Suche nach Antworten in der Psychiatrie?

Donnerstagnachmittag.
Nach der Arbeitszeit.
Büro des Oberarztes. Wir hatten ausgemacht, dass ich nach dem Gespräch beim Chef nochmal vorbei komme und berichte, wie es gelaufen ist. Da hinsichtlich der Therapie noch Vieles unklar ist, gibt es noch keine wirklichen Lösungen. Der Chef steht aber auf jeden Fall hinter mir, das ist sicher und freut mich sehr.

„Was wolltest Du mir sonst noch sagen, Mondkind?“, fragt er.
Ich überlege. „Nichts eigentlich. Ich glaube, es ist alles gesagt. Ich stehe jeden Morgen mit einem anderen Thema im Zusammenhang mit dem Freund auf. Ich stelle mir Fragen, die mir kein Mensch beantworten wird können. Aber ich glaube, ich habe alles schon mal berichtet“, erkläre ich.

„Mondkind, die Kollegen reden schon über Dich. Und fragen, wo Du mit Deinem Kopf bist…“, sagt mein Gegenüber. „Ich dachte, das fällt nicht auf…“, sage ich und in dem Moment bin ich wirklich erschrocken. Die Arbeit ist die letzte stehende Säule. Immer. Es ist immer so gewesen. Für Jemanden, der sich so sehr über Leistung definiert, muss erst das komplette Privatleben brach liegen, bis die Arbeit leidet. "Doch Mondkind, es fällt leider auf..."
„Mein Hirn ist einfach ein Sieb“, erkläre ich und fühle mich ertappt. „Ich kann mir nichts merken. Wenn Sie mich fragen, was ich vor zwei Stunden gemacht habe – ich weiß es einfach nicht. Ich versuche alles auf Zettel zu schreiben, ich kontrolliere alles Wichtige bevor ich nach Hause gehe und wenn ich am Ende angekommen bin, könnte ich eigentlich von vorne anfangen. Und ich bin müde. Einfach nur unendlich müde.“
Er spricht von Verantwortung, die wir haben. Und, dass wir hier keine Fließbandarbeit machen. Es ist ein verantwortungsvoller Job und wir müssen uns konzentrieren. „Du musst mit Deinem Freund reden, Mondkind. Wenn Du arbeitest, dann hat er gerade keinen Platz…“ Wenn das so einfach wäre.

Wir stellen nochmal fest, seit wann es abwärts geht. „Seit Mitte Januar im Prinzip“, erkläre ich. „Und was war Mitte Januar?“ Ich ahne es, aber ich sage es ihm nicht. Mehreres. Ein katastrophales Gespräch zwischen uns beiden, dann war er zwei Wochen weg. Nicht gut.
Aber auch… - eine letzte Mail vom ehemaligen Herrn Kliniktherapeuten, die ich nur kurz überflogen und seitdem nie wieder geöffnet habe. Ich habe immer gehofft, wir können die Dinge vom letzten Sommer nochmal klären. Und dabei ging es mir nicht darum, irgendwen anzuklagen, sondern einfach darum, dass wir nochmal drüber sprechen können. Ich habe auch viel falsch gemacht. Der Freund war erst ganz frisch gestorben, ich war sehr unreflektiert. Und viele Wochen später habe ich das Klinikgelände fast wie in einer Flucht verlassen. Für einen Ort, der zwischenzeitlich mal mehr „zu Hause“ war, als jeder andere Ort das je hätte sein können, an dem emotional so viel hing, war das schlecht.
Den ehemaligen Herrn Kliniktherapeuten zu verlieren war eigentlich auch eine Katastrophe, die ich mir nur schwer eingestehen konnte. Es muss doch klar sein, dass die Beziehung vertikal ist und auch, dass das passieren wird. Und dennoch gibt es so viele legendäre Sätze von ihm, die ich ewig in meinem Herzen tragen werde. „Ich lasse Dich nicht allein. Ich gehe den Weg mit Dir. Ich werde Dir helfen, wenn Du mich brauchst.“ Dass ich mich darauf hundert prozentig verlassen kann, hat er letztes Jahr bewiesen. Er hat nach dem Tod des Freundes in den ersten Tagen keine Fragen gestellt. Er war einfach da. Den Schutzengel, den er mir schon vorletztes Jahr geschenkt hat, nehme ich mit in jeden ersten Dienst. Er war etwas Besonderes, dieser Mensch. Und ich vermisse ihn sehr.

Und dann war das nicht nur ein Abschied von dem ehemaligen Herrn Kliniktherapeuten, von der Sicherheit des Klinikgeländes im Rücken, die ich lange hatte, sondern in gewisser Hinsicht auch davon, Antworten in Bezug auf den Freund zu bekommen.
Ich hatte gehofft, dass es mit uns so weiter geht, wie vorher. Dass ich in unregelmäßigen Abständen nochmal in der Klinik vorbei schneie, vielleicht das ein oder andere Update dort lassen kann. Um irgendwann… - irgendwann mal die schwierigen Verbindungen ansprechen zu können.
Der Freund war sehr gut in der Klinik vernetzt. Er war dort mal Patient, war in einigen Arbeitsgruppen, hat ein Praktikum als Ex – in gemacht und hatte dort noch eine wohl recht junge Therapeutin. Er kannte viele Ärzte auf dem Gelände, war mit den beiden Ergotherapeutinnen meiner Station per „Du“, kannte die Pflege der Tagesklinik und den Herrn Therapeuten vom Sehen und von Besprechungen.
Vielleicht war das nicht geschickt, mich in dieser Klinik behandeln zu lassen, aber ich wollte nichts Neues und ich wollte den Kliniktherapeuten behalten – so Jemanden wie ihn sucht man halt normalerweise lang. Und ich hatte immer Sorge, dass die mich nicht weiter behandeln, wenn sie wissen, wer der Freund war. 

Der Himmel sieht anders aus, wenn man dort oben Jemanden hat, den man vermisst

 

Aber jetzt, wo sie mich dort alle nicht mehr mögen, wo die Brücken an die Klinik im Prinzip abgerissen sind, jetzt werde ich nicht mehr dazu kommen noch großartige Fragen zu stellen. Die Frage ist auch: Müssen mehr Leute als nötig da drin hängen? Muss es das Team dort erfahren, ist so etwas doch immer eine Belastung? Muss eine junge Therapeutin mitbekommen, dass sie ihren möglicherweise ersten Patienten verloren hat?
Ich weiß es nicht. Gleichzeitig stehe ich morgens mit denselben Fragen auf, mit denen ich ins Bett gehe. Und ich erhoffe mir von Gesprächen mit Leuten die ihn kannten, zumindest ein paar Infos. Worüber hat er geredet? Wie war er im Kontakt? Hat er je über mich geredet? Und wenn ja, was hat er erzählt? Und auch wenn seine Therapeutin natürlich Schweigepflicht hat, aber vielleicht könnte sie mir zumindest erzählen, ob er die Beziehung zwischen uns als sehr belastend erlebt hat.
Es geht nicht darum die Absolution zu bekommen, Schuld oder nicht Schuld zu sein. Es geht einfach darum ihn und sein Verhalten etwas besser kennen zu lernen. Gefühlt hat uns dieser Suizid nämlich auf völlig verschiedene Standpunkte gestellt, die nicht mehr zusammen finden können.
Und ich möchte es nur eines Tages verstehen können.Ich möchte eigentlich alles wissen, was man irgendwie in Erfahrung bringen kann.

Es treibt mich um, diese Idee. Und die Frage, wie und ob man das trotzdem noch umsetzen könnte. Ich erzähle aber all das meinem Gegenüber nicht. Denn irgendwie… - es wirkt wie der typische Psychofall. Beide sind psychisch krank, irgendwann bringt sich einer um und der andere dreht völlig ab.

„Mondkind“, holt mein Gegenüber mich irgendwann aus meinen Gedankenschleifen, „Du darfst aber eines nicht vergessen: Er ist tot und Du lebst. Du musst Dich auch ein bisschen um Dich kümmern.“

Mondkind

 

P.S.
Nächste Woche wird es spannend. Die ganze Woche Notaufnahme, Dienstag der erste Termin bei der neuen Therapeutin – ich hoffe ich finde alles, sie ist nett und ich komme mit ihr zurecht. Donnerstag muss ich eigentlich pünktlich gehen, weil ich einen Termin im Bürgerbüro wegen des Personalausweises habe. Und diese Klinik und pünktlich gehen, schließt sich vom Prinzip her aus.
Und so manchmal befürchte ich: Eigentlich stehen wir schon längst vor der nächsten Arbeitsunfähigkeit. Und wo das dann diesmal endet… - who knows… 

P.P.S
Und wer eine Meinung hat hinsichtlich meiner Suche nach Antworten in der Psychiatrie und ob das eine gute Idee ist, das nochmal hochzuholen, darf die gern dalassen.

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