Briefchen - Von Fragen und Vermissen

Es tut überall weh, überall dort wo du jetzt fehlst
Du fehlst mir, du fehlst hier
Ich kann dich immer noch sehen immer noch hören wohin ich auch geh
Du fehlst mir, du fehlst hier

(Christina Stürmer – Du fehlst mir) 

 

Hey,
wie geht es Dir? Wird es Frühling auf der anderen Seite des Regenbogens?

Bei uns ist es jedenfalls warm. So warm, dass ich heute ohne Jacke im Park sitzen konnte. An den Bäumen sieht man schon die Knospen, wenn man genau hinschaut. Bald werden die Bäume grün. Die Tage sind schon merklich länger. Es wird sicher nicht mehr lange dauern, bis ich – abhängig von der Tageszeit – im Hellen nach Hause gehen kann.

Eine Bekannte war so lieb, und hat mir einen Blumenstauß mitgebracht. Lila Tulpen. Sie kennt mich schon. Weiß, das lila meine Lieblingsfarbe ist.
Sie versucht mir hier in der Wohnung ein kleines Wohlfühl – zu – Hause zu machen, wenn es schon ein emotionales zu Hause nicht mehr gibt. („Home“ von Westlife läuft hier seit Tagen hoch und runter. Croke Park Stadion 2012. Ich war dort damals. Ganz viel Vermissen meines 19 – jährigen Ichs, dem es auch nicht gut ging, aber das nicht wusste, was da alles noch kommt).


Ich muss ein paar Sachen sagen. Einfach so.
Weißt Du, ich bin sicher, vor einem Jahr um die Zeit hätten wir uns zum Telefonieren verabredet. Ich wäre mit Dir am Ohr zwei Stündchen durch den Park gelaufen, hätte mich zwischendurch auf „unsere“ Bank gesetzt, den Enten zugesehen und einfach mit Dir gequatscht.
Und wenn Du jetzt noch leben würdest, dann wären wir sicher zusammen in den Park gegangen und auf dem Rückweg hätten wir vielleicht noch ein Eis gegessen; das Erste des Jahres.

Ich habe so oft Deine Stimme im Ohr.
Letztens schon, als es geschneit hatte. Ich habe mir gedacht, Du hättest sicher wieder über den Winterdienst geschimpft, der nicht hinterher kam, die Straßen zu räumen.
Und heute… - heute hättest Du Sir Sorgen um den Sommer gemacht. Ich habe es genau im Ohr: „Mondkind, wenn es jetzt schon wieder so warm ist – wie soll das erst im Sommer werden? Da werden wieder 40 Grad; das halte ich nicht aus. Mir ist ab 25 Grad zu warm. Ich meine… - wenn man jetzt schon mit leichter Jacke draußen herum laufen kann… - im Februar?!“ Und ich hätte gesagt, wir warten einfach ab, was der Sommer bringt, wir können es ohnehin nicht ändern.
Übrigens habe ich heute zum ersten Mal wieder die Fenster von Wohnzimmer und Wintergarten aufgemacht. Du hörst den Straßenlärm, Hunde, dazwischen den Fluss vor meiner Haustür, der wieder schmal und zahm geworden ist.

Und manchmal, da sehe ich Dich wenn irgendwo in weiter Ferne ein Mensch läuft, der ungefähr Deine Statur hat und mein Gesichtsfeld darüber hinaus durch die Tränen verschwommen ist. Und dann… - bleibt mir jedes Mal fast das Herz stehen.

Es gibt Momente, da meine ich, ich müsste auf der Stelle tot umkippen, weil es so sehr weh tut. Worte können nicht ausdrücken, wie sehr das Herz sich zusammen zieht, wie sehr die Luft in den Lungen fehlt, wie sehr der Kopf einfach glauben möchte, dass das hier alles ein Alptraum ist, weil ein Leben so nicht möglich sein kann.

Ich habe mich letztens einer Selbsthilfegruppe für Angehörige von Suizidopfern angeschlossen. Ich bin da mit Abstand die Jüngste und irgendwie hat es auch ganz gut getan, aber weißt Du, so mitten drin, da hatte ich plötzlich den Gedanken: „Was machst Du hier? Wieso bist Du hier? Da kann doch nicht wirklich sein, dass Du zu so einer Gruppe dazu gehörst. So etwas kann Dir doch nicht passiert sein.“ Und dann kam ich mir plötzlich vor, wie so ein Simulant, dabei ist es real, wie es realer nicht sein könnte.

Ich kann mich gut an den letzten Sommer erinnern. In dem ich mich jeden Morgen in der Psychiatrie gefragt habe, wieso Du die Bäume nicht mehr im Wind siehst und was Du wohl stattdessen siehst. Irgendwann habe ich aufgehört, mich das zu fragen. Aber jetzt… - jetzt frage ich mich, was Du in diesem Frühling sehen wirst. Es ist so unerträglich zu wissen, dass Du nicht mehr erleben kannst, wie es Frühling wird.

Morgen muss ich mit dem Chef reden, ob ich demnächst zur Therapie während der Arbeitszeit darf. Sonderwünsche in einem komplett personell dekompensierten System anzumelden, ist keine gute Idee. Wir hätten sicher darüber diskutiert, wie man das am Besten anstellt. Ich weiß nämlich noch nicht, wie ich das einleiten möchte. Du hättest mir Mut zugesprochen und ermahnt, mich hinterher zu melden
Aber auch das lässt wieder so real werden: Da ist etwas Schreckliches passiert und so langsam kann ich das nicht mehr ignorieren. Ich meine ja, ich habe viel darüber geschrieben, aber dieses Leben ohne Dich nicht so richtig gefühlt. Also glaube ich zumindest. Aber jetzt… - jetzt muss ich den Chef um freie Zeit bitten, weil das passiert ist.

Und heute musste ich mit dem Oberarzt telefonieren, um das Problem zumindest schon mal für nächsten Dienstag zu lösen. Dabei hat er mir gleich eröffnet, dass ich nächste Woche in die Notaufnahme muss. Der Anfang der gefürchteten Notaufnahmekarriere 2.0.
Da wiederholt sich etwas, merkst Du das? Ich kann mich noch erinnern und werde es nie vergessen, wie ich letztes Jahr im Mai völlig erledigt, zitternd und frierend, obwohl es ein warmer Maitag war, mit einer damaligen Freundin am Fluss in der Studienstadt gesessen habe. Nach Wochen und Monaten Stress auf der Arbeit und Sorge um Dich war ich einfach fertig. Ich habe mir geschworen, mich nie wieder so herunter zu wirtschaften, aber wenn man bedenkt, dass schon jetzt nicht mehr fehlt bis zu dem Zustand von damals…
Und es tut mir bis heute – und so wird es immer bleiben – unendlich leid, dass ich in dieser Zeit nicht besser für Dich da sein konnte. Da hattest Du – nach offiziellem Statement - noch rund eine Woche zu leben. Ich habe nicht im Ansatz geahnt, in was wir für eine Katastrophe laufen; ich schwöre Dir, dass ich sonst nicht zurück gefahren wäre. Mir war nicht bewusst, dass ich diese Tage genießen muss, weil es die letzten des „alten Leben“ sind.

Weißt Du, im Moment bin ich wieder auf der Suche nach Medien, die irgendetwas mit Suizid zu tun haben. Gerade höre ich einen Podcast, in dem Menschen, die Suizidopfer – Angehörige sind, ihre Geschichte erzählen. Den kannte ich vorher noch nicht.
Da hat ein Mann erzählt, dass er seine Frau nach 10 Tagen gefunden hat. Er hat beschrieben, wie sie dann ausgesehen hat und weißt Du… - ich frage mich, wie Du ausgesehen haben magst. Warst Du noch irgendetwas, das an eine menschliche Gestalt erinnert hat?

Der See ist immer noch gefroren, auch wenn man es nicht sieht...

Ich habe das Gefühl, Reden bringt nichts mehr. Weil all diese Gefühle so stark sind, dass es dafür keine passenden Worte gibt. Ich kann nicht sagen, wie ich mich fühle. Es fühlt sich jeden Tag an, als würde ich daran sterben, als wäre die Hoffnung irgendwohin zum Mars geflogen oder so, als würden mich die Sonnenstrahlen geradezu unter sich erdrücken, als seien alle Geräusche ein bisschen leiser, oder ich ein bisschen tauber. Als seien alle Farben ein bisschen blasser, als sei da ganz viel Abstand und eine ganz dicke Glaswand zwischen mir und der Welt, als würde ich in meiner und die anderen in ihrer Welt leben und als gäbe es keine Chance mehr zusammen zu finden.
Der Seelsorger ist ein bisschen pikiert, wie das jetzt mit der Therapiegeschichte gelaufen ist; die Sozialarbeiterin vom psychosozialen Dienst versucht sehr bemüht irgendetwas Sinnvolles zu sagen, was ihr sehr wenig gelingt. Ich weiß aber auch nicht, wie die Leute mir helfen sollen. Da liegen große Hoffnungen auf einer professionellen Therapeutin, aber… weißt Du, die müsste schon verdammt gut und fürsorglich sein, um auch nur annähernd an den ehemaligen Herrn Kliniktherapeuten zu kommen. Und ich will nicht voreingenommen sein, aber so klang sie am Telefon einfach nicht. Der Herr Kliniktherapeut hat halt auch wahnsinnig viel privates Engagement in die Sache gesteckt und da warst Du nicht „nur“ blöder Patient – also zumindest nicht bis zum letzten Sommer. Und wenn jemand wie er es nicht geschafft hat mit einer Angehörigen eines Suizidopfers umzugehen, obwohl er ja gesagt hat, dass er auf dem Gebiet der Suizidalität forscht und sich auskennt und ich deshalb große Hoffnungen in ihn gesteckt habe – wie soll das dann wer anders können? Und wenn es selbst die Beziehung zwischen dem Herrn Therapeuten und mir nicht überlebt hat, die wirklich intensiv war und der ich immer noch sehr nachtrauere, wie soll das wer anders mittragen? Er war einer der emotional stärksten Menschen, den ich kannte. Manchmal frage ich mich, ob er mich noch liest. Und vielleicht  - auch wenn er mir das alles nie mehr sagen kann und wird - irgendwann doch begreift, dass das alles nicht nur Show war, sondern der Anfang von einem unfassbaren Drama von dem ich nicht weiß, wann das endet. Und wie es mir dann geht.

Aber… - ich höre Dich schon in meinem Ohren: „Mondkind, lass es erstmal auf Dich zukommen…“ Aber zu allererst muss ich am Dienstag pünktlich aus der Notaufnahme raus. Es zum Kotzen an einem solch wichtigen Tag, an dem die Gedanken ohnehin woanders sind, morgens so etwas Unberechenbares wie die Notaufnahme an den Hacken zu haben. (Und weil ich Donnerstag noch ganz pünktlich weg muss, weil ich zum Bürgerbüro muss, geht der Druck allein wegen der zeitlichen Limitation gleich weiter… kannst Du Dich erinnern – wenn ich in der Notaufnahme war, saß ich da nicht selten bis 22 Uhr…).

Ich höre mal auf zu labern, okay?
Du fehlst hier. So unglaublich, wie Du Dir das sicher nicht vorstellen kannst. Vielleicht wollte ich das sagen. Sorry für das ganze Wort - Chaos. Ich kann gerade nicht strukturiert denken...

Ganz, ganz viel Liebe in Richtung Universum.
Mondkind



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