Fünfter "erster Dienst" und Gold - Momente

Es scheint, als müsste jeder Dienst bei mir mit einem großen Knall los gehen.
Damit wir dann auch alle wirklich wach sind. Konzentration in der Notaufnahme. Und nirgendwo anders.
Mein erster Patient war lange einer meiner persönlichen Alpträume. Bekannte Epilepsie, zum Zeitpunkt der Vorstellung in unserer Notaufnahme mutmaßlich seit Stunden im Status. Erste Aufgabe ist es, den Status zu unterbrechen, danach ist er aber so sediert, dass er bei immer noch persistierendem Erbrechen intubiert werden muss. Dann braucht er noch ein EEG, das wir am Wochenende selbst schreiben müssen um sicher zu gehen, dass er wirklich raus aus dem Status ist und dann geht es auf die Intensivstation.
Vielleicht ist es doch gut für die persönliche Sicherheit, irgendwann auf die Intensivstation zu rotieren. Selbst intubieren zu können, ohne die Anästhesisten rufen zu müssen, wäre schon fein.

Den ganzen restlichen Tag über kommt keine Ruhe mehr in die Notaufnahme – bis in die späten Abendstunden nicht. Ich mache die erste Stentkontrolle bei einem Patienten, der vor knapp zwei Monaten den Stent bekommen hat, nun mit einer statt gehabten Schwindelepisode am gestrigen Nachmittag vor mir steht und Sorge hat, dass der Stent zu geht. Mein Oberarzt hat auch so viel zu tun, dass er am Ende nur einen Blick auf meine Ultraschallbilder werfen kann und daraus schließt, dass ich meine Sache gut gemacht habe und wir den Patienten beruhigt nach Hause schicken können.

Einen Patienten gebe ich den Kardiologen. Eigentlich kam er mit Rückenschmerzen, nachdem er am Vorabend im Badezimmer gestürzt sei. Im Lauf der Anamnese stellt sich aber heraus, dass er zuvor Luftnot, Schwindel und Druck auf der Brust hatte, seine Frau habe ihn käsebleich und mit blauen Lippen im Badezimmer vorgefunden. Die Kardiologen machen ein Echo und eröffnen dem Patienten mit ernster Miene, dass sie gerne einen Herzkatheter schieben wollen. Ich mache noch ein Röntgen, um eine Fraktur im Rahmen des Sturzes auszuschließen, dann räume ich bei dem Patienten das Feld.

Ein anderer Fall ist ein Patient aus dem Ausland. Er spricht kein Deutsch, aber sein Kollege konnte dem Rettungsdienst, der den Patienten auf einem Parkplatz aufgegriffen hat verständlich machen, dass unser Patient sich seit zwei Tagen sehr müde fühle, gangunsicher sei und zwischendurch undeutlich spreche. Hier reicht ein Labor aus, um festzustellen, dass nicht das Gehirn, sondern ein akutes Nierenversagen Schuld an seinem Zustand ist. Der Patient ist bei den Internisten besser aufgehoben.

Ein bisschen neurologisch bleibt es aber schon auch. Ich fülle die letzten beiden Betten der Stroke Unit auf, was dem Oberarzt so viel Kopfzerbrechen bereitet, dass ich seinen grauen Zellen fast beim Arbeiten zusehen kann, die periphere Station ist am Ende des Abends überbelegt.
Der letzte Fall ist eine junge Patientin, die vor ein paar Tagen auf dem Eis gestürzt ist und sich von den Sturzfolgen nicht so richtig erholt – da wollte sie doch mal nachschauen lassen, ob es mehr als nur eine Beule auf dem Kopf ist.

Der Radiologe hasst mich am späten Abend, als ich noch im Dienstbuch die Fälle eintragen muss und es mir schwer fällt, zu jedem Namen noch ein Gesicht zu haben. Bis ich alles dokumentiert habe, ist es ein Uhr nachts. Zeit, nach Hause zu gehen. Als ich mein Fahrrad erreiche, stelle ich fest, dass sich irgendwer einen Spaß daraus gemacht hat, meine Fahrradlampenhaltung zu entwenden. Na super. Das hatte gerade noch gefehlt. 

Wenn einem nachts um eins einfällt, dass man noch ein Blog - Foto braucht... 😅
 

 

***
Zu den Gold- und Nachdenkmomenten zwischendurch.

Zwischen dem Anschauen zweier Patienten nimmt mich mein Oberarzt kurz zur Seite und geleitet mich in den Pausenraum. Es geht um das weitere Procedere hinsichtlich der Organisation der Therapie. Ich muss diese Woche mit dem Chef und dem dienstplanverantwortlichen Oberarzt sprechen, wie wir das einrichten können, dass ich während regulärer Arbeitszeiten zur Therapie gehen kann.
Mir ist das einfach so unangenehm. „Ich habe Angst vor diesem Psychostempel“, erkläre ich. Der Herr Oberarzt meint, dass Psychostempel nicht gleich Psychostempel ist. Dass es die Menschen gibt, die sich drauf ausruhen und diejenigen, die trotzdem alles tun, was sie irgendwie machen können und jeder würde sehen, dass ich zu letzterer Sorte gehöre und dann würde man auch Verständnis haben, erklärt er.

Und dann hat er - manchmal überrascht er mich wirklich - etwas sehr Interessantes gesagt: „Ich glaube Du bist jetzt erst bereit, im professionellen Rahmen über den Freund zu sprechen. Denn das zu tun ist ein ganz großer Schritt Dir selbst einzugestehen, dass er gestorben ist. Mir wird das langsam klar, warum Du wochenlang einfach weiter gemacht hast, bevor Du das klare Statement seiner Mutter hattest, warum Du hinterher wieder auf die alte Station wolltest. Du konntest keine Veränderung akzeptieren, die im Zusammenhang mit seinem Tod steht. Denn dann wäre es offiziell gewesen, dass er tot ist."
Wahrscheinlich ist es das, was mich gerade so raus haut. Es ging mir schon tendenziell sehr schlecht, als ich mich überhaupt dazu durchgerungen hatte, nochmal die Therapiesache in Angriff zu nehmen, aber mir war nicht bewusst, dass es so ein Zugeständnis an die Situation ist und mich dementsprechend noch mehr beansprucht.
Aber es fühlt sich gut an, gesehen zu werden. (Und manchmal würde ich ihn schon sehr gern fragen, ob er mich mal wieder in den Arm nehmen kann...)

Spät in der Nacht (oder schon früh am nächsten Morgen), als ich vor Magenschmerzen nach dem Dienst nicht schlafen kann, stolpere ich über ein altes Westlife – Konzert. 2012. Dublin, Croke Park Stadium. Das letzte Wochenende, an dem die Band existierte, bevor sie sich für die nächsten Jahre aufgelöst hat.
Sie spielen „Home“. Live. Ein Lied, das seit Jahren meine Hymne ist. Meine Schwester und ich zwischen Tausenden von Menschen, das Herz umarmt von der Musik, das im Takt vom Bass schlägt. „Home“. Es drückt so viel von der damaligen Situation, von dem Lebensgefühl aus, das ich seit frühester Kindheit in mir trage. Die Suche nach einem emotionalen zu Hause. So viel von der unerschütterlichen Zuversicht, die ich in mir getragen habe.
Meine Psychiater haben mich so oft gefragt, wofür ich mich so anstrenge, wenn das Leben doch für mich keinen Sinn macht. Die Antwort war einfach. „Hoffnung.“ Irgendwann würde es für jeden einen Ort geben, an dem er ankommt, an dem er sein zu Hause findet. Manchmal muss man warten, viel daran arbeiten und viel Geduld haben und wenn es dann soweit ist, dann möchte ich doch ein Studium, einen Job, eine kleine Wohnung als Grundlage haben.
Es war viel Vertrauensvorschuss in diese Welt. Es würde okay werden, ganz sicher. In den guten Momenten habe ich das geglaubt und die haben gereicht, um die Schlechten immer wieder zu überleben. Und mit dem Freund war ich auf dem Weg. Ja, es war streckenweise schwierig mit uns, aber wir hatten beide unsere Päckchen. Und dann, auf der Zielgeraden war es, als hätte das Leben an meiner Tür geklingelt, mir direkt ins Gesicht geschlagen und mich aus meiner eigenen Umlaufbahn befördert.
Als ich heute Morgen die Songs gehört habe, die schon so lange Teil meines Lebens sind, ist mir aufgefallen: Das Grundvertrauen in die Welt, in die Menschen um mich herum, darin, dass es am Ende für jeden irgendwann okay wird, existiert tatsächlich nicht mehr. Vielleicht kann man das alles überleben – das tue ich jeden Tag – aber gibt es für mich nochmal ein Licht?

 Morgen bin ich beim Seelsorger, Mittwoch beim sozialpsychiatrischen Dienst und im Moment bin ich so sehr dankbar für all die Menschen, die hier gerade versuchen irgendetwas zu retten. Und am allermeisten meinem Oberarzt, der mich gestern Abend mit einem Handschlag und einem „ich bin sehr stolz auf Dich Mondkind“ entlassen hat.

 

Mondkind

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