Bewegung

 „Gibt es noch etwas Mondkind?“, fragt der Oberarzt.
„Nein…“
„Dann gehe ich jetzt nach Hause. Und geh Du auch bald. Die Briefe kannst Du auch nächste Woche schreiben…“

Erste Woche Kurzliegerstation geschafft.
In der Nacht wird mir einfallen, dass ich in einem Brief eine Empfehlung vergessen habe, aber den bekomme ich mit dem endgültigen Befund sowieso noch mal auf meinen Schreibtisch; dann muss es in die Ergänzung. Einer anderen Patientin habe ich vergessen einen Befund mitzugeben, den ich ihr versprochen hatte… - vielleicht ruft sie mich nochmal an.

Es war nicht meine glorreichste Woche und meine Kollegin auf der Station hat etwas mehr gearbeitet als ich. Sie ist immerhin schon Fachärztin, aber ich habe mit all den organisatorischen Angelegenheiten und der damit verbundenen emotionalen Instabilität nicht mehr geschafft.
Gestern Abend lag ich dann komplett erledigt und mit Schüttelfrost in meinem Bett. 

***

 

Schnipsel.
Donnerstagnachmittag.
Irgendwann zwischen 14 Uhr und 14:25 Uhr. Die Uhrzeit zu der die Frau des Psychosomatikers, die Therapeutin in meiner Stadt ist, erreichbar ist. Gerade habe ich noch eine Ultraschall – Untersuchung fertig gemacht, weil der Oberarzt natürlich kurz vor 14 Uhr auf die Idee kam. Ich bin gestresst. Es ist ein paar Minuten besetzt, dann habe ich sie in der Leitung. Frage nach einem Termin für ein Erstgespräch. „Also ein Erstgespräch können wir machen, aber ich habe keine Therapieplätze frei – also es geht danach nicht weiter, das kann ich Ihnen sofort sagen.“ Eigentlich habe ich jetzt nicht so viel Lust den Joker aus meinem Ärmel zu kramen. „Also ich habe ja letzte Woche mit Ihrem Mann gesprochen…“, beginne ich. „Ach Sie sind das… - ja okay, das war abgesprochen.“ Die Terminfindung ist schwer. Denn „zwischen 10 und 14 Uhr“ heißt nicht, dass ich mir da irgendetwas aussuchen könnte. Selbst mit meiner Spätdienstwoche in der zweiten Märzwoche passt es nicht, weil sie mir da immer erst Termine ab 13 Uhr anbieten kann. Wir legen den Termin in die erste Märzwoche – eigentlich kann ich da nicht – und vereinbaren, dass ich das mit meinen Oberärzten abspreche. „Klären Sie das. Sie müssen hier schon ein Mal in der Woche vorbei kommen – das nützt aber nichts, wenn das immer so ein Termin – Theater wird“, ermahnt sie mich. Und wenig später. „Ich glaube aber schon, dass ich Ihnen helfen kann…“

Ich weiß nicht, was ich von dem Telefonat halten soll. Sie wirkt schon sehr bestimmt in dem, was sie tut. Ich hoffe einfach sehr, es passt jetzt menschlich. „Na mit ihm bist Du doch gut zurecht gekommen. Und er wird schon nicht mit einem Drachen verheiratet sein“, erklärt die potentielle Bezugsperson am Abend.

Donnerstagabend.
Ich sitze bei der potentiellen Bezugsperson. Erzähle ihm von dem Gespräch und von den Schwierigkeiten bei der Terminfindung. „Mondkind, das ist jetzt alternativlos. Das müssen wir irgendwie hinkriegen. Wir überlegen schon, ob wir Dich wegen der ganzen Überstunden eine zeitlang nur halbtags arbeiten lassen, aber das löst das Problem auch nur ein paar Wochen. Vielleicht müssen wir Deinen Vertrag auch auf eine 90 % - Stelle ändern, wenn es sonst nicht geht. Ich werde mal mit dem Chef reden, ihm sagen, dass Du jetzt doch mal endlich in Therapie bist; ich kann ihm ja auch sagen bei wem Du bist und dann müssen wir dafür eine Lösung finden…“ (Mein Chef kennt den Psychosomatiker auch, die haben auch mal zusammen gearbeitet (ist halt alles Dorf hier…) und halten alle viel von ihm. Wenn er da eine dringende Indikation sieht, wird das weniger in Frage gestellt, als wenn es wer anders tut).

Die potentielle Bezugsperson merkt an, dass er stolz auf mich ist. Ich weiß nicht genau, worauf er stolz sein möchte, ehrlich gesagt. Auf das seit einer Woche laufende Theater? Darauf, dass ich es geschafft habe, einem Psychosomatiker zu sagen, dass ich einfach nicht mehr kann und das nicht durchhalte, wenn ich mich in diesem System – wie jeder andere – hinten anstellen muss? Ich finde nicht, dass ich darauf stolz sein kann.


Ich sitze bei ihm im Büro, die Beine seitlich über den Stuhl gehängt und wir reden nach den organisatorischen Dingen noch kurz. Es geht um dieses Schuldthema und sagt, dass er glaubt, dass ich einfach so gestrickt bin, dass ich gar nicht erst versuche mich da raus zu winden, sondern das einfach so hinnehme, dass ich Schuld sein muss, dass das passiert ist. "Ich glaube, das ist der Gipfel des bisherigen Versagens gewesen...", erkläre ich.
Und dann reden wir über die Monate davor. "Da sind einfach nur Löcher", erkläre ich. "Im März bin ich in die Notaufnahme rotiert und ich weiß, dass Sie da lange Oberarzt waren und nicht nachvollziehen können, wie das jemanden so exorbitant stressen kann, aber für mich war das einen ganzen Arbeitstag lang Hochspannung. Und dann ging das los, dass es dem Freund so schlecht ging, kurz darauf war er in der Psychiatrie. Ich war auf der Arbeit - das war eine Katastrophe in der Notaufnahmezeit - und dann kam ich nach Hause und die Katastrophe ging weiter. Und das über Monate. Ehrlich gesagt... - ich weiß heute nicht mehr, was ich in der Zeit getan habe. Klar kann man WhatsApp - Konversationen nachvollziehen und auch, wann und wie lange wir telefoniert haben, aber ich habe keine Ahnung mehr, was ich in der Zeit wirklich für ihn tun konnte. Und dann weiß ich bis heute nicht, wann genau und wo und unter welchen Umständen er gestorben ist - seine Mutter redet nicht darüber; ich kenne nur Eckpunkte. Und wenn da so viele Löcher sind, kann man unglaublich viel interpretieren..."

Viel Schweigen. Da kann man nicht so viel zu sagen. Aber es dreht sich in meinem Hirn. Den ganzen Tag. 


Na, langsam kennt Ihr die Bank aber... - erst Flut, dann Schnee, dann Frühling... innerhalb von drei Wochen

 

Freitagabend.
Ich habe es endlich mal geschafft, mich bei einer Selbsthilfegruppe für Suizidangehörige einzuklinken. Das klappt wahrscheinlich nur selten, weil die sich alle drei Wochen Freitagabend treffen. Eigentlich recht weit weg von hier und nur wegen der aktuellen Situation online. Und das halt auch mit der Arbeit schwierig wird; in drei Wochen habe ich Spätdienst, da kann ich dann nicht.

Aber es war sehr hilfreich. Mit Leuten zu reden, die dasselbe erlebt haben, dieselben Fragen in ihrem Kopf haben. Und am Ende hat einer der Teilnehmer für mich zusammen gefasst: „
Weißt Du Mondkind – im Moment geht es nur darum Dir als frisch Betroffene zu zeigen, dass man das überleben kann. Wir alle, die hier sitzen, haben dasselbe erlebt und haben es alle überlebt. Das Leben wird nie wieder, wie es war – es  wird immer ein Davor und ein Danach geben. Und wahrscheinlich wirst Du Dich als Mensch auch ändern. Aber man kann irgendwann wieder lachen. Auch wenn Du gerade wahrscheinlich noch das Gefühl hast, dass Du vor den Scherben Deiner Zukunft stehst…“ Das hat mich sehr berührt.
Ein Stück weit ist diese Gruppe natürlich auch ein Zugeständnis zu akzeptieren, dass es passiert ist. Und nicht zu glauben, dass der Freund schon irgendwann wieder auftauchen wird. Ich war lange nicht bereit für so etwas.

Ich hoffe, ich schaffe es noch, das ein oder andere Mal teilzunehmen.

Samstag.
Mir fehlt die Kraft. Und manchmal habe ich Angst. Wie lange kann ich das hier noch? Und was kommt danach? Was ist, wenn ich zu müde werde, um jeden Tag aufzustehen und zu leisten.

Ich gehe eine kurze Runde spazieren. Einmal kurz durch die Saalewiesen.
Es ist warm. Sonne auf der Haut. Der Schal schon fast zu viel.

Ein Hauch von Frühling. Wie kann die Welt aufstehen, wenn doch so viel fehlt? Wie kann es nur Frühling werden? Wie kann der Lauf der Zeit so unbeeindruckt sein von dem, was ist?

Ich stehe im Park. Neben der Bank, auf der wir immer telefoniert haben. Und in dem Moment würde ich gern die Mondkind vom letzten Sommer in den Arm nehmen. Und ihr sagen, dass sie nicht auf all die abwertenden Kommentare hinsichtlich des Freundes, der Beziehung und der Berechtigung der Trauer Acht geben soll.  Es ist okay. Man muss nur Leute finden, die das sehen.

Ihr seht, es bewegt sich aktuell sehr viel. Ich brauche das auch. Ich kann nicht alleine sein mit dem Kopf und alles, was sich darin bewegt. Wobei eine der drängendsten Fragen immer noch ist: Wieso habe ich das überlebt und er nicht? Aber bis man – auch mit einer neuen Therapeutin - so weit ist, diese Frage zu stellen, wird noch viel Zeit vergehen. 

Dort hat sich noch vor wenigen Tagen das Wasser den Weg gesucht... bis zur Grasnarbe stand es.

 

"Guess when you build up to break down
You find out who you really are"

So singt es Delta Goodrem. Und manchmal denke ich, es ist genau das. Bevor ich falle, stehe ich noch ein Mal auf. Ein letztes Mal. Mache Dinge, die mir sonst nicht einfallen würden. Und gerade scheint es, dass das ein Mal gesehen wird. 

Morgen habe ich Dienst. Drückt mir die Daumen, dass es ruhig bleibt. Hochleistung schaffe ich nicht morgen... 

Mondkind

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