen weder er, noch der Arbeitgeber mit. Am Ende wird nur übrig bleiben, das irgendwie zu überstehen, zu wissen, dass man irgendwann auch mal dieser Goldfisch im Haifischbecken sein wird, den sie vielleicht einfach in Ruhe lassen. Oder, sie tun mich danach auf die Intensivstation. Man weiß nicht, was den Herren der Chefetage so einfällt.

Bei der Bezugsperson schaffe ich es nicht mehr vorbei zu gehen, bevor die nach Hause geht, um von meinem Termin zu berichten. Dafür ist zu viel los. Vielleicht kriegen wir es heute hin. Er hat jetzt auch zwei Wochen Urlaub… - und wenn er wieder kommt, bin ich mutmaßlich schon weg von seiner Station. War ja ein kurzes Intermezzo…

 

Mondkind


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