Von der Stroke Unit, Schmetterlingen und Doktorarbeit

Die Arbeitswoche neigt sich dem Ende.
Arbeitstechnisch gesehen war sie nicht schlecht. Ich war auf der Stroke Unit im Frühdienst. Das ist eigentlich mein liebster Einsatz in der Neuro – trotz Vertretungssituation. Am Anfang der Woche waren eine Kollegin und ich nur zu Zweit. Aber wenn man von der peripheren Station kommt und viel größere personaltechnische Katastrophen erlebt hat, ist auch das locker machbar. Ab Mitte der Woche hat uns noch eine weitere Kollegin unterstützt. Ich komme mit beiden gut zurecht und der vertretende Oberarzt hatte die Station super im Griff, sodass wir auch eine sehr gute Chefarztvisite hingelegt haben. Und nebenbei ist sogar noch Zeit für ein bisschen Ausbildung. Der Oberarzt ist einer unserer Epilepsie – Spezialisten – also hieß es diese Woche mehrmals: „Alle mal zu mir kommen und sich das EEG anschauen.“

Wir hatten auch ein paar spannende Fälle diese Woche. Eine Patientin, deren Schlaganfall wahrscheinlich auf ein PFO – sprich auf ein kleines Loch im Herz – zurück zu führen ist. Das kann dann eine paradoxe Embolie auslösen. Dann gab es eine Patientin mit Polymyalgia rheumatica und Riesenzellarteriitis, die eine hochgradige Stenose der Halsschlagader hatte und einen Stent bekommen sollte. Da musste ich erstmal mit den Rheumatologen der Uni telefonieren, ob wir das überhaupt machen können. Nebenbei habe ich mich erinnert, dass ich Rheumatologie im Studium mal super spannend fand… Und dann gab es noch einen Patienten, der plötzlich eine fulminante Lungenembolie entwickelt hat – so eine Dramatik habe ich dabei auch noch nicht erlebt, aber der Patient kam da noch ganz gut raus. Dann gab es noch eine Patientin, die schon im Vorkrankenhaus einen Schlaganfall erlitten haben soll. Nur leider passte die gefundene Stenose überhaupt nicht zur Seite des Schlaganfalls und irgendwie war der Brief eher viel Fantasie des Verfassers. Wie sehr eine Linkshänderin, bei der ein paar Funktionen des Körpers eben seitenverkehrt im Gehirn hinterlegt sind die Menschen durcheinander bringen können, ist schon erstaunlich. Dass die Linkshänderin ist, haben wir dann übrigens herausgefunden und so ergab alles Sinn. 

Ansonsten war ich hier eine Weile still, weil ich neben der Arbeit einfach unfassbar erschöpft war. Mir vom ehemaligen Herrn Kliniktherapeuten anzuhören, dass wir einige Dinge was den letzten Aufenthalt anbelangt nicht mehr klären können und am selben Tag zu erfahren, dass ich mit der potentiellen Bezugsperson nicht weiter bin als im Sommer – auch wenn ich das gern glauben wollte – hat unglaublich weh getan und alle Kraftressourcen neben der Arbeit gefressen.
Denn im Endeffekt stehe ich einfach sehr allein da gerade und das Schlimmste, das ich immer vermeiden wollte – dass alle Säulen gleichzeitig brechen – ist eingetreten.

Ich war nochmal beim Seelsorger diese Woche. Da bin ich nicht mehr sehr oft, weil wir hinsichtlich des Sterbens auch sehr verschiedene Vorstellungen haben und ich mir das auch nicht mehr oft geben kann. Aber manchmal denke ich doch, dass man aus seinem Gesagten vielleicht etwas Hilfreiches fischen kann.
Als hätten die potentielle Bezugsperson und er sich abgesprochen, hat auch er nach kurzer Zeit gesagt: „Sie haben es irgendwie so HINGEBOGEN, dass…“ Während ich bei meinem Vorgesetzen dazu nicht so viel sagen kann, kann ich das bei ihm schon. Habe ich auch. Ich habe sofort eingehakt und erklärt, dass es so nicht geht. Ich habe nichts hingebogen, ich habe diesen Schicksalsschlag nicht gewollt und nicht gebraucht - ich habe das sicher nicht inszeniert. Und wenn die Menschen – aus welchen Gründen auch immer – nicht damit umgehen können, dann sollen sie ihre Klappe halten. Nur, weil ich nicht über alles geredet habe heißt es nicht, dass die Dinge nicht existiert haben. Ich rede nicht über alles, was ich denke und erlebe und ich schreibe davon nicht alles auf. Niemand außer der Freund und ich wissen, was das war, was wir da hatten und wie intensiv es war. Weder der Seelsorger noch die potentielle Bezugsperson waren je in der Studienstadt und haben mich und uns dort gesehen und erlebt. Es steht den beiden einfach nicht zu, so darüber zu urteilen.
Irgendwann reden wir darüber, dass die Zeit wie ein Fluss ist. Dass unser Erleben in dieser Zeit wie fliegende Schmetterlinge sind. Die vorbei fliegen, sich auf unseren Zeigefinger setzen, dort vielleicht kurz verweilen, um dann weiter fliegen. Der Herr Seelsorger sagt, dass ich gerade versuche einen Schmetterling zu fangen. Um ihn dann – wie in einem Museum – in einem Schaukasten auszustellen, damit ich ihn immer wieder anschauen kann. Aber das sollte ja nicht die Bestimmung der Schmetterlinge sein, sagt er. Der Fluss der Zeit muss fließen und sich verändern und die Schmetterlinge müssen fließen.

Das ergibt Sinn und ist ein schönes Bild. Würde aber bedeuten, dass ich den Freund auch fliegen lassen muss. Und was bleibt dann noch von ihm hier?
Wir reden über das Vergessen. Und, dass es mir so viel Angst macht, dass ich vielleicht schon anfange, kleine Details zu vergessen. Danach kommen wir auf mich zu sprechen. Und dass ich seit dem Ereignis anders mit dem Leben kämpfe. Dass ich mehr verzweifle, aber nicht mehr dauer – suizidal bin. Weil ich vielleicht auch Angst davor habe, vergessen zu werden. „Es ist leider so… - jeder Mensch ist ersetzbar. Ich, Sie… - jeder. In 20 Jahren steht vielleicht noch ein Foto von mir in der Wohnung meiner Kinder. Wenn überhaupt. Und das war es dann auch. Jeder der stirbt, wird irgendwann vergessen.“
Und irgendwie… - irgendwie habe ich das Gefühl, dass der Freund erst so ganz gestorben ist, wenn er vergessen ist. Und deswegen kämpfe ich wie eine Verrückte gegen die Zeit und verzweifle immer mehr daran.
Was macht man jetzt daraus… ? Der Weg ist noch lang… - falls es so etwas wie Normalität irgendwann demnächst nochmal geben kann. Den Glauben daran habe ich auch langsam verloren.

Im Lauf der Woche hat mich übrigens die Personalabteilung angerufen. Es ging um die Verlängerung des Vertrags. Mittlerweile liegt der hier. Verlängerung um drei Jahre. Crazy, dass ich noch drei Jahre hier bleiben darf, wenn ich mag.

Da das Thema zuletzt nochmal aktuell wurde, habe ich mir aber auch nochmal Gedanken um die Doktorarbeit gemacht. Bis Mitte März 2022 muss die – auch mit dem Verlängerungsantrag – endgültig fertig sein. Wenn ich nebenbei ganz regulär arbeiten gehe – mit den Diensten arbeitet man ja auch fast jedes Wochenende – schaffe ich das einfach nicht. Deshalb habe ich gerade die Idee, ob man den neuen Vertrag nicht einfach ein halbes Jahr später datieren kann und ich schreibe zwischen Mitte September und Mitte März des nächsten Jahres die Arbeit fertig.
Allerdings hat das so einige Haken. Ich würde in der Zeit nichts verdienen und müsste trotzdem natürlich die Miete zahlen – wahrscheinlich sogar doppelt, wenn ich dafür in der Studienstadt sitzen würde. Ich wäre nah dran an der Familie – das ist auch immer wenig erquicklich. Ich wäre wieder raus aus dem Job – mit einem halben Jahr Pause würden mir bestimmt viele Dinge, die gerade so Routine geworden sind, wieder Angst machen. Es wäre wieder ein Leben zwischen den Welten. Das würde jegliche Bemühungen einen Therapeuten zu finden wieder sprengen. Und ich wäre zurück in der Stadt, von der ich zuletzt noch geschrieben habe, dass ich dort nicht sein kann. In den letzten Nächten habe ich viel über die Erinnerungen nachgedacht, die auf diesen Straßen liegen. Und dann fallen mir Dinge ein, die irgendwie fast vergessen waren. Die ich - gerade bevor sie von den Hirnwindungen gefallen sind – nochmal einfangen konnte. Jeden Sonntag. 14 Uhr. Wenn keine Klausurenphase, keine Examenszeit war, wenn ich nicht gerade hier in der Ferne war. Also doch recht selten. Haben wir uns getroffen. Sind in die Stadt gefahren. Und obwohl mich das immer gestresst hat, weil es unproduktiv war (ich war halt nicht umsonst drei Mal in der Klapse), war es doch so wunderschön. Jede von diesen Erinnerungen ist so wertvoll. Altstadt, Rheinterassen, Medienhafen, Büchermeile im Sommer. Die M – Busse, die das Leben einfacher gemacht haben, weil man schnell überall war. Und, dass er mich so oft nach Hause gebracht hat, damit wir noch ein bisschen mehr Zeit zusammen hatten.

Die Erinnerungen von damals würde es heute nicht mehr geben. Die Studienstadt bedeutete den Freund zu haben. Es bedeutete einen sicheren Ort in Form von Ambulanz, Klinik und therapeutischer Unterstützung zu haben. Das Klinikgelände, das eine eigenartige Blase war, auch wenn man dort nicht gerade Patient war. Die Studienstadt bedeutete auch legendäre Kuchenbackaktionen mit einer damaligen Freundin.
Zu glauben, dass ich diese Zeit nochmal haben kann, ist eine Illusion. Und ich weiß nicht, ob es klug ist zurück zu gehen, wenn ich das im Stillen hoffe. Noch einmal den Freund, noch einmal die Ruhe im Wartezimmer der Ambulanz, das Abfallen der Last von meinen Schultern.
Mir muss bewusst sein, dass nichts übrig geblieben ist. Dass ich in die Stadt nur gehe, um die Doktorarbeit fertig zu machen. Dass sie Mittel zum Zweck ist.  Und ich mich maximal auf den Spuren der Erinnerungen bewegen kann, wenn ich das aushalte.

Eigentlich würde ich das gerne mit der potentiellen Bezugsperson besprechen. Ob ich mir das jetzt wirklich raus nehmen kann zum Chef zu gehen und um eine Auszeit zu bitten, nachdem man mir letzten Jahr so lange meinen Platz frei gehalten hat und von ihm bezüglich mir nicht ein böses Wort gefallen sein soll.
Aber der hat noch lange Urlaub – bis dahin muss der Vertrag fast unterschrieben zurück sein.
(Sollte also jemand von Euch konstruktive Vorschläge haben oder irgendeine Idee, was ich bedenken sollte... - ich bin immer dankbar für Anregungen...)

***

Ansonsten… - ich habe am Sonntag wieder ersten Dienst - diesmal ohne die Bezugsperson im Hintergrund. Erstmal gilt es den zu überleben und als nächstes werde ich am Montag völlig erschöpft auf der Arbeit sitzen und eine meiner letzten SU – Wochen genießen. Ich weiß, es ist nicht mehr viel Zeit, die mir dort zusteht, ehe ich in die Notaufnahme rotieren muss.
Es ist irgendwie eine seltsame Gleichgültigkeit, die sich eingeschlichen hat. Ich nehme schon gute Momente wahr, aber ich weiß auch, dass es die Ausnahme ist. Dass das Leben seit Monaten ein Kampf ist, im Großen und Ganzen ein bloßes Existieren. Dass es auch nicht besser werden wird, dass die letzte Säule erst vor wenigen Tagen gebrochen ist. Die Ansprüche sind einfach ganz, ganz weit unten. Wenn ein guter Moment mein Leben kreuzt, dann bin ich dankbar. Aber es gibt nicht mehr die Erwartung, dass irgendetwas gut wird. Ich habe mich nie rast- und heimatloser gefühlt, noch nie mehr auf der Suche nach irgendetwas Zwischenmenschlichem, das Bestand hat. Es ist nichts mehr übrig geblieben, das man noch verlieren könnte. Atmen, Existieren, seinen Job machen ist alles, was geblieben ist. Es ist kaum in Worte zu fassen, wie das sämtliche Wünsche, Ideen, Vorstellungen unter sich begräbt.

Mondkind

Bildquelle: Pixabay

Kommentare

  1. Mir fiele nichts ein, wie man dir aus dieser Idee um eine Auszeit für die Doktorarbeit einen Strick drehen sollte. Dass das nicht parallel klappt mit deinen aktuellen Arbeitszeiten ist ja wohl offensichtlich. Und eine Doktorarbeit ist ja auch kein Tabuthema o.ä.
    Ich würde das auf jeden Fall so vorschlagen, bzw. auch für alternative Vorschläge der Vorgesetzten offen sein. Kannst du das evtl. auch mit einem anderen Oberarzt/in oder einem Kollegen/in erstmal besprechen?
    Dass dein Oberarzt gerade im Urlaub ist, ist sehr ungünstig, aber die Doktorarbeit ist ja ein relativ sachliches Thema (für Außenstehende), sodass du da sicher auch erstmal einen anderen Menschen, zumindest für die Organisation des Ganzen, befragen kannst, oder?

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    1. Hallo,
      Danke erstmal für den Kommentar und die Anregungen.

      Mit einer assistenzärztlichen Kollegin habe ich inzwischen schon mal gesprochen - die findet meine Idee auch nicht ganz doof, versteht aber auch meine Bedenken, eben weil die Personalsituation so angespannt ist. Davon ab wissen wir beide nicht, ob so ein Nachtrag zum Anstellungsvertrag einfach so ein halbes Jahr verschiebbar ist - ich würde nicht wieder mit einem neuen Vertrag mit Probezeit usw. anfangen wollen.

      Ich weiß es nicht - vielleicht mache ich mir auch zu sehr einen Kopf - ich möchte halt niemanden ärgern da...

      Vielleicht ist das echt eine ganz gute Idee, einen anderen Oberarzt zu fragen. Wobei ich befürchte... - dass das dann doch ein paar Stunden später dem Chef zu Ohren kommt; der Flurfunk klappt ausgezeichnet bei uns...

      Ich habe mir auch schon gedacht - vielleicht funktioniert irgendein Teilzeitmodell oder so... - wobei ich da auch echt Gas geben müsste und halt auch zwischendurch immer wieder in die Studienstadt. Aber klar, Du hast schon Recht, ich sollte auch offen für deren Vorschläge sein...

      Heute Abend kam der Chef nochmal zu mir und wollte etwas wegen eines Patienten. Ich habe kurz überlegt, ob ich ihn anspreche... - und hab mich dann nicht getraut. Manchmal verfluche ich meine Hasenfüßigkeit...

      Liebe Grüße
      Mondkind

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